Rainer Schlenker: Randspringer – Quixotische Schacheröffnungen

Willkommen im Abenteuerland

von Mario Ziegler

Der “Rand­sprin­ger” ist ein Ge­heim­tipp, zu­min­dest für die “äl­te­re Ge­ne­ra­ti­on” der Schach­lieb­ha­ber. In den 80er und 90er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts ver­öf­fent­lich­te der Tü­bin­ger Zweit­bun­des­li­ga-Spie­ler Rai­ner Schlen­ker mehr als 70 Aus­ga­ben ei­ner Zeit­schrift, die ei­nen so ganz an­de­ren An­satz ver­folg­te als alle an­de­ren Ma­ga­zi­ne: Be­völ­kert von exo­ti­schen, teil­wei­se ab­strus wir­ken­den Er­öff­nun­gen und Va­ri­an­ten mit ma­le­ri­schen Na­men strotz­te der “Rand­sprin­ger” vor Ori­gi­na­li­tät, Krea­ti­vi­tät, auch Pro­vo­ka­ti­on: “Kann man wirk­lich so et­was spie­len?” Nicht zu­fäl­lig trug er da­mals den Un­ter­ti­tel: Das Ma­ga­zin nicht für je­den Schach­freund, und we­nig über­ra­schend er­warb er sich eine treue Leserschaft.

Der Randspringer - Verlag Schachtherapeut - Cover - Reiner Schlenker - Rezension Glarean MagazinNach ei­ner lan­gen Pau­se er­schien nun im Ver­lag Der Schach­the­ra­peut des rhein­land-pfäl­zi­schen Schach-Au­tors und -Her­aus­ge­bers Man­fred Her­bold ein Re­vi­val des “Rand­sprin­gers”. Ist das Kon­zept auch im neu­en Jahr­tau­send noch tragfähig?
Der ers­te Un­ter­schied zur frü­he­ren Pu­bli­ka­ti­on fällt so­fort ins Auge: Das über­sicht­li­che Lay­out des Soft­co­ver-Wer­kes im For­mat A5 hat ab­so­lut nichts mehr mit dem frü­he­ren “Rand­sprin­ger” zu tun, des­sen ein­zel­ne Bei­trä­ge mehr oder we­ni­ger in­ho­mo­gen auf ei­ner Schreib­ma­schi­ne zu­sam­men­ge­tippt wurden.
Der be­kann­te Ka­ri­ka­tu­rist Frank Stie­fel, der be­reits zahl­rei­che Schach­bü­cher mit sei­nen Zeich­nun­gen be­rei­chert hat, lei­tet je­des Ka­pi­tel mit ei­ner Gra­fik ein. So­fern man kein ein­ge­fleisch­ter An­hän­ger des “an­ar­chi­schen” Lay­outs des frü­he­ren “Rand­sprin­gers” ist, wird man die­se op­ti­schen Ver­än­de­run­gen wohl­wol­lend zur Kennt­nis neh­men. Doch wie sieht das In­nen­le­ben aus?

Rainer Schlenker - Randspringer 1987 - Glarean Magazin
Zwei Bei­spiel­spiel­sei­ten aus dem le­gen­dä­ren al­ten “Rand­sprin­ger”: Heft 3 (1987)

Von Eselsohren und Ochsenfröschen

Im Vor­wort be­schreibt Her­aus­ge­ber Her­bold, dass Schlen­ker, mit dem er seit Jah­ren be­freun­det ist, ihm sei­ne Skrip­te und Par­tien zur Ver­öf­fent­li­chung zu­kom­men liess. Die­se be­inhal­ten nun ge­nau sol­che Spiel­an­fän­ge, die man lie­ben muss, wenn man am “Rand­sprin­ger” Ge­fal­len fin­den will: “So wie frü­her Stab­sau­ger­ver­tre­ter gut­gläu­bi­gen Haus­frau­en min­der­wer­ti­ge Saug­ge­rä­te im Tausch (na­tür­lich mit ge­hö­ri­gem Auf­preis) ge­gen ihre ei­gent­lich ein­wand­frei­en ‚Alt­ge­rä­te‘ an­dreh­ten, so bie­tet Schlen­ker al­ler­lei ge­mei­ne Tricks für den Na­tur­spie­ler, dem es nicht ums Schach geht, son­dern dar­um, den Geg­ner – ger­ne auch mit un­er­laub­ten Grif­fen – von der Mat­te bzw. hier vom Brett zu wer­fen. Im Nu wer­den näm­lich mit den an­ge­ge­be­nen Va­ri­an­ten den Schach­äs­the­ten die har­mo­ni­schen Stel­lun­gen in un­über­sicht­li­che Fi­gu­ren­klum­pen ver­wan­delt.” (An­dré Schulz in ei­ner Re­zen­si­on des Wer­kes “Bas­tard-In­disch” von Schlen­ker im März 2009).

Die Schacheröffnung Eselsohr-Verteidigung - Glarean Magazin
Qui­xo­ti­sche Schacher­öff­nung à la Schlen­ker: Die “Esels­ohr-Ver­tei­di­gung” (1.e4 h6)

Wir fin­den auch anno 2019 Spe­zi­al­va­ri­an­ten im Kö­nigs­gam­bit, Skan­di­na­visch oder Caro-Kann oder gleich Frei­stil-Er­öff­nun­gen wie die “USA-Er­öff­nung” (1.e4 e5 2.Dh5 mit der Ab­sicht, nach 3.Lc4 das be­rühm­te Schä­fer­matt fol­gen zu las­sen), die “Un­ser­deut­sche Ver­tei­di­gung” (1.e4 g5 2.d4 d5) oder die über­schrift­ge­ben­den “Esels­ohr-Ver­tei­di­gung” (1.e4 h6) und “Och­sen­frosch-Gam­bit” (1.Sc3 b5 – wie uns der Au­tor auf S. 98 be­lehrt, han­delt es sich hier­bei streng­ge­nom­men um das “West-In­di­sche Och­sen­frosch­gam­bit” im Ge­gen­satz zu 1.Sf3 g5). Die Rei­hen­fol­ge der Ka­pi­tel bzw. Va­ri­an­ten im Buch folgt üb­ri­gens kei­ner er­sicht­li­chen Logik.

Amüsante Wege abseits der Theorie

Üb­li­cher­wei­se be­ginnt Schlen­ker ei­nen Ab­schnitt mit ei­nem kur­zen ein­lei­ten­den Text, ge­folgt von ei­ni­gen Bei­spiel­par­tien, oft von ihm selbst ge­gen lo­ka­le Ba­den-Würt­tem­ber­gi­sche Schach­spie­ler. Dass es sich so­zu­sa­gen aus­nahms­los um freie Par­tien in Ca­fés in Tü­bin­gen, Schwen­nin­gen, Do­nau­eschin­gen han­delt, er­höht nicht un­be­dingt das theo­re­ti­sche Ge­wicht die­ser Par­tien. Aber geht es in die­sem Buch wirk­lich um das “theo­re­ti­sches Ge­wicht” oder um “ob­jek­ti­ven Wert” von Va­ri­an­ten? Na­tür­lich nicht! Schlen­ker zeigt dem stau­nen­den Le­ser zahl­lo­se Wege ab­seits der “of­fi­zi­el­len Theo­rie”. Und in Zei­ten, in de­nen ein Na­ka­mu­ra so­gar in ei­ner Tur­nier­par­tie ge­gen ei­nen re­nom­mier­ten Gross­meis­ter wie Sas­ik­iran (Malmö/Kopenhagen 2005) und ein Carlsen bei ei­ner Schnell­schach-Welt­meis­ter­schaft (ge­gen Vokhi­dov, St. Pe­ters­burg 2018) mit 1.e4 e5 2.Dh5 er­öff­nen kön­nen, ver­wi­schen sich die Gren­zen zwi­schen den Wel­ten im­mer mehr.

Mittelgegengambit unter der Lupe

Die Kern­fra­ge ei­nes Bu­ches über Er­öff­nungs­va­ri­an­ten ist aber na­tür­lich den­noch, wie stich­hal­tig die Ana­ly­sen sind. Zu die­sem Punkt führt Stie­fel aus: “Schlen­ker hat sei­ne Ana­ly­sen ohne Com­pu­ter­hil­fe an­ge­fer­tigt, doch nur we­ni­ge sei­ner Ideen wa­ren schwer oder nicht halt­bar. Na­tür­lich wur­den sei­ne Ma­nu­skrip­te noch­mals auf Com­pu­ter­ba­sis über­prüft, die grund­le­gen­den Ideen sind je­doch al­le­samt er­hal­ten ge­blie­ben”. Das klingt viel­ver­spre­chend: Soll­ten die exo­ti­schen Va­ri­an­ten, mit de­nen man vor 30 Jah­ren rat­lo­se Kon­tra­hen­ten über­ra­schen konn­te, auch im 21. Jahr­hun­dert ge­gen com­pu­ter­be­wehr­te Geg­ner­schaft trag­fä­hig sein?

Mittelgegengambit oder Elefantengambit oder Paulsengambit - Glarean Magazin
1.e4 e5 2.Sf3 d5 – Mit­tel­ge­gen­gam­bit oder Ele­fan­ten­gam­bit oder Paulsengambit?

Ich habe mir ex­em­pla­risch das 14. Ka­pi­tel vor­ge­nom­men, da ich die dort be­spro­che­ne Va­ri­an­te 1.e4 e5 2.Sf3 d5 vor lan­gen Jah­ren selbst spiel­te. Schlen­ker führt aus, dass die ver­brei­te­te Be­zeich­nung “Ele­fan­ten­gam­bit” miss­ver­ständ­lich ist, da sie auch für 1.e4 f5 be­nutzt wird. Er be­vor­zugt die Be­zeich­nung “Mit­tel­ge­gen­gam­bit” in An­leh­nung an die Zug­fol­ge 1.e4 e5 2.d4 exd4 3.Dxd4 Sc6 4.De3, das “Mit­tel­gam­bit”. Nur am Ran­de sei er­wähnt, dass ich per­sön­lich auch die­se Be­zeich­nung für un­glück­lich hal­te, da Gam­bits nun ein­mal Bau­ern­op­fer be­inhal­ten, und in der ge­nann­ten Zug­fol­ge weiss kei­nen Bau­ern op­fert. (In mei­ner Mo­no­gra­phie zu die­ser Stel­lung aus dem Jah­re 2010 ver­such­te ich die Be­zeich­nung “Paul­sen-Er­öff­nung” (nach dem deut­schen Meis­ter­spie­ler Wil­fried Paul­sen, der sie oft be­nutz­te) zu etablieren.

Beispielpartie à la Schlenker

Ka­pi­tel 14 bie­tet vier Par­tien zu der Va­ri­an­te: drei da­von wur­den von Schlen­ker ge­spielt, eine ist eine Si­mul­tan­par­tie des da­ma­li­gen Welt­meis­ters Ema­nu­el Las­ker aus dem Jah­re 1900. In al­len Par­tien spiel­te Schwarz nach 1.e4 e5 2.Sf3 d5 3.exd5 den so­for­ti­gen Vor­stoss 3… e4. Schlen­ker in­for­miert den Le­ser dar­über, dass 3…Ld6 heu­te “mo­dern” ist, da nach 3… e4 4.De2 als stärks­te Ant­wort gel­te. Et­was un­lo­gisch er­scheint es, dass aus­ge­rech­net die­ser Da­men­zug in kei­ner der Bei­spiel­par­tien auf­taucht, statt des­sen aber 4.Sd4 und 4.Sg1. Eben­falls nicht be­rück­sich­tigt wird 4.Se5, was laut On­line-Da­ten­bank von Ch­ess­Ba­se nach 4.De2 und 4.Sd4 und noch vor dem et­was son­der­bar aus­se­hen­den 4.Sg1 der dritt­häu­figs­te Zug an die­ser Stel­le ist.

Der Kommentar zum Kommentar

Hier nun eine der Par­tien mit 4.Sd4 mit den Ori­gi­nal­an­mer­kun­gen Schlen­kers (durch An­füh­rungs­zei­chen kennt­lich ge­macht) und mei­nen Er­gän­zun­gen, für die ich selbst­ver­ständ­lich die Hil­fe ei­ner En­gi­ne (kon­kret: mit Hou­di­ni, der ak­tu­el­len Num­mer Drei der Schach­pro­gram­me hin­ter Lee­la und Stock­fi­sh) in An­spruch ge­nom­men habe:
(Maus­klicks in die Par­tie­zü­ge bzw. -va­ri­an­ten öff­nen Ana­ly­se­bret­ter und den Down­load als PGN-Datei)

Of­fen­kun­dig sind die An­mer­kun­gen Schlen­kers im gros­sen und Gan­zen zu­tref­fend, könn­ten aber im De­tail we­sent­lich ge­nau­er ausfallen.

Mutiges Freistilschach oder halbgares Gezocke?

Amüsantes Schach-Feuilleton und Motivation zum Eröffnungsexperiment: Beispielseite aus dem neuen Revival 2019 des legendären "Randspringer" (mit Karikaturen von Frank Steifel)
Amü­san­tes Schach-Feuil­le­ton und Mo­ti­va­ti­on zum Er­öff­nungs­expe­ri­ment: Bei­spiel­sei­te aus dem neu­en Re­vi­val 2019 des le­gen­dä­ren “Rand­sprin­ger” von Rai­ner Schlen­ker (mit hu­mor­vol­len Ka­ri­ka­tu­ren von Frank “Fränk” Stiefel)

Am “Rand­sprin­ger” wer­den sich auch 2019 die Geis­ter schei­den: Krea­ti­ves Frei­stil­schach mit Mut zum Ri­si­ko oder halb­ga­res Ge­zo­cke? Das muss wohl je­der für sich selbst ent­schei­den. Klar ist, was das Buch nicht ist: Es ist kei­ne theo­re­ti­sche Ab­hand­lung, dazu wei­sen die ein­zel­nen Ka­pi­tel viel zu vie­le Lü­cken selbst an wich­ti­gen Stel­len auf. Aber das will der “Rand­sprin­ger” auch gar nicht sein.

Wie in sei­nen bes­ten Zei­ten bie­tet er “eine Fül­le von ori­gi­nel­len Ideen für das Er­öff­nungs­spiel, be­son­ders für die Par­tien in der ei­ge­nen Schach­kar­rie­re, in de­nen nicht ein Re­mis zum Tur­nier­sieg reicht” (so A. Schulz in der be­reits zi­tier­ten Re­zen­si­on aus dem Jahr 2009). Er stellt so­mit eine Quel­le der In­spi­ra­ti­on dar und zeigt nach­drück­lich, was im Schach al­les mög­lich ist, wenn man be­reit ist, aus­ge­tre­te­ne Pfa­de zu verlassen.
Wie ein Mot­to klingt der Song­text der Band PUR, den Her­bold in sei­nem Vor­wort zitiert:
“Komm mit mir ins Aben­teu­er­land / Auf dei­ne ei­ge­ne Rei­se / Komm mit mir ins Aben­teu­er­land / Der Ein­tritt kos­tet den Ver­stand / Komm mit mir ins Aben­teu­er­land / Und tu’s auf dei­ne Wei­se / Dei­ne Phan­ta­sie schenkt dir ein Land / Das Abenteuerland” ♦

Rai­ner Schlen­ker: Rand­sprin­ger – Qui­xo­ti­sche Schacher­öff­nun­gen (Teil 1), 148 Sei­ten, Ver­lag Der Schach­the­ra­peut, ISBN 978-3947648153

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schach-Feuil­le­ton & Schach­the­ra­peut auch über Man­fred Her­bold: Der Schach­the­ra­peut 2 (Rel­oa­ded)

… so­wie zum The­ma Schacher­öff­nun­gen über Ivan So­ko­lov: Ge­win­nen in d4-Bauernstrukturen

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