Dominik Riedo: Nur das Leben war dann anders

Von der Suche nach dem Sinn des Leidens

von Karin Afshar

Do­mi­nik Rie­do hat ein Buch ge­schrie­ben.  Schrift­stel­ler tun bis­wei­len und mit Vor­lie­be eben­sol­ches – sie schrei­ben über fik­ti­ve Fi­gu­ren, die sich Ge­dan­ken ma­chen, die et­was er­le­ben, et­was zu ver­ar­bei­ten, die et­was ver­bro­chen und gut zu ma­chen ha­ben. Schrift­stel­ler schrei­ben auch Bio­gra­phien und Au­to­bio­gra­fien, und manch­mal bre­chen sie mit ih­ren Ge­schich­ten ein Schwei­gen und ein Tabu. In sei­nem Buch „Nur das Le­ben war dann an­ders“ schreibt Do­mi­nik Rie­do über sei­nen Va­ter und des­sen Ge­heim­nis, des­sen An­ders-Sein. Er schreibt dar­über, was es mit ei­nem Sohn macht, wenn er auf den Spu­ren ei­nes Ver­zwei­fel­ten wan­delt, um zu ver­ste­hen, was da ge­sche­hen ist.

Dominik Riedo - Nur das Leben war dann anders - Nekrolog auf meinen pädophilen Vater - Offizin Verlag - CoverGe­mein­schaf­ten – schutz­bie­ten­de, denn dazu sind es Ge­mein­schaf­ten – dul­den und si­chern ein ge­wis­ses Mass an An­ders­sein in ih­rer Mit­te. Wird je­doch die­ses Mass nur um ei­nen win­zi­gen Schritt über­schrit­ten, kippt die Dul­dung, und der Ein­zel­ne, der für die­sen Über­tritt als zu­stän­dig aus­ge­schaut wird, wird als Ge­fahr be­zeich­net. Es gilt ihn aus­zu­schal­ten. Die­ser Ein­zel­ne – eben noch er­mu­tigt, sei­ne Be­son­der­heit, sein An­ders­sein zu le­ben – fin­det sich aus­ge­schlos­sen wie­der.  Und ver­steht die Welt nicht mehr. Ge­mein­schaft ist Ge­mein­schaft eben auch da­durch, dass sie ge­schlos­sen ist und mit­hin sta­tisch. Of­fe­ne Ge­mein­schaf­ten sind da­ge­gen in­sta­bil, sie müs­sen im­mer wie­der für die­se Of­fen­heit und ge­gen ihre Fein­de kämp­fen. Das ist un­be­quem. Frei­heit ist un­be­quem. Im Klei­nen ist das nicht an­ders als im Gros­sen: Karl Pop­per wäre in die­sem Jahr 114 Jah­re alt ge­wor­den – und hat ver­stan­den, war­um Men­schen bis zur Un­mensch­lich­keit ge­gen die of­fe­ne Ge­sell­schaft kämpfen.

Transgenerationelle Übertragungen in der Literatur

Fa­mi­li­en sind die Ele­men­tar­zel­le un­se­rer Ge­mein­schaft – in ih­nen gel­ten Ge­set­ze und Re­geln, jede Fa­mi­lie hat ihre ge­schrie­be­nen und un­ge­schrie­be­nen Glau­bens­sät­ze und Hal­tun­gen, die sie von an­de­ren Fa­mi­li­en un­ter­schei­det.  Und in nicht we­ni­gen Fa­mi­li­en scheint es et­was wie ei­nen Fluch zu ge­ben. Über Fa­mi­li­en und ihre Ge­schich­ten gibt es reich­lich Li­te­ra­tur. Trans­ge­ne­ra­tio­nel­le Über­tra­gun­gen, lese ich, spie­len in der Li­te­ra­tur tra­di­tio­nell eine ganz gros­se Rol­le. Man könn­te so­gar sa­gen, dass die Li­te­ra­tur fast auf die­ses Phä­no­men spe­zia­li­siert ist. Seit der An­ti­ke wer­den Ge­schlecht­er­fol­gen, Ge­ne­ra­tio­nen, Fa­mi­li­en­flü­che, Wei­ter­ga­be von Schick­sal, von Ver­bre­chen durch die Ge­ne­ra­tio­nen hin­durch in der Li­te­ra­tur the­ma­ti­siert, und das in ganz un­ter­schied­li­cher Form.
Die Ver­schwie­gen­heit ge­hört zu die­sem Kom­plex  – es darf nicht dar­über ge­re­det wer­den, denn es könn­te die gan­ze Fa­mi­lie in Ver­ruf ge­ra­ten. Das, wor­über nicht ge­spro­chen wird, wirkt je­doch im Le­ben die­ser (zu­nächst kind­li­chen) Nach­kömm­lin­ge wei­ter und kann für sei­ne Er­fah­run­gen und sei­ne Wahr­neh­mun­gen be­stim­mend werden.
Hein­rich Böll schrieb 1959 mit „Bil­lard um halb zehn“ ei­nen Ge­ne­ra­tio­nen-um­span­nen­den Ro­man, der die NS-Zeit re­flek­tier­te. Spä­te­re Fa­mi­li­en­ro­ma­ne grif­fen die man­gel­haf­te Kom­mu­ni­ka­ti­on über die Na­zi­herr­schaft und die ei­ge­ne Ver­stri­ckung auf. In vie­len deut­schen Fa­mi­li­en geis­tern noch im­mer Ge­heim­nis­se, über die die heim­keh­ren­den Män­ner nie spra­chen. In­zwi­schen sind die En­kel ins Le­ben ent­las­sen und ha­ben Fra­gen über Fra­gen, weil ir­gend­et­was im­mer nicht zu ge­lin­gen scheint… An die­sem Punkt be­gin­nen vie­le, in der Ver­gan­gen­heit zu su­chen – und ne­ben der Su­che nach dem Ur­sprung wird die Fra­ge nach Um­welt und An­la­ge laut.

Sucht hat mit Suchen zu tun

Die vom Va­ter wie­der und wie­der ge­stell­te Fra­ge („War­um müs­sen Men­schen eine Ver­an­la­gung ha­ben, die nicht ak­zep­tiert wird?“)  nach An­la­ge oder Um­welt bleibt of­fen bzw. führt, wie im Fal­le auch von Do­mi­nik Rie­dos Va­ter dazu, dass er sich über­all nach Ori­en­tie­rung um­schaut: Bei As­tro­lo­gen, in der Eso­te­rik, bei Kar­ten­le­gern, in bud­dhis­ti­schen Weis­hei­ten, bei Mys­ti­kern und noch vie­lem anderen.
Ein Schlüs­sel­er­leb­nis  – und dies im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes – fällt dem Sohn ein, wäh­rend er sich mit Pro­zess­ak­ten, Pres­se­ar­ti­keln und Ta­ge­buch­ein­trä­gen in Frag­men­ten aus­ein­an­der­setzt: Ein Blick durchs Schlüs­sel­loch auf sei­nen Va­ter, der im Schmerz über sich selbst und der Sucht aus­ge­lie­fert, in sei­nem Zim­mer wü­tet und Ge­gen­stän­de zer­stört. Wer es nicht kennt, kann nicht an­nä­hernd nach­emp­fin­den, was da aus ei­nem Men­schen her­aus will, wie es her­aus bricht als kaum noch mensch­li­cher Ton. Ver­stö­rend, ei­nen Men­schen in ei­nem sol­chen Zu­stand zu se­hen – als Sohn noch mehr, denn den Men­schen, der ei­nem doch Schutz bie­ten soll, dem man aus­ge­lie­fert ist, so der­art hilf­los zu se­hen – macht Angst. Sucht hat im­mer (auch wenn es tri­vi­al und weit her ge­holt als Wort­spiel da­her­kommt) mit Su­chen zu tun. Egal wel­che Sucht es ist: ihr nicht zu ent­kom­men, sie nicht in den Griff zu be­kom­men, sie je­den Tag wie­der in sich hoch­stei­gen zu spü­ren – ero­diert und treibt schwä­che­re Men­schen nicht sel­ten in den Wahn­sinn und in den Selbst­mord. Und was ma­chen stär­ke­re Menschen?
Ob es eine An­la­ge ist, bzw. was „es“ ist, wenn es kei­ne Ver­an­la­gung ist, bleibt zu­nächst un­be­ant­wor­tet – ist aber eben das The­ma schlecht­hin in die­sem Buch. Doch wor­um geht es nun ge­nau? Was ist die­ses ES, das den Sohn dazu bringt, ei­nen Ne­kro­log auf sei­nen Va­ter zu schrei­ben? Die Be­zeich­nung, die die Ge­sell­schaft sei­ner Ver­an­la­gung gibt, ist Pädophilie.

Die zentralen Warum-Fragen

In un­se­ren of­fe­nen Ge­sell­schaf­ten, die gleich­ge­schlecht­li­che Lie­be in­zwi­schen le­ga­li­siert (ob in­zwi­schen auch in der Schweiz ent­zieht sich ge­ra­de mei­ner Kennt­nis) und da­mit von den Rän­dern in die Mit­te der Ge­sell­schaft ge­holt ha­ben, gilt die ero­ti­sche Lie­be zu Kin­dern, der Sex mit Jun­gen bis kurz vor der Pu­ber­tät, als Ver­bre­chen. So wur­de denn der Va­ter be­han­delt und an­ge­se­hen: als Ver­bre­cher, der ei­ner Stra­fe zu­ge­führt wer­den muss. Dass die­se dann doch ver­gleichs­wei­se mild aus­fiel, half dem Va­ter we­nig. Nach­dem er in Thai­land ei­nem Part­ner, der ihn nach Strich und Fa­den aus­nahm und ihn um sein Al­ters­geld brach­te, auf­ge­ses­sen war, emp­fand er viel­mehr dies als „sei­ne ge­rech­te Stra­fe“.  – An die­ser und an an­de­ren Stel­len fragt er sich: „…war­um fast al­les, was ich gut ge­meint tue, auf­baue und zu voll­enden ver­su­che, mir meis­tens Un­heil bringt.“ Die War­um-Fra­gen sind die zen­tra­len Fra­gen in die­sem Zusammenhang.
Zu ei­nem Mons­ter macht kei­ner sich selbst – die Ge­sell­schaft macht ihn dazu, in­dem sie mit dem Fin­ger auf ihn zeigt. Dass et­was nicht „in Ord­nung“ ist, hat der Trä­ger des ent­spre­chen­den Stig­mas längst selbst be­merkt. In John Stein­becks „East of Eden“ sind die Ver­wer­fungs­li­ni­en zwi­schen dem Gu­ten und dem Bö­sen, dem nicht nur Bö­sen und dem nicht nur Gu­ten ein­drucks­voll be­schrie­ben. In „Jen­seits von Eden“ wird Ca­thy Ames, Ant­ago­nis­tin zu Adam Trask, als dä­mo­ni­sches Mons­ter be­schrie­ben – als ein „psy­chic mons­ter“ with a „mal­for­med soul“. Phy­sisch eher zier­lich, blond, hübsch, sind ihre Au­gen kalt und ohne Emo­tio­nen. Cha­ris­ma­tisch ist  sie – von klein an hat sie Wir­kung auf Men­schen, die, wenn sie naiv ge­nug sind, sich auf sie ein­las­sen. Dass sie Pro­sti­tu­ier­te wird und schliess­lich die Lei­te­rin ei­nes Eta­blis­se­ments, ist we­nig über­ra­schend. Kate ist der Sa­tan in Person.
Aber sie ist auch eine Pan­do­ra: Wo­hin im­mer sie geht, und was im­mer sie tut – sie tut nicht, was ihr ge­sagt wird, son­dern öff­net die Büch­se, sie setzt das Böse in die Welt, das Un­heil. Nun ist Kate ali­as Ca­thy see­lisch grau­sam ge­gen die, die sich auf sie ein­las­sen – wo­mit ich jetzt ein­tre­te in eine Art Psy­cho­gramm. Sa­rah Agui­ar schreibt in „No Sanc­tua­ry“, Ka­tes Ver­hal­ten sei ei­ner Per­ver­si­on mensch­li­cher Wer­te zu­zu­schrei­ben, sie sei kind­lich-ego­zen­trisch, sehr be­dürf­tig und wol­le sich selbst auf Kos­ten an­de­rer schüt­zen – ja, sie rächt sich für den Man­gel an Lie­be und Auf­merk­sam­keit in ih­rem Le­ben, um nicht zu sa­gen: in ih­rer Kindheit.

Psychogramm eines pädophilen Menschen

Dominik Riedo - Glarean Magazin 2017
Do­mi­nik Riedo

War­um die­se aus­führ­li­che Her­lei­tung? In Do­mi­nik Rie­dos Nach­ruf auf den Va­ter geht es eben auch um das Psy­cho­gramm ei­nes (pä­do­phi­len) Men­schen. Nicht der Sohn stellt es, son­dern er nimmt uns mit in die Gut­ach­ten, die sei­nem Va­ter zu drei ver­schie­de­nen Le­bens­zei­ten ge­stellt wur­den. In den drei „Sex­gut­ach­ten“ im Buch mag der Le­ser nach­le­sen, was in un­ter­schied­li­chen Zeit­epo­chen be­ob­ach­tet und ge­wich­tet wur­de. Zum Bei­spiel: „…der Pä­do­phi­lie liegt eine aus­ge­präg­te neu­ro­ti­sche Fehl­ent­wick­lung mit star­ker Be­ein­träch­ti­gung des Selbst­wert­ge­fühls zu­grun­de…“, „…der Ex­plo­rand bleibt in sei­ner nar­zis­sis­tisch selbst­be­zo­ge­nen Welt ge­fan­gen und ver­mag als Er­wach­se­ner kei­ne rei­fen part­ner­schaft­li­chen Be­zie­hun­gen ein­zu­ge­hen“, „…Er weicht auf Kna­ben aus, de­nen er kör­per­lich wie in­tel­lek­tu­ell über­le­gen ist…“, „…ist nicht in der Lage, ag­gres­si­ve Ge­füh­le zu rei­fer Ver­ar­bei­tung zu führen.“
Wür­de ich ge­fragt, ich wür­de so­fort ant­wor­ten: der­lei „Gut­ach­ten“ sind Be­schrei­bun­gen von et­was, das ja of­fen­sicht­lich ist – wir se­hen es doch be­reits, und die schrift­li­che Fi­xie­rung der­sel­ben ist al­les an­de­re als eine The­ra­pie. Eine The­ra­pie – als Ver­hal­tens­än­de­rung (denn das sind The­ra­pien im­mer) – ist aber nicht mög­lich. Ein hoff­nungs­lo­ser Fall? Zu­min­dest ha­ben wir ei­nen Men­schen vor uns, der schon bei sei­ner Ge­burt ein Ge­zeich­ne­ter ist. – Auch das schil­dert der Sohn: den Weg, den sein Va­ter über das Wai­sen­haus zu den vie­len ver­schie­de­nen In­ter­es­sen und Be­rufs­ent­wür­fen nahm, ein be­gab­ter jun­ger Mann, fleis­sig, be­flis­sen, mit gu­ten Ma­nie­ren und nicht un­an­ge­neh­mem Auf­tre­ten – wo viel Licht ist, ist viel Schat­ten?! Nun ist hier ei­ner mit vie­len Be­ga­bun­gen – aber sie alle wie­gen of­fen­sicht­lich nicht den ei­nen Schat­ten auf, den er zu tra­gen hat. Dar­an konn­te auch Syl­via Tan­ner (Grün­de­rin der Schwei­zer Be­ra­tungs­stel­le für Pä­do­phi­le ITP-Ar­ca­dos mit In­ter­net-Prä­senz, im Ok­to­ber 2010 ver­stor­ben) nicht wirk­lich hel­fen. Von ihr stammt u.a. der Satz: „Der jun­ge Pä­do­phi­le muss ver­ste­hen ler­nen, dass das Kind ihn lie­ben kann – es sich aber in der Re­gel nicht ver­liebt und kein er­wach­se­nen­ähn­li­ches Be­geh­ren zum Tra­gen kommt.“

Sinnsuche als Rückkehr zum Punkt Null

Die Kind­heit ist enorm wich­tig. Jede Sinn­su­che – bei Schwie­rig­kei­ten im ei­ge­nen Le­ben – fängt da­mit an, dass man an den Punkt Null – und wenn es gar sehr ernst wird – so­gar vor den Punkt Null zu­rück­geht. Ich ken­ne das von mir selbst – ich ken­ne es von et­li­chen an­de­ren. Die Phä­no­me­ne sind alle un­ter­schied­lich, die Fra­gen meis­tens die­sel­ben: Wer bin ich? Und: Bin ich das, was mei­ne El­tern sind? Auf dem Weg zu sich selbst liegt die to­ta­le Ver­wei­ge­rung wie eben auch die schritt­wei­se An­nä­he­rung an die El­tern. Wohl dem, der El­tern hat, die da­bei hel­fen, in­dem sie als Zeu­gen von ei­ner von uns als Kind un­be­wusst er­leb­ten Zeit be­rich­ten. Na­tür­lich sucht Do­mi­nik Rie­do als jün­ge­rer wie auch als äl­ter wer­den­der Mann stell­ver­tre­tend für sei­nen Va­ter und in ei­ge­ner Sa­che den Fa­den zum Ur­sprung. Im Ka­pi­tel „Ord­nun­gen und Stö­run­gen“ durch­fors­tet er das Fa­mi­li­en­le­ben auf Hin­wei­se – hat die Su­che sei­nes Va­ters auch auf ihn ei­nen Ein­fluss? Die Mut­ter kommt nicht da­von – ja, auch eine Mut­ter ist im Le­ben ei­nes her­an­wach­sen­den Jun­gen wichtig.
So­bald klar wird – und im Lau­fe des Le­bens und zwangs­läu­fig in der Aus­ein­an­der­set­zung mit ei­ner un­heil­ba­ren Krank­heit, die ei­nen selbst er­wischt, wird es klar -, dass man nicht das Schick­sal ei­nes der bei­den oder so­gar bei­der El­tern­tei­le nach­le­ben muss, son­dern dass das ei­ge­ne Schick­sal dar­in be­steht, sein ei­ge­nes Le­ben zu le­ben. Die ge­schla­ge­nen Wun­den sind nicht von den El­tern ge­schla­gen – und es ist eben auch nicht so, dass wir in der fal­schen Zeit oder in der fal­schen Kul­tur leben.

Unerfülltes Bedürfnis nach Klärung

Be­vor ich das letz­te Ka­pi­tel lese und hier re­flek­tie­re, et­was zum Stil, zum Er­zähl­stil des Bu­ches. Der Le­ser muss sich an ihn ge­wöh­nen (an­de­rer­seits nicht, denn es ist ein ty­pi­scher „Rie­do“), fügt sich doch hier Ebe­ne an Ebe­ne, Schicht an Schicht, kennt­lich ge­macht in Kur­siv- und Nor­mal­schrift. Mal spricht der Va­ter, dann der Sohn, da führt der Sohn Selbst­ge­sprä­che oder rich­tet sich an den Le­ser. Mir geht bei etwa Sei­te 178 ein we­nig die Ge­duld aus – noch ein­mal eine Run­de ge­hen, noch ein­mal eine Be­trach­tung. Mir will schei­nen, das Be­dürf­nis der Klä­rung ist für den Au­tor noch nicht er­füllt, wäh­rend ich mir ein­bil­de, schon ein Bild zu ha­ben – aus je ei­ge­ner Er­fah­rung im Durch­schrei­ten von Un­ter­wel­ten und Höl­len. Ich will die noch­ma­li­ge Tour nicht mit­ge­hen. Man­che Wun­den hei­len nicht, weil sie im­mer wie­der auf­ge­kratzt wer­den. Aber so ist das, wenn man Ant­wor­ten sucht – aus Sucht. Das The­ma ist eben kein ge­schmei­di­ges, das schon mal über­haupt nicht. Wenn man sich ein­lässt, dann führt uns Do­mi­nik Rie­do hier in Ab­grün­de, de­ren es im Men­schen eben vie­le gibt. „Wenn du lan­ge in ei­nen Ab­grund blickst, blickt der Ab­grund auch in dich hin­ein.“ (Fried­rich Nietzsche)

Keine Abrechnung mit dem pädophilen Vater

Und was meint Do­mi­nik Rie­do ab­schlies­send? Wo­für die­ses Buch? Denk er, es könn­te eine Hei­lung ge­ben? Un­ter an­de­rem nennt er die­sen Punkt: „Es könn­te bei ei­ni­gen Fäl­len tat­säch­lich so sein, dass man die Pä­do­phi­lie ‚hei­len‘ kann.“ Und wenn nicht? Soll­te man even­tu­ell die emo­tio­na­le Un­rei­fe und/oder die nar­ziss­tisch be­ding­te, zu selbst­be­zo­ge­ne Per­sön­lich­keits­struk­tur ver­än­dern? Soll­te man das Schutz­al­ter sen­ken, oder das an­er­zo­ge­ne Ob­jekt der Lust än­dern, d.h. eine Ob­jekt­ver­schie­bung vor­neh­men? Kas­tra­ti­on? Soll­te man die Ge­sell­schafts­ord­nung än­dern? – „So oder so müss­te sich die Ge­sell­schaft ein­mal ernst­haft und ganz be­wusst durch den Kopf ge­hen las­sen, dass die Stär­ke ei­nes Ta­bus oft dem un­be­wuss­ten Be­dürf­nis der Ver­bie­ten­den ent­spricht, der da­mit Trieb­re­gun­gen abwehrt.“
Nein, die­ses Buch ist kei­ne Ab­rech­nung mit dem Va­ter, es schil­dert uns ei­nen Men­schen mit Schat­ten­sei­ten. Auch den gu­ten Sei­ten ist Raum ein­ge­räumt – al­ler­dings un­ter dem drü­cken­den Fa­nal der Tra­gik. Das Zie­hen von Bi­lan­zen be­ginnt zu ver­schie­de­nen Zei­ten im Le­ben, nicht erst wenn je­mand ge­stor­ben ist.
Auch ich bin ein Kind von El­tern – bin jetzt in ei­nem Al­ter, in dem ich mich mit ih­ren Ver­feh­lun­gen aus­ein­an­der­set­ze. Ich wie­der­um bin Mut­ter, und ich wer­de Feh­ler ge­macht ha­ben, die mir die Kin­der frü­her oder spä­ter vor­wer­fen wer­den. An bei­dem wer­de ich mil­de: Kei­ner ist ganz schlecht, nie­mand ist 100 % gut. Das lese ich auch aus Rie­dos Zei­len heraus.
Der Sohn fragt sich ge­gen Ende sei­nes Ge­walt­marschs: „Wie wäre ich, wenn mein Va­ter nicht mein Va­ter ge­we­sen wäre? Es folgt der Blick in den Spie­gel – den Kin­der tun – wenn sie sich ab­gren­zen wol­len und doch auch eine durch­gän­gi­ge Li­nie von sich zu ih­ren Vor­vor­de­ren su­chen. Und? „Was bleibt?“
Un­se­re Ge­sell­schaf­ten sind frei, so­lan­ge wir kon­form sind, aber schon bei der kleins­ten „An­ders­ar­tig­keit“ (die in ih­rer gu­ten Aus­füh­rung auf Eso­te­rik­fo­ren und auf Af­fir­ma­ti­ons­kärt­chen der selbst­er­nann­ten aqua­ria­ni­schen Welt­ret­ter als un­be­dingt nö­tig be­schwo­ren wird) umschlägt.
Was bleibt, wenn Fa­mi­li­en ei­nen Schand­fleck auf­wei­sen – ein Na­zi­ver­bre­chen, eine Ver­ge­wal­ti­gung, ei­nen Mord, um nur ei­ni­ge zu nen­nen – und sie schwei­gen müs­sen? Was bleibt, wenn das Ge­heim­nis ge­lüf­tet wird, und man sich als Kind, das man im­mer ist und bleibt, aus­lie­fert? Das Buch von Do­mi­nik Rie­do ist kei­ne Recht­fer­ti­gung der Pä­do­phi­lie – es ist eine mu­ti­ge Kon­fron­ta­ti­on ei­nes Soh­nes mit dem So-Sein sei­nes Va­ters, und wenn man so will: sei­ner Her­kunft. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem, wo man her kommt, ist wich­tig. Nur dann hat man Per­spek­ti­ven für den Weg nach vorne. ♦

Do­mi­nik Rie­do: Nur das Le­ben war dann an­ders – Ne­kro­log über mei­nen pä­do­phi­len Va­ter, Of­fi­zin Ver­lag, 272 Sei­ten, ISBN 978-3-906276-10-6

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