Michael Dombrowsky: Berliner Schach-Legenden

Erinnerungen an versunkene Schach-Zeiten

von Mario Ziegler

Unter dem Titel “Luft­men­schen” ver­öf­fent­lich­ten im Jahre 1998 Michael Ehn und Ernst Stro­uhal “Mate­ria­lien und Topo­gra­phien zu einer städ­ti­schen Rand­fi­gur 1700-1938”, wie es im Unter­ti­tel lau­tet. Die bei­den öster­rei­chi­schen Schach­his­to­ri­ker gin­gen darin dem Schick­sal der Schach­spie­ler aus Wien nach, doch kann man den glei­chen Blick auch in die deut­sche Haupt­stadt schwei­fen las­sen, was das Wort­spiel im Titel recht­fer­tigt. “Ber­li­ner Luft” ist der Titel eines Ope­ret­ten-Lie­des, das der Kom­po­nist Paul Lin­cke bereits 1904 schrieb, das jedoch beson­ders in den “Gol­de­nen Zwan­zi­gern” popu­lär wurde, jenen Jah­ren, in denen Ber­lin eine der Kul­tur­haupt­städte Euro­pas war. Nach dem tie­fen Ein­schnitt des Natio­nal­so­zia­lis­mus und der Kata­stro­phe des Zwei­ten Welt­krie­ges ent­wi­ckel­ten sich beide Hälf­ten der geteil­ten Stadt grund­le­gend ver­schie­den und ver­lo­ren doch nie ganz das Gefühl der Zusam­men­ge­hö­rig­keit. Den her­aus­ra­gen­den Schach­spie­lern die­ser ein­zig­ar­ti­gen Metro­pole ist das Werk des Ham­bur­ger Jour­na­lis­ten Michael Dom­brow­sky gewid­met, das den Gegen­stand der vor­lie­gen­den Bespre­chung darstellt.

Auf alle Quellenbelegung verzichtet

Michael Dombrowsky - Berliner Schach-Legenden - Erinnerungen und Portraits aus der Zeit vor und nach dem Mauerbau - Edition MarcoDer behan­delte Zeit­raum wird durch den Unter­ti­tel “Erin­ne­run­gen und Por­traits aus der Zeit vor und nach dem Mau­er­bau” ein­ge­grenzt. Natür­lich hätte man eine Betrach­tung der Schach­ge­schichte Ber­lins viel wei­ter zurück­rei­chen las­sen kön­nen, doch eine sol­che umfas­sende Dar­stel­lung – die im Übri­gen mei­nes Wis­sens noch nicht exis­tiert und ein aus­ge­spro­che­nes Desi­de­rat dar­stellt – ent­sprach nicht Dom­brow­skys Inten­tion. “Es sind Erin­ne­run­gen eines Schach­schü­lers (Jahr­gang 1946) an die Schach­hel­den sei­ner Jugend”, wie er for­mu­liert. Und auch eine wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chung wurde nicht ange­strebt, wie Dom­brow­sky gleich­falls zu Beginn sei­ner Arbeit deut­lich macht. Ent­spre­chend wurde auf jeg­li­che Form der Quel­len­be­lege und auf eine Biblio­gra­phie even­tu­ell ver­wen­de­ter Lite­ra­tur verzichtet.

“Der Scharf-Rich­ter aus Ber­lin”: Kom­bi­na­ti­ons­künst­ler Kurt Rich­ter (1900-1969)

Hin und wie­der ist das bedau­er­lich, wenn man auf eine beson­ders inter­es­sante Bege­ben­heit stösst und sie gerne im Ori­gi­nal nach­le­sen würde. Zumin­dest wird erwähnt, dass als Inter­view­part­ner Harald Lieb, Klaus Darga und Hans-Joa­chim Hecht zur Ver­fü­gung stan­den und wei­tere Infor­ma­tio­nen sowie Bild­ma­te­rial durch Fami­li­en­an­ge­hö­rige der bespro­che­nen Meis­ter bereit­ge­stellt wur­den. A pro­pos Bild­ma­te­rial: Die­ses gibt es reich­lich in Form his­to­ri­scher Schwarz­weiss- und Farb­auf­nah­men, die meis­ten davon (zumin­dest mir) unbe­kannt. Der Wis­sen­schaft­ler in mir hätte sich übri­gens auch hier ein Abbil­dungs­ver­zeich­nis gewünscht. Doch abge­se­hen von die­sen klei­nen – und viel­leicht sub­jek­ti­ven – Kri­tik­punk­ten ist die Auf­ma­chung des Buches abso­lut tadel­los: Hard­co­ver, sehr über­sicht­li­ches Druck­bild (Text ein-, Par­tien zwei­spal­tig), die Kurz­bi­blio­gra­phien und das Par­tien­ver­zeich­nis erlau­ben eine schnelle Orientierung.

Nachkriegszeit – Mauerbau – Wirtschaftswunder

Legendär als Schach-Autor: Rudolf Teschner (1922-2006)
Legen­där als Schach-Autor: Rudolf Tesch­ner (1922-2006)

Zum Inhalt: Es ist eine ver­sun­kene Welt, die sich den Augen des Lesers ent­hüllt: Nach­kriegs­zeit, Mau­er­bau, Wirt­schafts­wun­der – alles andere als leichte Bedin­gun­gen für die Ber­li­ner Schach­meis­ter, und doch auch “Gol­dene Schach­zei­ten”, in denen das Schach­le­ben im West­teil der Stadt so sehr blühte, dass man einer Ber­li­ner Aus­wahl durch­aus einen Sieg über die deut­sche Natio­nal­mann­schaft zuge­traut hätte. Aus die­ser Zeit wer­den zehn Schach­per­sön­lich­kei­ten vor­ge­stellt. “Die Aus­wahl basiert auf per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen und Nach­for­schun­gen, sport­li­chen Leis­tun­gen und unge­wöhn­li­chen Lebens­läu­fen…”. Auch hier wurde also keine Voll­stän­dig­keit ange­strebt, und natür­lich kann man die getrof­fene Aus­wahl an der einen oder ande­ren Stelle kri­ti­sie­ren. Doch ist es Dom­brow­sky gelun­gen, eine sehr inter­es­sante Mischung zu fin­den. So steht neben den Natio­nal­spie­lern Klaus Darga, Hans-Joa­chim Hecht und Jür­gen Due­ball der Pro­blem­ex­perte und -kom­po­nist Adolf Delan­der, neben den berühm­ten Schach­meis­tern und -autoren Kurt Rich­ter und Rudolf Tesch­ner ein rela­tiv unbe­kann­ter Meis­ter­spie­ler wie Klaus Uwe Müller.

Fiktive Episoden, der Realität entlehnt

Abge­run­det wird das Werk durch Bio­gra­phien von Heinz Leh­mann, Harald Lieb und Wolf­ram Bia­las, und vor die Lebens­be­schrei­bun­gen die­ser zehn Prot­ago­nis­ten ist ein Kapi­tel gestellt, das einen Über­blick über das rest­li­che Ber­li­ner Schach­le­ben gibt. “Ber­lin 1960”  ist ein fik­ti­ver Spa­zier­gang durch das Ber­lin der 60er Jahre mit einem Besuch des loka­len Schach­ca­fés, in dem weni­ger bekannte, doch eben­falls spiel­starke Meis­ter wie Rudolf Elst­ner, Adolf Pawel­c­zak oder Vik­tor Winz auf­tre­ten, dane­ben der bedeu­tende Funk­tio­när Alfred Kin­zel (von 1975 bis 1983 Prä­si­dent des Deut­schen Schach­bun­des). Das Adjek­tiv “fik­tiv” lässt den Leser auf­hor­chen: Kann eine Dar­stel­lung, die sich mit Geschichte befasst und somit “harte Fak­ten” prä­sen­tie­ren will, fik­tive Ele­mente ent­hal­ten? “Ich erzähle Epi­so­den und Sze­nen, die manch­mal fik­tiv sind, aber durch­aus so gesche­hen sein könn­ten”, so for­mu­liert Dom­brow­sky selbst, womit er immer­hin in der Tra­di­tion klas­si­scher His­to­rio­gra­phen steht, die Sze­nen aus­ma­len und ihren Prot­ago­nis­ten Reden in den Mund legen, um die Situa­tion für den Leser ein­drucks­vol­ler und plas­ti­scher zu gestalten.

Standard-Klischees über Schachspieler

Und so fin­den wir im erwähn­ten Ber­li­ner Schach­café des Jah­res 1960 den Schach­spie­ler, des­sen blas­ses Gesicht dem Betrach­ter sofort ver­rät: “Der Mann sehnt sich nicht nach einem Spa­zier­gang in der Sonne.” Ein ande­rer wird als älte­rer Herr mit “schlecht sit­zen­dem Anzug auf sei­ner schma­len Figur” beschrie­ben. Inwie­weit hier Erzäh­lun­gen von Augen­zeu­gen bemüht wur­den und wie sehr sich die Fan­ta­sie des Autors Bahn brach, muss offen blei­ben, denn sol­che Kli­schees gehö­ren ebenso wie die Tasse Kaf­fee, “die dann stun­den­lang völ­lig unbe­rührt abkühlt” und der Wirt, der von dem Weni­gen, was die Schach­spie­ler über den Abend kon­su­mie­ren, nicht ein­mal die Strom­rech­nung bezah­len könnte, zu den Stan­dard­kli­schees über Schach­spie­ler. Man­che der fik­ti­ven Dia­loge erschei­nen mir per­sön­lich etwas über­flüs­sig, doch tra­gen sie unzwei­fel­haft zu einer Auf­lo­cke­rung des Geschil­der­ten bei.

Die grossen Meister mit ihren Marotten dargestellt

Sieger der Deutschen Meisterschaft 1961: Berlins starker Grossmeister Klaus Darga (*1934)
Sie­ger der Deut­schen Meis­ter­schaft 1961: Ber­lins star­ker Gross­meis­ter Klaus Darga (*1934)

Auch abge­se­hen von die­sen Ele­men­ten ist das Buch alles andere als tro­ckene Geschichts­schrei­bung. Die gros­sen Meis­ter wer­den mit ihren sport­li­chen Erfol­gen, aber auch ihren ganz per­sön­li­chen Eigen­ar­ten und Marot­ten dar­ge­stellt. So erfährt man, dass die grosse Lei­den­schaft des gros­sen Kurt Rich­ter die Pfer­de­wet­ten waren, bei denen er viel Geld ein­setzte und hört von der per­sön­li­che Kon­tro­verse der bei­den Natio­nal­mann­schafts­kol­le­gen Wolf­ram Bia­las und Lothar Schmid wegen eines lange zurück­lie­gen­den Vor­wurfs der Schie­bung. Und natür­lich ist man­che Vita schon allein so span­nend und epi­so­den­reich, dass man sich wun­dert, dass man noch nie etwas davon gehört hat. So ging es mir im Fall von Klaus Uwe Mül­ler. Als ich das Kapi­tel zum ers­ten Mal auf­schlug, war ich etwas beschämt, von die­ser “Schach­le­gende” noch nicht ein­mal den Namen zu ken­nen, doch beru­hig­ten mich die Worte des Autors: “Es ist schon erstaun­lich, dass ein Meis­ter so ver­ges­sen wird. Schon in den 60er Jah­ren sprach kaum noch jemand über seine Leis­tun­gen. Klaus Uwe Mül­ler ist der am wenigs­ten beach­tete und am meis­ten unter­schätzte Schach­spie­ler aus der gol­de­nen Hoch­zeit im Ber­li­ner Schach nach dem Zwei­ten Welt­krieg.” Dabei war Mül­ler immer­hin vor sei­ner Flucht in den Wes­ten erfolg­rei­ches Mit­glied der DDR-Natio­nal­mann­schaft mit einem aus­ge­zeich­ne­ten Resul­tat von 9 Punk­ten aus 15 Par­tien bei der Schach­olym­piade 1952 in Hel­sinki und im glei­chen Jahr punkt­glei­cher Sie­ger der DDR-Meis­ter­schaft zusam­men mit IM Bert­hold Koch.

Bisher unbekanntes Partien-Material integriert

Zu einem Buch über Schach­spie­ler gehö­ren natür­lich auch Schach­par­tien. Diese fin­den sich reich­lich im Werk, viel­fach auch sol­che, die in den gän­gi­gen Daten­ban­ken feh­len. Alle sind durch IM Dr. Hel­mut Reef­schlä­ger kom­men­tiert. Da in den “Schach­le­gen­den” die Per­sön­lich­kei­ten, und nicht schach­li­che Fein­hei­ten im Vor­der­grund ste­hen, sind die Kom­men­tare zwar (soweit ich es über­prüft habe) feh­ler­los und sicher mit Hilfe eines Com­pu­ter­pro­gram­mes geprüft, hät­ten aber an der einen oder ande­ren Stelle (wie­derum nach mei­nem sub­jek­ti­ven Geschmack) etwas aus­führ­li­cher aus­fal­len kön­nen. Ein Bei­spiel mit den Ori­gi­nal­an­mer­kun­gen Reefschlägers:

Kurt Rich­ter – Abra­ham Baratz
Prag 1931
1.d4 Sf6 2.Sc3 d5 3.Lg5 Lf5 4.f3 c6 5.e3 Sbd7 6.f4 Da5 7.Ld3 Se4 8.Lxe4 Lxe4 9.Sf3 f6 10.Lh4 e6 11.0–0 Lxf3 12.Dxf3 f5 13.Tae1 Db4

Diagramm: Kurt Richter vs Abraham Baratz (Prag 1931) - nach 13. ... Db4
Dia­gramm: Kurt Rich­ter vs Abra­ham Bar­atz (Prag 1931) – nach 13. … Db4

14.e4
Ein “Ver­bo­te­ner Zug”. Ver­bo­tene Züge sind sol­che, die das Gehirn gar nicht in Betracht zieht, also ein­fach ver­bie­tet, als unmög­lich aus­schliesst. Das ist mensch­lich. Allzu mensch­lich. Nun wird bis­wei­len ein Ver­bo­te­ner Zug, wenn ihn ein Com­pu­ter macht, beju­belt. Zu Unrecht, denn aus sei­ner Sicht steht der Zug auf glei­cher Ebene wie alle ande­ren auch. Dem Men­schen dage­gen gebührt Hoch­ach­tung, wenn er sei­nem Gehirn den Aus­schluss gewis­ser Züge nicht zustimmt. 14.e4 ist nun gleich mehr­fach ver­bo­ten: der Bauer kann vom d- oder f-Bau­ern geschla­gen wer­den, und über­dies hängt auch noch d4 mit Schach. Ein beson­de­rer Moment für Kurt Rich­ter, konnte er hier quasi in einem Zug seine Phan­ta­sien aus­le­ben, seine roman­ti­sche Seite ein­brin­gen, seine Traum­welt bedie­nen. Und merk­wür­dig: Der Ver­bo­tene Zug ist hier auf ganz pro­fane Weise völ­lig kor­rekt, ja der ein­zige, der weis­sen Vor­teil ergibt!
14…dxe4 15.Sxe4 fxe4 16.Dxe4 Kräf­ti­ger ist 16.Txe4. 16…Dd6? 16…Dc4 hält noch stand. 17.Df5 Dxd4+ 18.Kh1 Le7 19.Dxe6 0–0–0 20.Lxe7 The8 21.Dh3 Dxb2 22.Lxd8 Txd8 23.Db3 Df6 24.De6 Dc3 25.Te2 Kc7 26.h3 Sf6 27.De5+ Dxe5 28.fxe5 Sd5 29.Tf7+ 1–0

Michael Dombrowskys neues Buch überzeugt: Über Details lässt sich streiten, aber in summa sind die
Michael Dom­brow­skys neues Buch über­zeugt: Über Details lässt sich strei­ten, aber in summa sind die “Ber­li­ner Schach­le­gen­den” ein unter­halt­sa­mes und gut geschrie­be­nes Buch, das den schach­his­to­risch Inter­es­sier­ten in ein span­nen­des Kapi­tel der deut­schen Schach­ge­schichte einführt.

Zusam­men­ge­fasst: Dom­brow­skys Arbeit hat mich über­zeugt. Über Details kann man strei­ten, aber in summa sind die “Ber­li­ner Schach­le­gen­den” ein unter­halt­sa­mes und gut geschrie­be­nes Buch, das den schach­his­to­risch Inter­es­sier­ten in ein span­nen­des Kapi­tel der deut­schen Schach­ge­schichte ein­führt. Dem Buch, das nach Aus­sage sei­nes Autors für Schach­spie­ler und Nicht­schach­spie­ler geschrie­ben wurde, möchte ich viel Erfolg wün­schen, auch wenn zu befürch­ten ist, dass die Anzahl der Käu­fer aus dem Kreis der Nicht­schach­spie­ler gering sein wird. ♦

Michael Dom­brow­sky: Ber­li­ner Schach­le­gen­den – Erin­ne­run­gen und Por­traits aus der Zeit vor und nach dem Mau­er­bau, Edi­tion Marco, 240 Sei­ten, ISBN 978-3924833-66-4

Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Schach­ge­schichte auch über die
neue Schach-Zeit­schrift „Caissa“
… sowie zum Thema Schacher­öff­nun­gen über
Mihail Marin: Die Eng­li­sche Eröffnung

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