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Bachs Kosmos chormusikalisch ausgelotet
von Walter Eigenmann
Über das in der europäischen Musikgeschichte schier singuläre Phänomen der Bach-Kantate sind in den letzten 250 Jahren bekanntlich ganze Bibliotheken geschrieben worden. Denn das anfänglich monatliche, dann wöchentliche, zu guter Letzt weit über 200 Werke umfassende und das gesamte sonntägliche Kirchenjahr mehrfach umspannende geistliche Kantaten-Komponieren des Johann Sebastian Bach zu Arnstadt (ab 1703), Weimar (ab 1708), Köthen (ab 1717) oder Leipzig (ab 1723) fokussiert einzigartig das philosophische Panorama, das theologische Spektrum, die musikstilistische Vielfalt, die emotionale Spannweite und die kompositionstechnische Meisterschaft dieses grössten der Barock-Genies. Und im Zentrum eben dieses Kosmos’, als der eigentliche Träger der kompositorischen – weltlichen wie geistlichen – “Botschaften” aufgrund einer Vielzahl von Texten unterschiedlichster Quellen, aber auch als die vielleicht konzentrierteste Manifestierung des Bachschen Schaffens überhaupt, steht der Chor.
Das Kantaten-Chorschaffen im Zentrum
Umso verwunderlicher denn, dass die aktuelle, im Internet recherchierbare riesige Bach-Diskografie meines momentanen Wissens kaum CD-Titel enthält, die das Kantaten-Chorschaffen Bachs dezidiert in den Mittelpunkt hebt; neben einer mittlerweile unübersehbaren Fülle von Einzel- (sprich “Highlights”-) oder aber Gesamtaufnahmen existieren kaum Produktionen mit rein chorischen Kantaten-Auskoppelungen (geschweige denn mit thematisch begründeten Exzerpten).
Doch zumindest auf dem Gebiete der Geistlichen Kantate wird das nun, und zwar erfreulicherweise prominent und deshalb hoffentlich publikumswirksam, geändert durch ein Recording des berühmten Monteverdi-Chores und der (“historisch” musizierenden) English Baroque Solists unter John Eliot Gardiner mit dem Titel “Eternal Fire – Bach: Great Cantata Choruses”.
13 Millionen Euro schweres Mammut-Konzertprojekt

Musikalische Basis dieser CD-Produktion ist die legendäre “Bach Cantata Pilgrimage”. Im Bach-Jubiläumsjahr 2000 initiierte damals Dirigent Gardiner mit seinem Monteverdi-Chor ein bisher noch nicht gesehenes, rund 13 Millionen Euro schweres Mammut-Konzertprojekt: ein ganzes Jahr lang führte der wandernde Musiker-Tross jede Woche in wechselnden Städten Europas und in Übersee sämtliche geistlichen Bach-Kantaten auf, beginnend am 23. Dezember 1999 in der Weimarer Herder Kirche und endend an Silvester 2000 in der New Yorker St. Bartholomew’s Church.
Diese einzigartige Tournee (natürlich u.a. zu den verschiedenen orginalen Wirkungsstätten Bachs) warf damals spektakuläre Wellen in der gesamten Musik-Presse, führte zu gleichbleibend hochkarätigen Konzerten, liess die beteiligten Musiker verschiedene internationale Preise einheimsen – und resultierte nicht weniger als 27 (teils doppelseitige) CD-Produktionen im eigens dafür gegründeten Label “Soli Deo Gloria / SDG”.
Chor-Konzentrat der Bach-Pilgrimage

“Eternal Fire” ist nun quasi ein Chor-Konzentrat dieser “Pilgrimage” mit 14 bekannten (zumeist aber weniger bekannten) geistlichen Kantaten-Chören vorwiegend aus der (biographisch sehr schwierigen) Leipziger Zeit Bachs stammend. Sie dokumentieren sowohl in musikalischer wie textlich-exegetischer Hinsicht eine Bachsche Chorbehandlung auf einsam hohem Niveau, mit einem völlig einzigartigen Reichtum an schöpferischen Stellungnahmen bzw. deren kompositorischen Umsetzungen durch Bach. (Über die Position gerade dieser 14 gewählten Chöre innerhalb des Bachschen Kantaten-Werkes orientiert den CD-Hörer übrigens ein sehr kompetent verfasster Booklet-Text des englischen Musikwissenschaftlers J. Freeman-Attwood). Jedenfalls lassen nur schon diese “Great Cantata Choruses” auf “Eternal Fire” die Begeisterung des Dirigenten und Bach-Forschers Gardiner nachvollziehen, der in einem Interview meinte: “Ausser Bach gäbe es keinen Komponisten, mit dem ich mich ein ganzes Jahr beschäftigen könnte. Bach ist so vielfältig, so fantasievoll – sein Schatten ist lang. Er inspirierte Musiker von Mozart über Mendelssohn bis Strawinsky oder Jazzer wie Jacques Loussier. Er ist universal, deswegen glaube ich: Bach ist der Komponist der Zukunft”.
“Nobel Prize for choirs”

Eine regelrechte Potenzierung dieser (gerade bei Gardiner intellektuell wohlbegründeten) Bach-Schwärmerei des berühmten Dirigenten ist dann erwartungsgemäss im Musizieren seines Monteverdi-Chores und der Instrumentalisten dokumentiert. Natürlich konzertiert ein weltweit wohl einzigartiges Chorensemble wie der “Monteverdi” auch auf dieser CD sowohl rhythmisch wie intonationstechnisch makellos, registerklanglich hervorragend balanciert, mit präzisester Artikulation und übrigens einer – für vorwiegend englischsprachige Sänger keineswegs selbstverständlichen – klaren deutschsprachlichen Diktion. Und selbstverständlich singt dieses Ensemble mit einem strahlend-reinen Fortissimo oder einem tragend-runden Pianissimo im Verbund mit einer buchstäblich alle Chor-Register ziehenden Expressivität der kompositorisch intendierten Wortdeutungen. Der Chorgesang dieser vielfach preisgekrönten Formation – unterstützt durch ein sehr agiles, entweder sensibel grundierendes oder dann instrumentalsolistisch brillant agierendes Orchester – ist einfach beeindruckend, und das Urteil von “Le Monde” ist keineswegs übertrieben: “If there were a Nobel Prize for choirs, the Monteverdi Choir should be its laureate”.
Den Code einer wunderbaren Musik geknackt

Doch im Musizieren dieses Terzettes Gardiner-“Monteverdi”-“BaroqueSolists” ist, jenseits aller technischen Perfektion, noch eine weitere Dimension spürbar, die man – vielleicht euphorisch – als Bach-Weisheit bezeichnen kann. In zahlreichen Après-Concert-Statements von an der “Pilgrimage” beteiligten Choristen und Instrumentalisten klingt es ähnlich an wie in jenem des Trompeters Michael Harrison, der nach diesem Bach-Pilgerjahr bekannte (Zitat): “Vor meiner Teilnahme an der Cantata Pilgrimage konnte ich mit den Kantaten nicht so richtig ‘warm’ werden: sie erschienen mir immer etwas undurchdringlich und unnahbar. Doch mit der Zeit entstand eine zunehmende Vertrautheit mit der musikalischen und spirituellen Sprache der Werke, es fühlte sich an wie eine ‘Magic-Eye-Erfahrung’ für Ohren. In dem Masse, wie diese Stücke begannen, Besitz von mir zu ergreifen, wuchs auch meine Aufnahmefähigkeit für die von ihnen transportierte einzigartige Botschaft. Mein Damaskuserlebnis hatte ich wohl zur Mitte des Projekts während des Konzerts in Iona am 28. Juli, dem zweihundertundfünfzigsten Todestags Bachs. Während der Aufführung von Kantate 131 (‘Aus der Tiefen’) bemerkte ich, wie Tränen auf meiner Konzertkleidung landeten. Es war mein persönliches Epiphanias, ich hatte den Code dieser wunderbaren Musik geknackt.”
Referenz-Charakter in Sachen Bach-Chöre

Und genau so, mit diesem schwer beschreibbaren Untergrund des Wissens um die geistigen (und keineswegs nur geistlichen) Fundamente dieser Kantaten, “kommt” das Musizieren des Chores “rüber”. Das könnte man umfangreich en détail untermauern: Das prunkhafte-vollstimmige Frohlocken zusammen mit einem blechüberstrahlten Orchestertutti im eröffnenden “O ewiges Feuer…”; das abgründig-sekundschrittige Klagen im Kontrast zum hoffnungsvoll-daktylischen Drängen beim “Ihr werdet weinen…”; die wundervoll ausgesungene Kontrapunktik im lutherischen “Eine feste Burg…”; Bachs unnachahmliche, vom Chor äusserst dicht-beklemmend intonierte Chor-Dramatik im “Nimm von uns, Herr…”; dann wieder die anfängliche rhythmische und harmonische Simplizität im “Brich dem Hungrigen dein Brot” mit seiner sprunghaften, dem Wort genau angepassten, stetigen Komplizierung der Geflechte; das berühmte “Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen” mit einem unglaublich intensiv “mitfühlenden” Chorgesang, wie man ihn nur selten beim BWV 12 in solcher Ausdruckspräsenz hört; darauf folgend die filigran durchgehörte, mit virtuoser Leichtigkeit erreichte Transparenz der polyphon auftrumpfenden Chöre “Es ist ein trotzig und verzagt Ding” und “Es erhub sich ein Streit” – doch genug der Stichworte zu diesen 14 an interpretatorischen Glanzlichtern überreichen Wiedergaben.

Kurzum: “Eternal Fire” mit Gardiners “Monteverdi”-Sängerschaft hat Referenz-Charakter in Sachen Bach-Chöre, trotz hervorragender Einspielungen anderer Ensembles. Diesen Aufnahmen merkt man die buchstäblich jahrelange Beschäftigung aller Interpreten mit der Materie Bach in jedem Takt an – eine schlicht begeisternde CD, und die würdevolle Apotheose einer einzigartigen “Pilgerreise”. ♦
Monteverdi Choir, English Baroque Solists, Sir John E. Gardiner: Eternal Fire – Johann Sebastian Bach, Great Cantata Choruses, Audio-CD, Label “Soli Deo Gloria” 177
… sowie zum Thema Chormusik über die neue Studie zur Musik-Psychologie: Chorgesang fördert emotionale und intellektuelle Kompetenzen
Lieber Walter,
eine interessante Sichtweise zu Ihren Gardiner-Ausführungen, die ich vollauf nachvollziehen kann. Als ein langjähriger Konzertfreund von Sir J.E. Gardiner seinem Monteverdi Choir und English Baroque Soloists kann absolut davon ausgegangen werden, dass der Monteverdi Choir absolute Weltspitze bedeutet und mich immer wieder aufs neue begeistert, Die deutsche Wortartikulation des englischen Chores ist als phänomenal anzusehen und ist trotz häufiger Wechsel junger Nachwuchs-Sänger/innen immer auf dem gleichen Niveau geblieben das grenzt schon fast an ein Wunder.
Vielen Dank für Ihren begeisterten Artikel über Sir Gardiner, EBS und dem Monteverdi Choir, den ich mit Freude zur Kenntnis genommen habe.
Herzliche Grüße
Volker