Bernhard Morbach: Die Musikwelt des Barock

Von der Affektenlehre bis zum Pythagoreischen Komma

von Wal­ter Eigenmann

Wenn einer seit bald 30 Jah­ren als Mode­ra­tor und Autor im Rund­funk ältere Musik ver­mit­telt, im Stu­dio oder vor Publi­kum, “dann kann er was erzäh­len”. Und wenn er dann noch Bern­hard Mor­bach heisst und bereits zwei umfang- wie erfolg­rei­che Buch-Pro­jekte – “Musik­welt des Mit­tel­al­ters” und “Musik­welt der Renais­sance” – rea­li­siert hat, so wird dem ernst­haft an Kunst­mu­sik Inter­es­sier­ten auch der letzte Teil die­ser Tri­lo­gie – “Die Musik­welt des Barock” – bei­nahe zur Pflicht-Lektüre.

Geschmacksgraben zwischen Barock und Moderne

Bernhard Morbach - Die Musikwelt des Barock - Neu erlebt in Texten und Bildern - Cover Bärenreiter Verlag - Glarean MagazinAutor Mor­bach weiss dabei um die unlös­bare Auf­gabe, auf nur 300 Buch­sei­ten das Kon­zen­trat einer Musik-Epo­che zu lie­fern, deren wis­sen­schaft­li­che und prak­ti­sche Rezep­tion inzwi­schen ganze Biblio­the­ken bwz. CD-Regale füllt – vom ufer­lo­sen WWW noch nicht gere­det. Bei alter (oder zumin­dest “älte­rer”) Musik kommt auf den theo­re­tisch Ver­mit­teln­den noch erschwe­rend die grosse zeit­li­che Ent­fer­nung hinzu, die dem geschmack­lich um Wel­ten distan­zier­ten “moder­nen Musik-Kon­su­men­ten” den Zugang zu Monteverdi&Co. schier unüber­brück­bar machen. Aus­ser­dem hat noch mit einer drit­ten Pro­ble­ma­tik zu kämp­fen, wer kom­plexe musi­ka­li­sche Inhalte frü­he­rer Jahr­hun­derte in unsere Tage trans­po­nie­ren will: Mit der empi­risch veri­fi­zier­ten Tat­sa­che, dass im Zeit­al­ter der erbar­mungs­los omni­prä­sen­ten, von qua­li­ta­tiv fil­tern­der Selek­ti­vi­tät völ­lig unbe­hel­lig­ten Ton-Flut aus allen mög­li­chen und unmög­li­chen indus­tria­li­sier­ten Kon­ser­ven-Quel­len die Fähig­keit des “Durch­schnitts­hö­rers” zu bewusst-reflek­tie­ren­dem Hin­hö­ren und Ver­ar­bei­ten sys­te­ma­tisch, ja von Kinds­bei­nen an aberzo­gen und statt­des­sen die wirt­schaft­lich weit inter­es­san­tere Dau­er­be­rie­se­lung von Beruf und All­tag mit Light-Musik (sprich: popu­lä­rer Musik) instal­liert wird.

Respekt vor barocker Kreativität

Bernhard Morbach
Bern­hard Morbach

Zu die­ser Pro­ble­ma­tik sei Mor­bach gleich sel­ber zitiert, der unter dem Stich­wort “Barock­mu­sik in unse­rer Welt” leicht weh­mü­tig fest­hält: “Eine Musik­kul­tur wie die uns­rige, die im Bereich der so genann­ten Erns­ten Musik so rück­wärts gewandt ist, hat natür­lich den Vor­teil, dass einem ‘die Fülle’ an Musik zur Ver­fü­gung steht. Aber eines ist sicher: Wenn in der Dresd­ner Hof­kir­che eine Fest­messe von Hei­ni­chen erklang, wenn Biber mit sei­ner Hof­ka­pelle an der Tafel des Salz­bur­ger Fürst-Erz­bi­schofs auf­spielte, wenn in Ams­ter­dam nach den Got­tes­diens­ten in der Oude Kerk Sweelinck auf der Orgel impro­vi­sierte, wenn in Leip­zig Bach mit sei­nem Col­le­gium musi­cum im Kaf­fee­haus auf­trat, wenn in Bolo­gna das Con­certo Pala­tino im Palast der Stadt musi­zierte, wenn in Ham­burg eine kunst­volle Musik zu einem Fest der Bür­ger­schaft erklang oder Corelli in Rom seine Vio­lin­kunst zum Bes­ten gab, dann hörte man zu! Man begeg­nete der Musik mit der gebo­te­nen Auf­merk­sam­keit, denn jede Musik ereig­nete sich nur im ‘Hier-und-Jetzt’. Dass in unse­rer Welt gerade die Musik des Barock zur Hin­ter­grund­mu­sik bzw. gar zu einer Art Geräusch­ku­lisse ernied­rigt wird, kann man bekla­gen. Aber ver­hin­dern kann man es nicht. Des­halb ist es sinn­voll und aus Respekt vor den Men­schen, die in der Barock­zeit musi­ka­lisch krea­tiv waren, gera­dezu gebo­ten, sich ein­mal den ursprüng­li­chen Bedeu­tungs­zu­sam­men­hang – also die Musik­welt des Barock – zu ver­ge­gen­wär­ti­gen. Wenn man unsere enorme Distanz zu die­ser Welt erkennt, gewinnt man eine neue Nähe zu ihrer Musik – hoffentlich.”

Musik-Monographie als opulenter Barock-Roman

Eben die­sem “ursprüng­li­chen Bedeu­tungs­zu­sam­men­hang” des Barock-Zeit­al­ters und des­sen Musik spürt Bern­hard Mor­bach auf eine Weise nach, die in Ver­su­chung bringt, seine Mono­gra­phie in einem Rutsch zu ver­schlin­gen – als opu­len­ter Barock-Roman sozu­sa­gen. Denn es beein­druckt, mit welch sinn­fäl­li­ger Struk­tu­rie­rung der grös­se­ren musik­sti­lis­ti­schen wie -sozio­lo­gi­schen Zusam­men­hänge, mit wel­cher fast enzy­klo­pä­di­schen Detail-Kennt­nis und gleich­zei­ti­ger Ver­ket­tung die­ser Details mit den epo­cha­len “Main­streams”, und mit auch wel­cher essay­is­ti­schen Elo­quenz der Autor der Ver­lo­ckung wider­steht, ange­sichts der Fülle des theo­re­ti­schen und wis­sen­schaft­li­chen Mate­ri­als ins staub­tro­ckene Lexi­ka­li­sche abzugleiten.

"Der vollkommene Kapellmeister" von Mattheson (Deckblatt)
“Der voll­kom­mene Kapell­meis­ter” von Matthe­son (Deck­blatt)

Gegen­über ver­gleich­ba­ren Publi­ka­tio­nen heben drei Merk­male Mor­bachs Barock­mu­sik-Buch her­vor: Zum einen der geis­tes­ge­schicht­li­che Ansatz, mit dem der Autor das je Kom­po­si­to­risch-Inner­mu­si­ka­li­sche in die “höhe­ren” mass­geb­li­chen poli­ti­schen, sozia­len, phi­lo­so­phi­schen Zusam­men­hänge der Barock-Zeit (ca. 1600-1750) ein­bet­tet. Ob “Affek­ten­lehre” oder “Pytha­go­rei­sches Komma”, ob “Chalumeau”-Bau oder “Auf­füh­rungs­pra­xis”, ob “Choral­kan­tate” oder “Num­mern-Prin­zip”, ob “Mono­die” oder “Sonata da chiesa”, ob “Klang­rede” oder “Extem­po­rie­rung”: Immer auch stellt Mor­bach für seine (natür­lich unver­zicht­ba­ren) musi­ka­li­schen Stich­wör­ter die ideen­ge­schicht­li­chen Quer­ver­bin­dun­gen und die kul­tur­his­to­ri­schen Her­kunfts-Geleise her. So wird nicht nur die Barock-Musik, son­dern die Barock-Zeit über­haupt plas­tisch – was auch der Attrak­ti­vi­tät des The­mas nur gut tut.

Buch-“Cantus prius factus” Johann Mattheson

Zwei­tens wen­det der Ver­fas­ser hin­sicht­lich inhalt­li­cher Struk­tu­rie­rung sei­ner zahl­lo­sen klei­ne­ren und grös­se­ren Abhand­lun­gen einen Trick an, quasi adap­tiert aus der baro­cken Kon­tra­punkt-Tech­nik des “Can­tus prius fac­tus”, indem er näm­lich mit dem Uni­ver­sal-Genie Johann Matthe­son einen refe­ren­ti­el­len “Füh­rer durch die Musik­welt des Barock” her­nimmt und nun über fast das ganze Buch hin­weg alle kom­po­si­ti­ons- und instru­men­tal- wie auf­füh­rungs­tech­ni­schen bis hin zu den Stil-Fra­gen in den Fokus die­ses umfas­send gebil­de­ten und in der Wir­kung bahn­bre­chen­den Musik­schrift­stel­lers, frucht­ba­ren Kom­po­nis­ten und auf­ge­klär­ten Zeit­zeu­gen stellt. Matthe­son war beim Publi­kum wie bei der “Intel­li­gen­zia” sei­ner Zeit hoch­an­ge­se­hen, wird zurecht von Mor­bach als “zen­trale Auto­ri­tät” instal­liert. Die dadurch zwangs­läu­fig ent­ste­hen­den Rei­bungs­punkte mit wie­der­sprüch­li­chen Ansich­ten und Strö­mun­gen sor­gen ihrer­seits wie­der für wei­ter­füh­rende Refle­xio­nen – ein sehr frucht­ba­rer Ansatz Morbachs.

 William Hogarth: Der rasende Musikus, 1741
Wil­liam Hogarth: Der rasende Musi­kus, 1741

Die Komponistinnen des Barock

Eigenwillige Barock-Komponistin und Kurtisane: Barbara Strozzi
Eigen­wil­lige Barock-Kom­po­nis­tin und Kur­ti­sane: Bar­bara Strozzi

Jene Leser­schaft schliess­lich, die meint, sich in der Barock-Musik über­durch­schnitt­lich gut aus­zu­ken­nen, mag ein drit­tes High­light die­ser Mono­gra­phie beson­ders inter­es­sie­ren, näm­lich der Ein­be­zug zweier beson­ders “exo­ti­scher”, kaum je im Zusam­men­hang mit Barock-Musik abge­han­del­ter The­mata: “Frauen in einer Män­ner­welt – Kom­po­nistinnen des Barock”, sowie “Erobe­rer, Mis­sio­nare, Indios – Barock­mu­sik in der Neuen Welt”. Wobei beide Gebiete kei­nes­weg mar­gi­nal, son­dern ins­be­son­dere die “Neue Welt” recht ein­ge­hend behan­delt wer­den. Bei ers­te­rem ste­hen vier­zehn Kom­po­nis­tin­nen im Mit­tel­punkt – von der Kur­ti­sane bis zur Nonne -, deren Werke teils als CD-Ein­spie­lun­gen vor­lie­gen. Mor­bach resü­miert: “Nur sehr wenige Frauen sind wäh­rend der Barock­zeit als pro­fes­sio­nelle Kom­po­nis­tin­nen an die Öffent­lich­keit getre­ten, das heisst, nur weni­gen gelang es, in das ganz und gar von Män­nern beherrschte höfi­sche und öffent­li­che Kon­zert­le­ben und in das Musik­ver­lags­we­sen vor­zu­drin­gen und Noten­dru­cke zu publi­zie­ren. Aber das, was ans Licht der Öffent­lich­keit gelangte – Vie­les wird ver­lo­ren gegan­gen sein – ist von höchs­ter Qualität.”

Die Musikzentren der präkolumbianischen Zeit

Sehr anre­gend ist schliess­lich noch Mor­bachs Exkurs zu den barock kom­po­nie­ren­den bzw. musi­zie­ren­den Mis­sio­na­ren und – in der Folge der expor­tie­ren­den Kolo­nia­li­sa­tion – zu den ein­hei­mi­schen Tra­di­tio­nen der prä­ko­lum­bia­ni­schen Zeit, deren sti­lis­ti­sche Eigen­hei­ten gemäss Mor­bach zu bemer­kens­wer­ten “Son­der­schöp­fun­gen” geführt hät­ten, wel­che keine euro­päi­sche Ent­spre­chung haben. Der Autor stat­tet dabei eini­gen Städ­ten und Musik-Metro­po­len des dama­li­gen Süd­ame­rika einen Besuch ab: Über das frühe Mexiko Stadt und seine mehr­stim­mig sin­gen­den, “fran­zis­ka­ni­schen” Indios bis hin zum bra­si­lia­ni­schen Recife, dem Geburts­ort des Mulat­ten Luis Pinto (geb. 1719), des­sen (rekon­stru­ier­tes) Te Deum für vier­stim­mi­gen Chor und Orches­ter sogar in einer Ein­spie­lung mit dem Ensem­ble Turicum vor­liegt (Cla­ves 1995).

“Die Musik­welt des Barock” von Bern­hard Mor­bach ist eine glei­cher­mas­sen the­ma­tisch viel­fäl­tige wie musik­his­to­risch breit kon­zi­pierte, äus­serst bele­sene und im musik­theo­re­ti­schen Detail fun­dierte, dabei mit einer instruk­ti­ven Fülle von Bild- und Zita­ten-Mate­rial illus­trie­rende Unter­su­chung, die mit ihren viel­fäl­ti­gen Bezü­gen zu Kul­tur und Gesell­schaft des Barock auch eine ideen­ge­schicht­li­che Brü­cke zu schla­gen ver­mag bis in unsere Zeit.

Die Musik­welt des Barock” von Bern­hard Mor­bach ist eine glei­cher­mas­sen the­ma­tisch viel­fäl­tige wie musik­his­to­risch breit kon­zi­pierte, äus­serst bele­sene und im musik­theo­re­ti­schen Detail fun­dierte, dabei mit einer instruk­ti­ven Fülle von Bild- und Zita­ten-Mate­rial illus­trie­rende Unter­su­chung, die mit ihren viel­fäl­ti­gen Bezü­gen zu Kul­tur und Gesell­schaft des Barock auch eine ideen­ge­schicht­li­che Brü­cke zu schla­gen ver­mag bis in unsere Zeit. Nütz­lich abge­run­det wird der Band durch einen umfang­rei­chen Anhang mit Anmer­kun­gen, Ver­zeich­nis ein­füh­ren­der Lite­ra­tur, CD-Inhalt und Per­so­nen-/Sach-Regis­ter. ♦

Bern­hard Mor­bach, Die Musik­welt des Barock, Neu erlebt in Tex­ten und Bil­dern, mit CD-ROM (Noten­ma­te­rial, Bil­der, Doku­men­ta­tio­nen), Bären­rei­ter Ver­lag, 300 Sei­ten, ISBN 978-3761817162

Leseproben

Leseprobe 1 aus: Bernhard Morbach, Die Musikwelt des Barock ("Macht durch Musik - Ludwig XIV.")
Lese­probe 1 aus: Bern­hard Mor­bach, Die Musik­welt des Barock (“Macht durch Musik – Lud­wig XIV.”)
Leseprobe 2 aus: Bernhard Morbach, Die Musikwelt des Barock ("Gesangsstile im Orfeo")
Lese­probe 2 aus: Bern­hard Mor­bach, Die Musik­welt des Barock (“Gesangs­stile im Orfeo”)
Lesen Sie im Glarean Maga­zin zum Thema Barock­mu­sik auch über
Bern­hard Moos­bauer: Vivaldi – Die vier Jahreszeiten

… sowie zum Thema Musi­ker-Bio­gra­phien über

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