Inhaltsverzeichnis
- 1 Von der Affektenlehre bis zum Pythagoreischen Komma
- 1.1 Geschmacksgraben zwischen Barock und Moderne
- 1.2 Respekt vor barocker Kreativität
- 1.3 Musik-Monographie als opulenter Barock-Roman
- 1.4 Buch-“Cantus prius factus” Johann Mattheson
- 1.5 Die Komponistinnen des Barock
- 1.6 Die Musikzentren der präkolumbianischen Zeit
- 1.7 Leseproben
Von der Affektenlehre bis zum Pythagoreischen Komma
von Walter Eigenmann
Wenn einer seit bald 30 Jahren als Moderator und Autor im Rundfunk ältere Musik vermittelt, im Studio oder vor Publikum, “dann kann er was erzählen”. Und wenn er dann noch Bernhard Morbach heisst und bereits zwei umfang- wie erfolgreiche Buch-Projekte – “Musikwelt des Mittelalters” und “Musikwelt der Renaissance” – realisiert hat, so wird dem ernsthaft an Kunstmusik Interessierten auch der letzte Teil dieser Trilogie – “Die Musikwelt des Barock” – beinahe zur Pflicht-Lektüre.
Geschmacksgraben zwischen Barock und Moderne
Autor Morbach weiss dabei um die unlösbare Aufgabe, auf nur 300 Buchseiten das Konzentrat einer Musik-Epoche zu liefern, deren wissenschaftliche und praktische Rezeption inzwischen ganze Bibliotheken bwz. CD-Regale füllt – vom uferlosen WWW noch nicht geredet. Bei alter (oder zumindest “älterer”) Musik kommt auf den theoretisch Vermittelnden noch erschwerend die grosse zeitliche Entfernung hinzu, die dem geschmacklich um Welten distanzierten “modernen Musik-Konsumenten” den Zugang zu Monteverdi&Co. schier unüberbrückbar machen. Ausserdem hat noch mit einer dritten Problematik zu kämpfen, wer komplexe musikalische Inhalte früherer Jahrhunderte in unsere Tage transponieren will: Mit der empirisch verifizierten Tatsache, dass im Zeitalter der erbarmungslos omnipräsenten, von qualitativ filternder Selektivität völlig unbehelligten Ton-Flut aus allen möglichen und unmöglichen industrialisierten Konserven-Quellen die Fähigkeit des “Durchschnittshörers” zu bewusst-reflektierendem Hinhören und Verarbeiten systematisch, ja von Kindsbeinen an aberzogen und stattdessen die wirtschaftlich weit interessantere Dauerberieselung von Beruf und Alltag mit Light-Musik (sprich: populärer Musik) installiert wird.
Respekt vor barocker Kreativität

Zu dieser Problematik sei Morbach gleich selber zitiert, der unter dem Stichwort “Barockmusik in unserer Welt” leicht wehmütig festhält: “Eine Musikkultur wie die unsrige, die im Bereich der so genannten Ernsten Musik so rückwärts gewandt ist, hat natürlich den Vorteil, dass einem ‘die Fülle’ an Musik zur Verfügung steht. Aber eines ist sicher: Wenn in der Dresdner Hofkirche eine Festmesse von Heinichen erklang, wenn Biber mit seiner Hofkapelle an der Tafel des Salzburger Fürst-Erzbischofs aufspielte, wenn in Amsterdam nach den Gottesdiensten in der Oude Kerk Sweelinck auf der Orgel improvisierte, wenn in Leipzig Bach mit seinem Collegium musicum im Kaffeehaus auftrat, wenn in Bologna das Concerto Palatino im Palast der Stadt musizierte, wenn in Hamburg eine kunstvolle Musik zu einem Fest der Bürgerschaft erklang oder Corelli in Rom seine Violinkunst zum Besten gab, dann hörte man zu! Man begegnete der Musik mit der gebotenen Aufmerksamkeit, denn jede Musik ereignete sich nur im ‘Hier-und-Jetzt’. Dass in unserer Welt gerade die Musik des Barock zur Hintergrundmusik bzw. gar zu einer Art Geräuschkulisse erniedrigt wird, kann man beklagen. Aber verhindern kann man es nicht. Deshalb ist es sinnvoll und aus Respekt vor den Menschen, die in der Barockzeit musikalisch kreativ waren, geradezu geboten, sich einmal den ursprünglichen Bedeutungszusammenhang – also die Musikwelt des Barock – zu vergegenwärtigen. Wenn man unsere enorme Distanz zu dieser Welt erkennt, gewinnt man eine neue Nähe zu ihrer Musik – hoffentlich.”
Musik-Monographie als opulenter Barock-Roman
Eben diesem “ursprünglichen Bedeutungszusammenhang” des Barock-Zeitalters und dessen Musik spürt Bernhard Morbach auf eine Weise nach, die in Versuchung bringt, seine Monographie in einem Rutsch zu verschlingen – als opulenter Barock-Roman sozusagen. Denn es beeindruckt, mit welch sinnfälliger Strukturierung der grösseren musikstilistischen wie -soziologischen Zusammenhänge, mit welcher fast enzyklopädischen Detail-Kenntnis und gleichzeitiger Verkettung dieser Details mit den epochalen “Mainstreams”, und mit auch welcher essayistischen Eloquenz der Autor der Verlockung widersteht, angesichts der Fülle des theoretischen und wissenschaftlichen Materials ins staubtrockene Lexikalische abzugleiten.

Gegenüber vergleichbaren Publikationen heben drei Merkmale Morbachs Barockmusik-Buch hervor: Zum einen der geistesgeschichtliche Ansatz, mit dem der Autor das je Kompositorisch-Innermusikalische in die “höheren” massgeblichen politischen, sozialen, philosophischen Zusammenhänge der Barock-Zeit (ca. 1600-1750) einbettet. Ob “Affektenlehre” oder “Pythagoreisches Komma”, ob “Chalumeau”-Bau oder “Aufführungspraxis”, ob “Choralkantate” oder “Nummern-Prinzip”, ob “Monodie” oder “Sonata da chiesa”, ob “Klangrede” oder “Extemporierung”: Immer auch stellt Morbach für seine (natürlich unverzichtbaren) musikalischen Stichwörter die ideengeschichtlichen Querverbindungen und die kulturhistorischen Herkunfts-Geleise her. So wird nicht nur die Barock-Musik, sondern die Barock-Zeit überhaupt plastisch – was auch der Attraktivität des Themas nur gut tut.
Buch-“Cantus prius factus” Johann Mattheson
Zweitens wendet der Verfasser hinsichtlich inhaltlicher Strukturierung seiner zahllosen kleineren und grösseren Abhandlungen einen Trick an, quasi adaptiert aus der barocken Kontrapunkt-Technik des “Cantus prius factus”, indem er nämlich mit dem Universal-Genie Johann Mattheson einen referentiellen “Führer durch die Musikwelt des Barock” hernimmt und nun über fast das ganze Buch hinweg alle kompositions- und instrumental- wie aufführungstechnischen bis hin zu den Stil-Fragen in den Fokus dieses umfassend gebildeten und in der Wirkung bahnbrechenden Musikschriftstellers, fruchtbaren Komponisten und aufgeklärten Zeitzeugen stellt. Mattheson war beim Publikum wie bei der “Intelligenzia” seiner Zeit hochangesehen, wird zurecht von Morbach als “zentrale Autorität” installiert. Die dadurch zwangsläufig entstehenden Reibungspunkte mit wiedersprüchlichen Ansichten und Strömungen sorgen ihrerseits wieder für weiterführende Reflexionen – ein sehr fruchtbarer Ansatz Morbachs.

Die Komponistinnen des Barock

Jene Leserschaft schliesslich, die meint, sich in der Barock-Musik überdurchschnittlich gut auszukennen, mag ein drittes Highlight dieser Monographie besonders interessieren, nämlich der Einbezug zweier besonders “exotischer”, kaum je im Zusammenhang mit Barock-Musik abgehandelter Themata: “Frauen in einer Männerwelt – Komponistinnen des Barock”, sowie “Eroberer, Missionare, Indios – Barockmusik in der Neuen Welt”. Wobei beide Gebiete keinesweg marginal, sondern insbesondere die “Neue Welt” recht eingehend behandelt werden. Bei ersterem stehen vierzehn Komponistinnen im Mittelpunkt – von der Kurtisane bis zur Nonne -, deren Werke teils als CD-Einspielungen vorliegen. Morbach resümiert: “Nur sehr wenige Frauen sind während der Barockzeit als professionelle Komponistinnen an die Öffentlichkeit getreten, das heisst, nur wenigen gelang es, in das ganz und gar von Männern beherrschte höfische und öffentliche Konzertleben und in das Musikverlagswesen vorzudringen und Notendrucke zu publizieren. Aber das, was ans Licht der Öffentlichkeit gelangte – Vieles wird verloren gegangen sein – ist von höchster Qualität.”
Die Musikzentren der präkolumbianischen Zeit
Sehr anregend ist schliesslich noch Morbachs Exkurs zu den barock komponierenden bzw. musizierenden Missionaren und – in der Folge der exportierenden Kolonialisation – zu den einheimischen Traditionen der präkolumbianischen Zeit, deren stilistische Eigenheiten gemäss Morbach zu bemerkenswerten “Sonderschöpfungen” geführt hätten, welche keine europäische Entsprechung haben. Der Autor stattet dabei einigen Städten und Musik-Metropolen des damaligen Südamerika einen Besuch ab: Über das frühe Mexiko Stadt und seine mehrstimmig singenden, “franziskanischen” Indios bis hin zum brasilianischen Recife, dem Geburtsort des Mulatten Luis Pinto (geb. 1719), dessen (rekonstruiertes) Te Deum für vierstimmigen Chor und Orchester sogar in einer Einspielung mit dem Ensemble Turicum vorliegt (Claves 1995).

“Die Musikwelt des Barock” von Bernhard Morbach ist eine gleichermassen thematisch vielfältige wie musikhistorisch breit konzipierte, äusserst belesene und im musiktheoretischen Detail fundierte, dabei mit einer instruktiven Fülle von Bild- und Zitaten-Material illustrierende Untersuchung, die mit ihren vielfältigen Bezügen zu Kultur und Gesellschaft des Barock auch eine ideengeschichtliche Brücke zu schlagen vermag bis in unsere Zeit. Nützlich abgerundet wird der Band durch einen umfangreichen Anhang mit Anmerkungen, Verzeichnis einführender Literatur, CD-Inhalt und Personen-/Sach-Register. ♦
Bernhard Morbach, Die Musikwelt des Barock, Neu erlebt in Texten und Bildern, mit CD-ROM (Notenmaterial, Bilder, Dokumentationen), Bärenreiter Verlag, 300 Seiten, ISBN 978-3761817162
Leseproben


Bernhard Moosbauer: Vivaldi – Die vier Jahreszeiten