Inhaltsverzeichnis
Melancholischer Schabernack
von Walter Eigenmann
Spätestens zwei Monate vor Heilig Abend überschwemmen sie bekanntlich alljährlich en masse die Buchläden und Online-Shops, jene unzähligen “heiteren und besinnlichen Gedichte und Geschichten” unterm werbewirksamen Slogan “Weihnachten mit…”. Aber nun auch “Weihnachten mit Ringelnatz”? Diesem kreativ-spöttischen Rumtreiber und raffiniert-schöpferischen Nichtstuer? Diesem unnachahmlichen Veralberer von höchsten Kuttel Daddeldus Gnaden? Diesem grummelnden Seebär, philosophischen Pfannenflicker, höhnischen Gaukler, klarsichtigen Penner? Da wird man hellhörig, blättert neugierig rein – und “Weihnachten” bekommt nochmals eine Facette mehr: eben die Ringelnatzsche.
Genie der Infantilität in Wort und Bild
Erstaunlich überhaupt, dass sich ein ganzes Buch ausgerechnet zum Thema “Weihnachten” destillieren lässt aus dem (allerdings umfangreichen, mittlerweile 7-bändigen) Oeuvre eines Mannes, der solche Dinge schreibt wie: “Wenn man das zierlichste Näschen / Von seiner liebsten Braut / Durch ein Vergrösserungsgläschen / Näher beschaut / Dann zeigen sich haarige Berge / Dass einem graut.” Und überraschend auch, dass dieser virtuose Gassensuppen-Verehrer, dieses Genie der Infantilität in Wort und Bild, dieser durchaus auch mal mit Trivialem Langweilende, dieser gar nicht simple “Simplicissimus”-Schreiber hier keineswegs nur geistreich rumblödelt – gerade nicht zu Weihnachten. Bilderreiche und nachdenkliche Sentiment-Lyrik wie die folgenden Verse ist durchaus ebenfalls anzutreffen:
Weihnachten
Liebeläutend zieht durch Kerzenhelle,
Mild, wie Wälderduft, die Weihnachtszeit,
Und ein schlichtes Glück streut auf die Schwelle
Schöne Blumen der Vergangenheit.Hand schmiegt sich an Hand im engen Kreise,
Und das alte Lied von Gott und Christ
Bebt durch Seelen und verkündet leise,
Dass die kleinste Welt die grösste ist.
Gesundes Misstrauen eines ungeschminkten Realitätssinnes
Doch Hans Gustav Bötticher wäre nicht Ringelnatz, wenn er der kerzenseligen Rührung dieses “schlichten Glücks” nicht auch das Misstrauen seines ungeschminkten Realitätssinnes gegenüberstellte. Denn der zeitlebens unstete, weder geographisch noch biographisch noch literarisch noch malerisch wirklich Beheimatete, der Wanderer durch Räume und Zeiten reimt gleichzeitig so melancholisch wie wahr:
Einsiedlers Heiliger Abend
Ich hab’ in den Weihnachtstagen –
Ich weiss auch, warum –
Mir selbst einen Christbaum geschlagen,
Der ist ganz verkrüppelt und krumm.Ich bohrte ein Loch in die Diele
Und steckte ihn da hinein
Und stellte rings um ihn viele
Flaschen Burgunderwein.Und zierte, um Baumschmuck und Lichter
Zu sparen, ihn abends noch spät
Mit Löffeln, Gabeln und Trichter
Und anderem blanken Gerät.Ich kochte zur heiligen Stunde
Mir Erbsensuppe mit Speck
Und gab meinem fröhlichen Hunde
Gulasch und litt seinen Dreck.Und sang aus burgundernder Kehle
Das Pfannenflickerlied.
Und pries mit bewundernder Seele
Alles das, was ich mied.Es glimmte petroleumbetrunken
Später der Lampendocht.
Ich sass in Gedanken versunken.
Da hat’s an die Türe gepocht,Und pochte wieder und wieder.
Es konnte das Christkind sein.
Und klang’s nicht wie Weihnachtslieder?
Ich aber rief nicht: “Herein!”Ich zog mich aus und ging leise
Zu Bett, ohne Angst, ohne Spott,
Und dankte auf krumme Weise
Lallend dem lieben Gott.Sentimental, doch auch autosatirisch

Der sentimentale, der (auto)satirische also – und noch ein dritter Ringelnatz tritt einem über die Winter-, Weihnachts- und Silvester-Wege in diesem Buch: der poetische. Zum Beispiel in seiner unnachahmlichen “Stillen Winterstrasse”:
Es heben sich vernebelt braun
Die Berge aus dem klaren Weiss,
Und aus dem Weiss ragt braun ein Zaun,
Steht eine Stange wie ein Steiss.Ein Rabe fliegt, so schwarz und scharf,
Wie ihn kein Maler malen darf,
Wenn er’s nicht etwa kann.
Ich stapfe einsam durch den Schnee.
Vielleicht steht links im Busch ein Reh
Und denkt: Dort geht ein Mann.
Herausgeber Daniel Kampa stellte zwischen Ringelnatz’ Weihnachts- und Silvester-Gedichten noch drei autobiographische Prosa-Texte – mit den bezeichnenden Titeln “Weihnachten in der Tropenhitze”, “Hungerweihnacht in Hamburg”, “Weihnachten in der Armee”. Auch hier schimmert sie stets durch, die augenzwinkernde Traurigkeit, und auch der melancholische Schabernack, wie man ihn im ganzen Werk dieses völlig singulären Literaten als Grundzug ausmachen kann.
Hat denn Ringelnatz auch eine “Weihnachtsbotschaft”? Vielleicht diese:
Liedchen
Die Zeit vergeht.
Das Gras verwelkt.
Die Milch entsteht.
Die Kuhmagd melkt.Die Milch verdirbt.
Die Wahrheit schweigt.
Die Kuhmagd stirbt.
Ein Geiger geigt.
♦
Daniel Kampa (Hrsg.), Weihnachten mit Ringelnatz, Lyrik und Prosa, 96 Seiten, Diogenes Verlag, ISBN 978-3-257-02114-1
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema “Literatur und Humor” auch von Roland Topor: Tragikomödien
… sowie zum Thema Weihnachten: Christmas for Pan – Advents- und Weihnachtslieder für 1 oder 2 Panflöte(n)
köstliche uns sehr gut reflektierte rezension! schön, wenn frau eine seite findet, die nicht von engelein, keksen und heiligen klängen klebrig wirkt.