Lars Bremer: Die 32-Steiner (Schach-Satire)

Die 32-Steiner

von Lars Bremer

Sämt­li­che Schach­stel­lun­gen in ei­ner 32-Stei­ner-Ta­b­le­ba­se-Da­ten­bank zu er­fas­sen gilt als un­mög­lich. Aber war­um ei­gent­lich? Geht es viel­leicht doch? Und wenn ja, wie geht es – und vor al­lem: wann?

Im Schach­klub trifft man die selt­sams­ten Leu­te. Ko­mi­scher­wei­se trin­ken alle gern Bier, und so sas­sen neu­lich ein paar Schach­freun­de mit mir um ei­nen Knei­pen­tisch her­um. Ei­ner, von Be­ruf Phi­lo­soph an der Uni, do­zier­te: „Na gut, der Kram­nik mag ver­lo­ren ha­ben, aber die Rech­ner wer­den nie­mals per­fekt spie­len, wir wer­den im­mer die Mög­lich­keit ha­ben, sie zu be­sie­gen, denn das Schach­spiel ist un­er­schöpf­lich und nur ein krea­ti­ver Geist kann ver­su­chen, es zu er­grün­den. Er wird kei­nen Er­folg ha­ben, aber der Weg ist das Ziel! Die Com­pu­ter je­doch wer­den auf ewig dar­an schei­tern und sich in den end­lo­sen Va­ri­an­ten verlaufen!“
Zu­frie­den griff er zu sei­nem Bier­glas, da mel­de­te sich ein Ma­the­ma­ti­ker: „Un­er­schöpf­lich wür­de ich ei­gent­lich nicht sa­gen. Die längs­te mög­li­che Schach­par­tie dau­ert schliess­lich 5899 Züge, und da­bei schon müs­sen bei­de Sei­ten sorg­fäl­tig ko­ope­rie­ren. Nor­ma­le Par­tien, in de­nen je­der den bes­ten Zug macht, dau­ern bei wei­tem nicht so lange.“
Der Phi­lo­soph kon­ter­te: „Das ist egal, es gibt mehr Schach­par­tien als Ato­me im Uni­ver­sum. Nie­mals wird man die be­rech­nen können!“
„Das stimmt schon“, sag­te der Ma­the­ma­ti­ker. „Aber Stel­lun­gen gibt es viel we­ni­ger, näm­lich nur etwa 2,28*10ˆ46. Die Sechs­stei­ner gibt es schon, war­um soll­te es nicht ir­gend­wann die 32-Stei­ner geben?“

Astronomische Schach-Zahlen…

Ich misch­te mich ins Ge­spräch: „Das ist ganz ein­fach. Die End­spiel-Da­ten­ban­ken be­rech­nen aus der Stel­lung die Spei­cher-Adres­se. An der steht dann, wie vie­le Züge zum Ge­winn nö­tig sind. Bei 5899 Zü­gen braucht man pro Stel­lung also zwei Byte. Macht für alle Stel­lun­gen 4,56*10ˆ46 Byte. Nächs­tes Jahr wird es eine Fest­plat­te ge­ben, die ein Te­ra­byte spei­chert, also 1024 GByte oder 1.048.576 MByte und so wei­ter. Die ein­fa­che Rech­nung ist: Du wirst ewa 4,15*10ˆ34 von die­sen Te­ra­byte-Fest­plat­ten brauchen.“
„Klingt doch be­herrsch­bar“, sag­te der Ma­the­ma­ti­ker und grinste.
„Be­herrsch­bar?“, frag­te ich. „Wir kön­nen ja mal wei­ter­rech­nen. Eine Fest­plat­te hat die Mas­se 14,5x10x2,5 Zen­ti­me­ter, also ein Vo­lu­men von 0,0003625 Ku­bik­me­tern. Zu­sam­men er­gä­be das ein Vo­lu­men von 15 Tril­li­ar­den Ku­bik­ki­lo­me­tern, das ent­spricht ei­nem Wür­fel von fast 25 Mil­lio­nen Ki­lo­me­tern Kan­ten­län­ge. Nur aus Fest­plat­ten! Die Erde hat da­ge­gen nur ei­nen ma­ge­ren Raum­in­halt von et­was mehr als ei­ner Bil­li­on Ku­bik­ki­lo­me­tern, sie wür­de fast 14 Mil­li­ar­den Mal da rein­pas­sen. Auch mit der Son­ne sieht es nicht bes­ser aus, der Fest­plat­ten­wür­fel wür­de so gross sein wie zehn­tau­send Son­nen! Du müss­test alle Ster­ne in 30 Licht­jah­ren Um­kreis ab­reis­sen und zu Fest­plat­ten verarbeiten!“
Ein Elek­tro-Tech­ni­ker hat­te auch zu­ge­hört und warf ein: „Wenn der Zen­tral­rech­ner in der Mit­te des Wür­fels säs­se, wür­de jede An­fra­ge zu den in den Ecken be­find­li­chen Fest­plat­ten trotz Licht­ge­schwin­dig­keit 71 Se­kun­den un­ter­wegs sein! Und zu­rück na­tür­lich die­sel­be Zeit brauchen.“
„Was nicht wich­tig wäre, weil euer Wür­fel oh­ne­hin un­ter sei­ner ei­ge­nen Gra­vi­ta­ti­on kol­la­bie­ren und zu ei­nem schwar­zen Loch zu­sam­men­stür­zen wür­de“, mein­te ein Physiker.

Alle 18 Monate verdoppelt sich die Rechnergeschwindigkeit…

Glauben vs Wissen, Hoffen vs Bangen: Kann Schach dereinst
Glau­ben vs Wis­sen, Hof­fen vs Ban­gen: Kann Schach der­einst „ge­löst“ werden?

Der Phi­lo­soph nahm zu­frie­den sein Bier­glas zur Hand, der Ma­the­ma­ti­ker aber sag­te: „Ja, das sind sehr gros­se Zah­len. Aber war­um sol­len die Po­ten­zen nur im­mer ge­gen uns ar­bei­ten? Die Fest­plat­ten fas­sen doch je­des Jahr mehr! Wie lan­ge hat es bis jetzt im­mer ge­dau­ert, bis die Ka­pa­zi­tät sich ver­dop­pelt hat?“
„Im Mit­tel drei Jah­re, eher we­ni­ger“, schätz­te ich.
„Aha, drei Jah­re.“ Der Ma­the­ma­ti­ker rieb sich die Hän­de. „Mal an­ge­nom­men, das geht so wei­ter. Dann ha­ben wir 2010 eine Plat­te mit zwei Te­ra­byte …“, er wur­de still und be­weg­te die Lip­pen. „… und im Jah­re 2352 eine Fest­plat­te mit der nö­ti­gen Spei­cher­ka­pa­zi­tät für den 32-Steiner.“
Er ki­cher­te, und am Tisch wur­de es still. Nach ei­ner Wei­le mel­de­te sich der Phi­lo­soph: „Na gut, viel­leicht kann man die Da­ten spei­chern, aber aus­rech­nen kann man sie nicht!“
Ich misch­te mich auch wie­der ein: „Ge­nau! Mal an­ge­nom­men, ein Ta­b­le­ba­se-Ge­ne­ra­tor könn­te eine Mi­li­ar­de Stel­lun­gen pro Se­kun­de er­zeu­gen und be­wer­ten. Das ist ex­trem op­ti­mis­tisch, aber mit gros­sem Auf­wand könn­te man so eine Ma­schi­ne viel­leicht bau­en heut­zu­ta­ge. Dann bräuch­te der für 2,28*10ˆ46 Stel­lun­gen 2,28*10ˆ37 Se­kun­den. Das wä­ren 7,2*10ˆ29 Jah­re. Das Uni­ver­sum ist 13,77 Mil­li­ar­den Jah­re alt, und du willst sie­ben Qua­dril­li­ar­den Jah­re an den 32-Stei­nern rech­nen? Das wäre 52 Tril­lio­nen mal so lan­ge, wie das Uni­ver­sum exis­tiert. Da win­dest du dich nicht raus!“
Der Ma­the­ma­ti­ker lach­te. „Wenn es um gros­se Zah­len geht, seid ihr alle An­fän­ger. Ihr lasst sie ja ge­gen euch ar­bei­ten, da­bei geht es auch um­ge­kehrt! Moo­res Ge­setz ken­ne so­gar ich, alle 18 Mo­na­te ver­dop­pelt sich die Rech­ner­ge­schwin­dig­keit. Wol­len mal se­hen, was von eu­ren Qua­dril­li­ar­den noch bleibt. Wir bau­en jetzt ei­nen Com­pu­ter, der eine Mil­li­ar­de Stel­lun­gen pro Se­kun­de er­zeugt. Hm, dann sind das, dum­di­dum, hm, zack, hey, das geht ja noch schnel­ler als mit den Fest­plat­ten! Also, wir wer­den im Jah­re 2195 ei­nen Com­pu­ter ha­ben, der die 32-Stei­ner ratz­fatz hastd­unicht­ge­se­hen aus­rech­nen kann.

Wenn nicht in 200, dann eben in 2000 Jahren…

Ich fas­se zu­sam­men, mei­ne Her­ren: wenn der Fort­schritt fort­schrei­tet wie bis­her, dann wer­den wir im Jahr 2195 die Re­chen­leis­tung ha­ben, um die 32-Stei­ner theo­re­tisch zu er­zeu­gen, und im Jah­re 2352 geht es dann auch prak­tisch, weil wir dann Da­ten­trä­ger ha­ben wer­den, die gross ge­nug sind. Noch Fragen?“
„Ja!“, rief der Phi­lo­soph em­pört. „Die Stei­ge­rung der Re­chen­leis­tung und der Spei­cher­ka­pa­zi­tät wird sich doch si­cher verlangsamen!“
„Viel­leicht“, ant­wor­te­te der Ma­the­ma­ti­ker, „aber selbst wenn, was än­dert das? Wenn sich die Ka­pa­zi­tät der Plat­ten nicht alle drei Jah­re ver­dop­pelt, son­dern bloss alle 30, was soll‘s? Dann hät­ten wir trotz­dem in drei­ein­halb­tau­send Jah­ren so eine Plat­te. Das gilt auch für die Re­chen­leis­tung. Wenn wir die nicht in 200 Jah­ren ha­ben, dann eben in 2000 Jah­ren. Ich gebe zu, dass das eine lan­ge Zeit ist, viel zu lang für uns, aber his­to­risch voll­kom­men un­be­deu­tend, und je­den­falls viel zu kurz, um von ‚un­mög­lich‘ oder ‚nie­mals‘ zu spre­chen, wie du es ge­tan hast. Die Py­ra­mi­den von Gi­zeh wur­den vor 5000 Jah­ren er­baut. Kannst du dir vor­stel­len, was in 5000 Jah­ren sein wird? Oder in 50.000 Jah­ren? Ab­ge­se­hen mal da­von, dass es eine Da­ten­bank ge­ben wird, die sämt­li­che Schach­stel­lun­gen ent­hält, denn das müs­sen wir uns nicht vor­stel­len – ich habe es ja ge­ra­de bewiesen!“
Der Ma­the­ma­ti­ker grins­te sar­do­nisch und be­stell­te noch ein Bier. Die Tisch­ge­sell­schaft be­schloss, lie­ber über Schnitt­blu­men zu re­den. Den­noch treibt mich seit­dem die Fra­ge, ob der Ma­the­ma­ti­ker recht hat­te oder ob er sich ge­irrt hat. Und wenn ja, wo er sich ge­irrt hat? ♦


Lars Bre­mer

Geb. 1968, Soft­ware-Ent­wick­ler und Jour­na­list, Ex-Chef­re­dak­teur der Com­pu­ter­schach-Zeit­schrift CSS-On­line, lebt in Langenhagen/BRD

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schach-Sa­ti­ren auch von Karl gross: Das Dra­ma des un­be­gab­ten Schachlehrers

… so­wie zum The­ma Schach-Bel­le­tris­tik das Schach-Ge­dicht von Ste­fan Wal­ter: Die Schlacht von Tilburg

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