Viktorija Tokarjewa: Liebesterror (Erzählungen)

Von der Liebe und anderen Dummheiten

von Walter Eigenmann

Zick­zack der Liebe”, “Happy End”, “Eine Liebe fürs ganze Leben”, “Mara”, “Lie­bes­terror” – kein Zwei­fel: Jenes, das man/frau gemein­hin mit der alle­sum­ar­men­den Wort­hülse “Liebe” zu umreis­sen pflegt, ist eine the­ma­ti­sche Kon­stante im Werk der heute 70-jäh­ri­gen Mos­kauer Schrift­stel­le­rin Vik­to­rija Tokar­jewa. Und noch ein roter Faden – womög­lich (oder: ziem­lich sicher) resul­tie­rend aus dem ers­ten – zieht sich zen­tral bis total domi­nant durch bei­nahe jeden ihrer lite­ra­ri­schen Texte, näm­lich die Frau: z.B. die Nut­ten-Frau (“Mara”), die Cari­tas-Frau (“Happy Ende”), die Reife-Frau (“Sag ich’s…”), die Vamp-Frau (“Der Pia­nist”), die Hoff­nungs-Frau (“Eine Liebe…”), oder auch die Sie­ges-Frau (“Glücks­vo­gel”). Und nun also, in ihrer neu­es­ten Kurz­prosa “Lie­bes­terror”, der Kopf-Erzäh­lung die­ser im Dio­ge­nes Ver­lag auf­ge­leg­ten vier­tei­li­gen Samm­lung, noch die Mutter-Frau.

Eine Dreiecks-Geschichte der komplizierten Art

Viktorija Tokarjewa - Liebesterror - CoverDiese Mut­ter-Frau, das ist Tante Tossja, wie sie in über­schweng­li­cher “Mut­ter-Liebe” ihre Toch­ter Nonna und ihren Schwie­ger­sohn Zaren­kow hegt und pflegt und – ter­ro­ri­siert. Denn “Lie­bes­terror” ist eine Drei­ecks-Geschichte der drit­ten, ganz beson­ders kom­pli­zier­ten Art: “Tante Tossja arbei­tete wirk­lich mit enor­men Fleiss und brummte und summte ebenso wie eine Biene. Sie erschuf jeden Tag etwas. Und sie wollte eine Beloh­nung für ihre Arbeit, wenn auch nur mit Wor­ten. Aber Nonna war ganz mit ihrem Mann beschäf­tigt. Und Zaren­kow war nur mit sich selbst beschäf­tigt. Und die arme Tante Tossja konnte nur auf dem Trep­pen­vor­platz heu­len und um Mit­ge­fühl schluch­zen.” Ver­schär­fend kommt hinzu: “Ande­rer Leute Elend wirkte auf Tante Tossja immer wohl­tu­end. Das söhnte sie mit der Wirk­lich­keit aus.”

Sol­che psy­chi­schen Dis­po­si­tio­nen pfle­gen zu eska­lie­ren – schon gar in der Schö­nen Lite­ra­tur, und abso­lut zwangs­läu­fig bei der auf zwi­schen­mensch­li­che Tra­gi­ko­mö­dien gera­dezu chir­ur­gisch spe­zia­li­sier­ten Autorin Tokar­jewa. Ein Plot von “Lie­bes­terror” sei darum ver­ra­ten: Der Schwier­ger­sohn, Tante Tossja buch­stäb­lich bis aufs Blut und bis aufs Beis­sen in die Hand im Wege, erliegt nach 95 lako­ni­schen, teils auch zärt­li­chen, oft fein zeich­nen­den, teils wie­der dif­fu­sen Sei­ten einem Herz­in­farkt. Des­sen Beschrieb übri­gens – Zaren­kow stirbt, vom Meer und von sei­ner Nonna träu­mend, an einem Herz­in­farkt im Bett – wie ein Sport­light den sti­lis­ti­schen, sar­kas­tisch gebro­che­nen, aber auch melan­cho­lisch-sen­si­blen Zugriff der Erzäh­le­rin Tokar­jewa in weni­gen Sät­zen fokus­siert: “Und plötz­lich ver­sank er. Das Was­ser schwappte über sei­nen Kopf. Zaren­kow bewegte Arme und Beine, er wollte auf­tau­chen, aber es gelang nicht. Das Was­ser erstickte ihn. Sein Herz bewegte sich fort und flog irgend­wo­hin. Zaren­kow flog sei­nem Her­zen hin­ter­her – und starb.”

Klischees und Simplifizierung

Man hat der gebür­ti­gen Lenin­gra­de­rin, die zuerst eine künst­le­ri­sche Lauf­bahn als Musi­ke­rin, dann als Dreh­buch-Schrei­be­rin ein­schlug, aber seit 1964 aus­schliess­lich als Prosa-Autorin arbei­tet, zuwei­len hand­lungs­tech­ni­sche Kli­schees und – als Schil­de­rin sowjet­rus­si­scher Milieus – gesell­schafts­po­li­ti­sche Sim­pli­fi­zie­rung vor­ge­wor­fen. In der Tat eig­net zumal ihren lan­gen Tex­ten (“Glücks­vo­gel”, “Der Pia­nist”, “Happy End”) eine teils fast zufäl­lig anmu­tende Sprung­haf­tig­keit der äus­se­ren Abläufe, der per­so­na­len Bezüge, der Hand­lungs­fel­der. Das Prin­zip der “Bil­der-Rei­hung”, im Film effekt­voll als dem Medium imma­nent, aber in psy­cho­lo­gi­sie­ren­der Prosa unver­mit­telt wir­kend, stra­pa­ziert die Autorin zu oft auch dort, wo “im Bilde zu blei­ben” die Glaub­wür­dig­keit der Geschichte(n) heben könnte.
Was aber diese äus­serst pro­duk­tive, zu Beginn nur im Hei­mat­land bekannte, längst nun auch im Wes­ten erfolg­rei­che Schrift­stel­le­rin jedoch vom schön-unver­bind­li­chen Plau­dern über leichte oder schwere Gefühls-Unpäss­lich­kei­ten schwa­cher oder star­ker (Frauen-)Figuren hin­aus­hebt, ist ihre unnach­ahm­li­che Lako­nie, die Knapp­heit des Schil­derns, die prä­zise Beob­ach­tung, das bei­nahe kühle Sezie­ren, dann auch wie­der der zuwei­len resi­gna­tive Ton, das manch­mal fata­lis­ti­sche Lais­ser-faire der im All­tag tra­gi­ko­misch unter­ge­hen­den, zuwei­len doch wie­der tri­um­phie­ren­den Prot­ago­nis­tin­nen. Vor allem aber ist Tokar­jewa eine Meis­te­rin der Situa­tions-Iro­nie und der Typisierung.

Rasanz und Schnörkellosigkeit der Sprache

Viktorija Tokarjewa - Russische Schriftstellerin - Glarean Magazin
Die rus­si­sche Schrift­stel­le­rin Vik­to­rija Tokar­jewa (*1937)

Ihre wich­tigste Waffe aller­dings, um die Leser­schaft bei Lek­türe und Laune zu hal­ten, ist die Rasanz und die Schnör­kel­lo­sig­keit ihrer Spra­che – woran aller­dings ihre “Leib- und Magen”-Übersetzerin Ange­lika Schnei­der wesent­li­chen Anteil haben muss. Da fin­den sich nir­gends Fül­lun­gen noch gram­ma­ti­ka­li­sche oder seman­ti­sche Red­un­dan­zen, die Ver­knap­pung der sprach­li­chen Mit­tel (aber nicht des Wort­schat­zes) bewirkt eine eigen­tüm­lich fas­zi­nie­rende Cool­ness der Distanz – und doch auch wie­der der iden­ti­fi­zie­ren­den Sym­pa­thie ob soviel unbe­schö­nig­ter Rea­li­tät, die gleich­sam jeder/m zustos­sen könnte. Ein gros­ser Teil des Publi­kum-Erfol­ges die­ser Autorin geht aufs Konto sol­cher manch­mal unbarm­her­zi­gen, mit viel Wort­witz und frap­pan­ten Psycho-Drehs auf­fah­ren­den, wohl­tu­end unsen­ti­men­ta­len Sach­lich­keit und Ein­fach­heit; das Lese-Resul­tat ist atem­lose Neu­gier. Kein Zwei­fel, Vik­to­rija Tokar­jewa ist eine Meis­te­rin der Erzähl­kunst, ihre frü­here unüber­les­bare Holz­schnit­tig­keit in den ers­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen ist inzwi­schen der rou­ti­nier­tes­ten Elo­quenz gewi­chen, ihre Kunst der Pro­to­ty­pi­sie­rung hat an Dif­fe­ren­ziert­heit gewonnen.

Eine stilistische Hexenküche

Eine der vier Erzäh­lun­gen in “Lie­bes­terror” heisst – durch­aus pro­gram­ma­tisch für die Tokar­jewa – “Salto mor­tale”, und als quasi zusam­men­fas­sende Kost­probe ihrer sti­lis­ti­schen Hexen­kü­che sei aus die­sem 21-Sei­ten-Stück kurz zitiert:

Wie schwer es war, allein zu leben, wenn man mit kei­nem Men­schen ein Wort wech­seln konnte.
Der ein­zige See­len­trös­ter war der Fern­se­her. Schura hing am Fern­se­her wie ein Süch­ti­ger an der Nadel. Aber auch im Fern­se­hen gab es nur leben und lei­den. […] Schura liebte die sowje­ti­schen Filme der sieb­zi­ger Jahre. Und sie sehnte sich nach die­ser Zeit zurück. Da war sie noch jung gewe­sen, ihre Mut­ter war noch gesund und mun­ter, und Pawel war damals Ober­leut­nant gewe­sen. Er machte ihr den Hof und kam zu ihnen nach Hause. Und ihre Mut­ter kochte eine Pilz­suppe aus getrock­ne­ten Cham­pi­gnons. Noch jetzt konnte sie das Aroma rie­chen. Ihre Mut­ter hatte gol­dene Hände. In ihnen steckte kuli­na­ri­sches und mensch­li­ches Talent. […] Schura stieg lang­sam in den fünf­ten Stock hoch. Neben dem Heiz­kör­per hatte es sich ein grau­haa­ri­ger Mann bequem gemacht. Er sah aus wie ein Inge­nieur aus den sieb­zi­ger Jah­ren und trug einen web­pelz­ge­füt­ter­ten Kunstledermantel.
All­ge­mei­ner Ein­druck: ein Inge­nieur – kein Unhold, nur ein ganz gewöhn­li­cher Mensch, und ein Inge­nieur hatte eben kei­ner­lei beson­dere Kenn­zei­chen. Dafür aber um so mehr Beschei­den­heit und Schick­sals­er­ge­ben­heit, das Wis­sen um die Unmög­lich­keit, etwas zu ver­än­dern. All das konnte man in den Augen die­ses da sit­zen­den Men­schen ablesen.
“Was machen Sie hier?” fragte Schura.
“Ich wärme mich auf”, sagte der Inge­nieur bloss.
“Und wieso hier?”
“Weil es der oberste Stock ist”, erklärte der Ingenieur.
“Ja und?” fragte Schura verständnislos.
“Kom­men weni­ger Leute vor­bei. Schmeisst einem nie­mand raus.”
“Sind Sie etwa obdachlos?”
“In gewis­sem Sinne”, ant­wor­tete der Inge­nieur und fügte dann hinzu: “Bitte, schi­cken Sie mich nicht weg.”
“Nein, nein, dann blei­ben Sie eben sit­zen”, sagte Schura beschämt.
Und sie dachte bei sich: Was es nicht alles gibt, ein anstän­di­ger Mann, und sitzt da wie ein Vaga­bund… Viel­leicht hat man ihn aus sei­ner Woh­nung gewor­fen? Mög­li­cher­weise war er ein Opfer von Woh­nungs-Spe­ku­lan­ten geworden…
Schura schloss ihre Woh­nung auf.

Mag sein, dass einige Titel aus der Feder die­ser Schrift­stel­le­rin frü­her oder spä­ter als den Mas­sen-Geschmack allzu will­fäh­rig bedie­nende “Tri­via­li­tä­ten” auf den ton­nen­schwe­ren unge­le­sen-ver­ges­se­nen Hal­den der Lite­ra­tur-Musea­li­tät lan­den. “Lie­bes­terror” dürfte nicht dazu gehört. ♦

Vik­to­rija Tokar­jewa, Lie­bes­terror und andere Erzäh­lun­gen, Dio­ge­nes Ver­lag, 217 Sei­ten, ISBN 978-3-257-06643-2

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