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Schmerz und Wahrheit des Banalen
von Bernd Giehl
Auf dem Titelbild von „Das wahre Leben“ ist Autor Adam Zagajewski selbst zu sehen, der Kopf, die buschigen Augenbrauen, den Blick nach oben gerichtet. Vielleicht sucht er ja gerade das wahre Leben. Ob es wohl da oben ist? Schräg über ihm? Aber was ist das „wahre Leben“ überhaupt? Ist es die blaue Blume der Romantik? Ein Wink des Schicksals? Gibt es auch ein falsches Leben, wie Adorno behauptet hat („Es gibt kein wahres Leben im falschen“)?
Was könnte denn das wahre Leben sein? Ein Rockkonzert mit viel Alkohol? Eine Reise ins Unbekannte, wo alles leuchtet? Ein psychedelischer Trip? Aber das sind doch nur Augenblicke. Ehe man über den „Hinterwäldler“ spottet, lese man lieber das Motto von Emmanuel Levinas auf Seite 8 des Buches: „Das wahre Leben ist abwesend. Aber wir sind auf der Welt.“
Aber vielleicht sind ja diese Gedichte selbst auf den Spuren des „wahren“ Lebens. Vor allem in dem ersten, „Das 20. Jahrhundert im Ruhestand“, in dem das Jahrhundert wie ein Greis Rückschau auf seine kriegszerfurchten Zeiten hält und zu dem Schluss kommt, nur das Mitleid zähle.
Aber schon das dritte Gedicht „Der große Dichter Basho bricht auf“ lässt einen wieder zweifeln, weil Basho an einem weinenden Jungen vorübergeht, der von seinen Eltern ausgesetzt wurde; „denn, so sagt er, es ist der Wille des Himmels“. Am Ende hört er den Gesang des Pirol, „zart, unsicher, wie ein Gebet, ein Weinen.“
Der Schmerz im Banalen

Überhaupt ist in den Gedichten viel vom Schmerz die Rede. Dabei kann der Anlass völlig banal sein. Ein Mensch im Nebenzimmer ruft, wie man „Boogie-Woogie“ schreibt, und das lyrische Ich ist erleichtert, dass nichts Schlimmes passiert ist. Keine Überschwemmung, keine Feuersbrunst, niemand wurde verhaftet. Am Ende findet der Autor beim Schreiben „Augenblicke der Freude/ und das dunkle Glück der Melancholie“ (S.21)
Natürlich bekommt auch das lyrische Ich hin und wieder seine Zweifel. Die kurzen Momente des Glücks sollen das Leben sein? (S.25) Ein anderes Mal geht es in die großen Museen, um das Leben zu studieren, aber dort ist das Leben gefroren – und so kehrt es wieder in den Alltag zurück.
Das wahre Leben sind die Augenblicke. Sie müssen nicht einmal besonders sein. ♦
Adam Zagajewski: Das wahre Leben (Gedichte), Hanser Verlag, 72 Seiten, ISBN 978-3-446-27966-7
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