Adam Zagajewski: Das wahre Leben (Lyrik)

Schmerz und Wahrheit des Banalen

von Bernd Giehl

Auf dem Ti­tel­bild von „Das wah­re Le­ben“ ist Au­tor Adam Zaga­jew­ski selbst zu se­hen, der Kopf, die bu­schi­gen Au­gen­brau­en, den Blick nach oben ge­rich­tet. Viel­leicht sucht er ja ge­ra­de das wah­re Le­ben. Ob es wohl da oben ist? Schräg über ihm? Aber was ist das „wah­re Le­ben“ über­haupt? Ist es die blaue Blu­me der Ro­man­tik? Ein Wink des Schick­sals? Gibt es auch ein fal­sches Le­ben, wie Ador­no be­haup­tet hat („Es gibt kein wah­res Le­ben im fal­schen“)?

Was könn­te denn das wah­re Le­ben sein? Ein Rock­kon­zert mit viel Al­ko­hol? Eine Rei­se ins Un­be­kann­te, wo al­les leuch­tet? Ein psy­che­de­li­scher Trip? Aber das sind doch nur Au­gen­bli­cke. Ehe man über den „Hin­ter­wäld­ler“ spot­tet, lese man lie­ber das Mot­to von Em­ma­nu­el Le­vi­n­as auf Sei­te 8 des Bu­ches: „Das wah­re Le­ben ist ab­we­send. Aber wir sind auf der Welt.“

Adam Zagajewski - Das wahre Leben - Gedichte - Buch-Cover - Rezensionen Glarean MagazinAber viel­leicht sind ja die­se Ge­dich­te selbst auf den Spu­ren des „wah­ren“ Le­bens. Vor al­lem in dem ers­ten, „Das 20. Jahr­hun­dert im Ru­he­stand“, in dem das Jahr­hun­dert wie ein Greis Rück­schau auf sei­ne kriegs­zer­furch­ten Zei­ten hält und zu dem Schluss kommt, nur das Mit­leid zähle.
Aber schon das drit­te Ge­dicht „Der gro­ße Dich­ter Bas­ho bricht auf“ lässt ei­nen wie­der zwei­feln, weil Bas­ho an ei­nem wei­nen­den Jun­gen vor­über­geht, der von sei­nen El­tern aus­ge­setzt wur­de; „denn, so sagt er, es ist der Wil­le des Him­mels“. Am Ende hört er den Ge­sang des Pi­rol, „zart, un­si­cher, wie ein Ge­bet, ein Weinen.“

Der Schmerz im Banalen

Adam Zagajewski - Lyriker - Glarean Magazin
Adam Zaga­jew­ski (1945-2021) in ei­ner Le­sung an der Uni­ver­si­tät Cambridge

Über­haupt ist in den Ge­dich­ten viel vom Schmerz die Rede. Da­bei kann der An­lass völ­lig ba­nal sein. Ein Mensch im Ne­ben­zim­mer ruft, wie man „Boo­gie-Woo­gie“ schreibt, und das ly­ri­sche Ich ist er­leich­tert, dass nichts Schlim­mes pas­siert ist. Kei­ne Über­schwem­mung, kei­ne Feu­ers­brunst, nie­mand wur­de ver­haf­tet. Am Ende fin­det der Au­tor beim Schrei­ben „Au­gen­bli­cke der Freude/ und das dunk­le Glück der Me­lan­cho­lie“ (S.21)

Na­tür­lich be­kommt auch das ly­ri­sche Ich hin und wie­der sei­ne Zwei­fel. Die kur­zen Mo­men­te des Glücks sol­len das Le­ben sein? (S.25) Ein an­de­res Mal geht es in die gro­ßen Mu­se­en, um das Le­ben zu stu­die­ren, aber dort ist das Le­ben ge­fro­ren – und so kehrt es wie­der in den All­tag zurück.
Das wah­re Le­ben sind die Au­gen­bli­cke. Sie müs­sen nicht ein­mal be­son­ders sein. ♦

Adam Zaga­jew­ski: Das wah­re Le­ben (Ge­dich­te), Han­ser Ver­lag, 72 Sei­ten, ISBN 978-3-446-27966-7

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