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Drama einer Begabung
von Katka Räber
Der Roman „Jakobs Ross“ von Silvia Tschui aus dem Jahr 2014 diente der Regisseurin Katalin Gödrös als Vorlage für ihren gleichnamigen Film, der im 19. Jahrhundert auf dem Land spielt. Er zeigt einerseits die beiden gesellschaftlichen Ebenen der Reichen – hier im Hause des Fabrikdirektors – und der Dienstboten. Später, wenn sie aus ungerechten Gründen entlassen und zu „Bauern in der Pacht“ werden, fallen diese Menschen durch alle finanziellen und gesellschaftlichen Raster…
Bei „Jakobs Ross“ handelt es sich um eine dramatische, historisch verankerte, dennoch moderne Emanzipationsgeschichte einer jungen, musikalisch begabten Frau und den Härten des bäuerlichen Lebens. Die Musik vermittelt eine andere Dimension und Leichtigkeit, doch es bleibt praktisch unmöglich, diese mit dem normalen Leben zu vereinen.
Bilder wie bei Jan Vermeer
Der Film lebt neben der dramatischen, ja tragischen Geschichte durch unglaublich stimmungsvolle Bilder, Gesamt- und Nahaufnahmen, die beispielsweise an Gemälde aus dem 17. Jahrhundert von Vermeer erinnern. Die Regisseurin und ihre künstlerische Crew (Kamera: Sebastian Edschmid, Musik: Balz Bachmann, Sound: Manu Gerber) arbeiten hier mit Details, die sich im Gedächtnis des Betrachters festsetzen und fortwirken.
Schon in der ersten Szene sehen und hören wir die Magd Elsie, wie sie den herrlichen Parkettboden schrubbt und dabei singt. Ihre Stimme ist klar und verzaubernd. Ein ganzes Lied ist nicht erforderlich; schon eine Melodie reicht aus, um Elsies Talent zu enthüllen. Doch das Singen wird der Magd während der Arbeit von der Gouvernante verboten, unter Androhung von Entlassung. Singen darf man nur in der Kirche. Zuerst scheint die Rettung durch die Tochter des Hauses zu kommen. Sophie nimmt sich der jungen Magd an und plant zusammen mit ihr nach Florenz zu gehen, wo sie beide Musik studieren könnten. Sophie meint auch, das Geld für ein Stipendium für Elsie werde sie von ihrem Vater bekommen.

Doch es kommt ganz anders. Der Herr des Hauses missbraucht seine Macht und schwängert Elsie, die daraufhin von ihm selbst zunächst mit dem Stallknecht Jakob zwangsverheiratet wird und beide sofort entlassen werden. Sie bekommen eine Kuh und sollen ein Stück unwegsames Land pachten. Doch es ist von Beginn an sichtbar, dass die Sisyphusarbeit zu keinem Erfolg führen wird. Das Liedchen „Ich möcht auch gleich zwei Flügel haben“, das Elsie früher die Freiheit spüren ließ, wird immer mehr zu einer Illusion. Von der Freiheit, ihre Musik zu praktizieren, mit Gesang und dem Spiel auf dem Schwyzerörgeli, träumt Elsie weiterhin, und sie versucht alles, um diesen Traum wahr werden zu lassen. Für ihren Mann Jakob, der von einem eigenen Ross träumt, steht der Wunsch seiner Frau an zweiter Stelle. Die beiden Lebensträume werden immer mehr zu einem Ding der Unmöglichkeit.
Der Traum von Selbstverwirklichung

Die junge, musikalisch begabte ehemalige Magd und spätere Bäuerin Elsie wird großartig von Luna Wedler verkörpert, die für diese Rolle eine Stimm- und Gesangsausbildung absolviert hatte und auch lernte, das Schwyzerörgeli zu spielen. Obwohl die gesamte Szenerie bis ins kleinste Detail im 19. Jahrhundert angesiedelt ist – zuerst im schlossartigen Haus des Fabrikdirektors, später in der steinigen Armut der Tessiner Dörfer; im Val Bavona fand man noch solche ursprünglichen Rustici und Grottenhäuser – ist die Problematik der Suche nach der eigenen Bestimmung und Selbstverwirklichung zeitgemäß und zeitlos. Besonders wenn Kunst den Traum als Zukunftsvision formt, und dies noch schwieriger für eine Frau. Luna Wedler schafft es, die verschiedenen Facetten von Entschlossenheit, Zärtlichkeit, Ergebenheit, Lebensfreude, Demut, Trauer und Hoffnung sowie Leidenschaft und Stärke mit ihrem Gesicht auszudrücken.
Gesellschaftliche Fesseln

Wie damals so oft in reichen Häusern nähert sich der Hausherr sexuell der jungen Magd an, die gehorchen muss, und der Hausherr schwängert sie. Nach dem Verjagen aus dem Haus, als die Schwangerschaft bekannt wird, beginnt der gesellschaftliche Abstieg der gegen ihren Willen Jungvermählten. Sehr vorsichtig wird die Beziehung zwischen den beiden ungleichen Eheleuten gezeigt. Elsies Traum von einem Musikstudium im Süden zerplatzt, doch im Inneren gibt sie die Hoffnung auf ihren eigenen Weg nicht auf. Sie nimmt das Schwyzerörgeli mit, das jedoch Jakob ein Dorn im Auge ist, denn er träumt von einem eigenen Pferd und einer Zukunft als selbständiger Kutscher. Seine junge Frau lässt sich jedoch auch in diesem unglaublich harten, im wahrsten Sinne steinigen Verhältnis ihren Traum nicht ganz nehmen. Sie beharrt darauf, die Hälfte des Geldes, das sie für die Milch der Kuh bekommt, selber zu behalten. Die Diskrepanz zwischen dem Eigenständigkeitswunsch der Frau damals auf dem Land und den Rollenbildern der Zeit wächst. Zwischenmenschliche Gefühle, das harte, urchige Leben auf dem Dorf, die unbarmherzigen Herausforderungen durch die Jahreszeiten und die Kraft sowie der Zauber der Musik und der Stimme der jungen Frau übertragen sich fast körperlich auf das Publikum.
Ein Schimmer Hoffnung

Eines Tages kommen in die Gegend der Wälder und Flüsse drei fahrende Musiker, und sie bringen ein wenig Fröhlichkeit ins Dorfleben. Einer der Musiker, der Jenische Ricco, weckt in Elsie neue Hoffnung auf eine Zukunft als Musikerin. Mit viel Leidenschaft und Zielstrebigkeit versucht sie, dieser Zukunft näher zu kommen. Doch so schön dieser Schimmer der Hoffnung leuchtet, so dramatisch wird diese Möglichkeit erstickt. Bereits in den ersten Szenen des Films, in denen die jungen, fleißigen Mägde des Herrenhauses unter einem Eibenbaum sitzen, fokussiert die Kamera nur auf die grünen Nadeln und die leuchtend roten, kleinen Kugelfrüchte des giftigen Baumes. Am Anfang fällt es nur durch den schönen grün-roten Kontrast auf.

Später erhalten die Nadeln und die Früchte der Eibe, die schon in der Antike und bei den keltischen Druiden als heiliger Baum mit Zauberkräften, aber auch als Baum des Todes gesehen wurde, unterschiedliche, unheilvolle Bedeutungen. Der Film gleicht einem romantisch-naturalistischen Schauergedicht, das durch den betörenden, klaren, kraftvollen Gesang von Luna Wedler, der der jungen Bäuerin und Musikerin Seele einhaucht, bis in die heutige Zeit nichts an der Dringlichkeit der Selbstverwirklichung ändert. ♦
Katalin Gödrös (Regie): Jakobs Ross, Drama, 103 Minuten, mit Luna Wedler, Valentin Postlmayr, Eugénie Anselin, Max Hubacher
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