Cees Nooteboom: Abschied (Gedicht)

Nachdenken über den Menschen

von Stefan Walter

Cees Noote­boom (*1933) ist ei­ner der gro­ßen nie­der­län­di­schen Dich­ter, und un­ter die­sen in Deutsch­land si­cher­lich der be­kann­tes­te. Für „Ab­schied“, ein „Ge­dicht aus der Zeit des Vi­rus“, das man wohl gu­ten Ge­wis­sens als sei­nen Schwa­nen­ge­sang be­trach­ten darf, hat er sich der eher sel­te­nen Form des Lang­ge­dichts bedient.

In der no­blen Bi­blio­thek Suhr­kamp als zwei­spra­chi­ge Aus­ga­be Niederländisch–Deutsch er­schie­nen, gibt es an den Äu­ßer­lich­kei­ten des „Ab­schieds“ von Cees Noote­boom er­war­tungs­ge­mäß nichts zu kri­ti­sie­ren. Der dun­kel­vio­let­te Ein­band ist von ei­nem schlich­ten Schutz­um­schlag in Weiß mit ei­nem schma­len vio­let­ten Strei­fen um­ge­ben; gro­ße Ex­pe­ri­men­te wird der Le­ser hier nicht er­war­ten. Ein Le­se­bänd­chen ist vor­han­den, gleich­falls vio­lett. Oder, um es in den Wor­ten des Ge­dich­tes zu sa­gen, „dazu die pas­sen­de Far­be: / das Lila von Tod und Geburt.“
Auf je­der Dop­pel­sei­te fin­det sich, ganz wie sich das ge­hört, links der Ori­gi­nal­text, rechts die deut­sche Über­set­zung. Je­der Ab­schnitt be­kommt sei­ne ei­ge­ne Dop­pel­sei­te. Ein kur­zes Nach­wort des Au­tors hilft ein biss­chen beim in­halt­li­chen Ver­ständ­nis des nicht ganz ein­fa­chen Tex­tes. Vier Zeich­nun­gen von Max Neu­mann run­den das Buch ab.

Strenge Gliederung

An­zei­ge

Das Ge­dicht selbst, un­ter­ti­telt mit „Ge­dicht aus der Zeit des Vi­rus“, folgt ei­ner stren­gen Glie­de­rung: Drei Ka­pi­tel zu je elf num­me­rier­ten Ab­schnit­ten zu je 13 Ver­sen, in drei Stro­phen plus ei­nen Nach­satz ge­trennt. Die Stro­phen­ein­tei­lung er­scheint rein for­mal, Stro­phen­en­jam­be­ments sind die Re­gel; als Sinn­ein­heit dient aus­schließ­lich der Ab­schnitt, der in vie­len Fäl­len aus ei­nem ein­zi­gen Satz besteht.

We­sent­lich an­stren­gen­der ist es, den teils sehr dunk­len In­halt zu er­hel­len. Da eine Re­zen­si­on glück­li­cher­wei­se kei­ne um­fas­sen­de In­ter­pre­ta­ti­on zu lie­fern braucht, kann ich mich hier auf ein­zel­ne Stel­len beschränken.
„Dies frag­te sich der Mann im Win­ter­gar­ten, / das Ende vom Ende, was könn­te das sein? / Et­was ganz ohne Kum­mer (…)“ be­ginnt der Text. Der Mann sieht im ers­ten Ab­schnitt u.a. ei­nen „ent­blät­ter­ten Fei­gen­baum“, „die tau­send­jäh­ri­gen Stei­ne der Mau­er“, „wie die Nacht kor­ri­giert wer­den soll­te“, „die Gram­ma­tik der Ent­eig­nung“, „Rück­zug nach der Nie­der­la­ge“, „doch kei­ne Bestimmung“.

Nebeinander von Metaphern und Wertungen

Cees Noote­boom (Geb. 1933 in Den Haag)

Die­ses auf­fäl­li­ge gleich­ran­gi­ge Ne­ben­ein­an­der von Bil­dern, Me­ta­phern und Wer­tun­gen zieht sich durch das gan­ze gro­ße Ge­dicht von Cees Noote­boom. So er­in­nert sich der Mann im zwei­ten Ab­schnitt an den Krieg, an „Sol­da­ten beim Ab­zug, bang, dre­ckig“ statt wie zu­vor „mit neu­er Zu­kunft ver­se­hen, mit Op­fern“, „die Rück­sei­te des Spie­gels“, „die Fal­le der Not“.
Er er­in­nert sich an die Kind­heit, die El­tern, das Meer, an Freun­de, an Mäd­chen, an Rei­sen, aber die Weh­mut muss je­des Mal wie­der sehr zeit­nah Platz ma­chen für Angst oder Trau­er, „ein­sa­me / Au­gen ohne Stir­ne ge­hen um, Glied­ma­ßen / ohne An­hang, Spuk­ge­stal­ten, Phan­tas­men / ge­spon­nen aus bö­sen Geschichten“.
Der Mann wird zum Gärt­ner, der die Blu­men be­wun­dert, „grün und hart­nä­ckig / ohne Furcht vor dem Ende“, aber den­noch sieht er als ers­tes „tote Blät­ter, der Bo­den nass und schwarz“.
„Wie vie­le Rät­sel kannst Du er­tra­gen?“ Ge­le­gent­lich zwei­felt man als Le­ser, ob sol­che Sät­ze noch die­ge­tisch sind, oder ob der Au­tor iro­ni­sches Mit­leid äu­ßern möch­te, wenn wir dem stän­di­gen Wech­sel von Ort, Zeit, Per­so­nen und Ge­gen­stän­den, im­mer nur an­ge­deu­tet, kaum fol­gen können.

Meisterliche Beherrschung von Form und Stil

An­zei­ge

Im zwei­ten Ka­pi­tel neh­men die Un­klar­hei­ten, die An­deu­tun­gen, die ne­ga­ti­ven Wer­tun­gen im­mer mehr zu: „Ein ver­kehr­tes Pa­ra­dies voll / Un­ge­heu­ern, die uns glei­chen, ein / ab­ge­nag­tes Ge­sicht mit ei­nem / Strauch auf dem Rü­cken“, „es sind Men­schen, glaub’s oder nicht, Kloa­ke der Evo­lu­ti­on“, „das er­fun­de­ne / Ge­nie, das sei­ne Kot­ze ver­kauft / und die See­le dazu“. Glück­lich mag man die Er­in­ne­run­gen des al­ten Man­nes eher nicht nennen.

Ru­hi­ger wird es dann wie­der im drit­ten Ka­pi­tel. Phi­lo­so­phi­sche Über­le­gun­gen („Was für ein Ge­räusch macht die Erde / im Hau­se des Kos­mos“), Er­in­ne­run­gen an Freun­de („Freun­de, Brü­der, Ge­lieb­te, / und im­mer nah­men sie Ab­schied, bo­gen ab nach links / oder rechts, ver­schwan­den wie Schat­ten“), sie füh­ren er­bar­mungs­los auf das Ende hin: „Dort rich­tet sich je­mand auf, eine / letz­te Ge­stalt, die sich ent­fernt, / ich schaue ihr nach, der ein­zi­gen / mei­nes Lebens“.
Bis das ly­ri­sche Ich, das wohl nicht all­zu weit vom Au­tor ent­fernt sein dürf­te, zum Schluss er­kennt: „Hier muss es sein, / hier neh­me ich Ab­schied von mir selbst / und wer­de dann lang­sam / niemand.“

Man muss an der wort­rei­chen, bild­haf­ten, zwi­schen Pa­thos und Ba­thos chan­gie­ren­den Spra­che nicht un­be­dingt Ge­fal­len fin­den. Ohne Zwei­fel je­den­falls be­herrscht Noote­boom Form und Stil meis­ter­lich und zwingt den Le­ser zum Nach­den­ken über den Men­schen, sei­ne Feh­ler und die con­di­tio hu­ma­na. Ab­so­lut lesenswert. ♦

Cees Noote­boom: Ab­schied (Ge­dicht aus der Zeit des Vi­rus), Zwei­spra­chi­ge Aus­ga­be Niederländisch/Deutsch, 88 Sei­ten, Suhr­kamp Ver­lag, ISBN 978-3-518-22522-6

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Ly­rik auch über Hel­mut Kraus­ser: Glut­nes­ter (Ge­dich­te)

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