Lina Fritschi: Ein anderer Traum / Un altro sogno (Gedichte)

Vom Umgang mit Verlust

von Stefan Walter

Lina Frit­schi (1919–2016) war eine der gros­sen ita­lie­ni­schen Dich­te­rin­nen des 20. Jahr­hun­derts. Nörd­lich der Al­pen blieb sie trotz ih­rer Schwei­zer Ab­stam­mung prak­tisch un­be­ach­tet. Dies dürf­te sich mit dem vor­lie­gen­den zwei­spra­chi­gen Band „Ein an­de­rer Traum / Un alt­ro so­g­no“ ändern.

66 Ge­dich­te hat der Über­set­zer Chris­toph Fer­ber aus Lina Frit­schis um­fang­rei­chem Werk aus­ge­wählt, die Mehr­zahl da­von aus ih­rem Schwa­nen­ge­sang „Poe­sie estre­me“, im Jahr 2000 er­schie­nen. Jede Dop­pel­sei­te ent­hält kon­se­quent links den ita­lie­ni­schen Ori­gi­nal­text, rechts die deut­sche Über­set­zung. An der ge­sam­ten Ge­stal­tung gibt es nichts zu bemängeln.

Der entgleitende Hintergrund

Das gros­se The­ma der Samm­lung ist der Um­gang mit Ver­lust, ins­be­son­de­re dem frü­hen Tod ih­res Ehe­man­nes. Im Traum be­geg­net sie ihm im­mer wie­der, ob in „Auch nach dem Tod“:

Auch nach dem Tod,
hab ich ge­fragt. Auch nach dem Tod,
hat er ge­ant­wor­tet – und gelächelt

… im ti­tel­ge­ben­den „Ein an­de­rer Traum“:

Im­mer verschwinden
sie alle (…)
Wenn ich mich
an sei­ne Schul­ter leh­ne und fra­ge, wo denn die an­de­ren seien,
ant­wor­tet er, ich weiss nicht, das war ein an­de­rer Traum.

… oder in den Be­trach­tun­gen zum Tavoliere:

Im­mer, je­des Jahr zu Weih­nach­ten, kehrt die­se Reise
zu­rück. Und wir drei, der Zeit
und dem Tod ent­ho­ben, spie­len un­se­re Rolle
vor dem uns ent­glei­ten­den Hintergrund.

Lina Frit­schi schafft es, sich und den Le­ser da­von zu über­zeu­gen, dass sie in die­sen Mo­men­ten glück­lich ist.

Doch nicht jede Er­in­ne­rung en­det so gut:

Doch war es Som­mer? Ich weiss es nicht mehr,
denn so­gleich ist wie ein Fal­ke der Winter
auf mich ge­stürzt und hat un­ter Eis mich begraben

… heisst es in „Win­ter“. Und erst die Evi­denz des Sar­ges lässt Frit­schi den Tod ih­res Gat­ten über­haupt zur Kennt­nis nehmen:

Ich konn­te dem Te­le­gramm nicht glauben,
ein Irr­tum, sag­te ich zum Soldaten,
(…) tut mir leid, gnä­di­ge Frau, die Beerdigung
fin­det in Lec­ce statt.

Auch der Va­ter stirbt in ei­nem Ge­dicht, eine Freun­din, eine Kat­ze, der Som­mer. Und als frü­hes­te Kind­heits­er­in­ne­rung ein jun­ger On­kel, um­rahmt – die viel­leicht ein­zi­ge hu­mo­ris­ti­sche Sze­ne der Samm­lung – von sei­nen bei­den Verlobten.

Selbstreflexive Poesie

Ih­ren ei­ge­nen Tod spürt Lina Frit­schi in zahl­rei­chen Ge­dich­ten nä­her­kom­men, so etwa in Abschied:

Ich ver­ab­schie­de mich von den Versen,
viel­leicht auch vom Leben.

… oder in „Na­her Tod“:

Man sagt, im Alter,
wenn der Wunsch nach Liebe
zu­rück­keh­re, sei dies ein Zei­chen des na­hen Todes.

Teil­wei­se wünscht sie den Tod auch her­bei (in „Ge­bet“):

Wüss­te ich nur
zu wel­chem Gott beten,
dass die Zeit, die mir bleibt,
ei­ligst vergehe.

Blind in der Toskana

An­zei­ge

Als Grund da­für fin­det sich im­mer wie­der ihre Blind­heit, die ihr of­fen­sicht­lich schwer zu schaf­fen ge­macht hat. Die­se war auch die Ur­sa­che da­für, dass sie ihre ge­lieb­te Hei­mat im Pie­mont ver­las­sen muss­te, um sich in der Tos­ka­na von der Toch­ter ver­sor­gen zu las­sen. Auch wenn das für uns deut­sche Tou­ris­ten nicht so weit klingt, liegt es im­mer­hin 400 km auseinander.

Ein et­was zwie­späl­ti­ges Ver­hält­nis hat Frit­schi zur Dicht­kunst. Mal be­zeich­net sie (in „Über­lebt“) die Poe­sie als

Hexe, Ge­fähr­tin und Fein­din. Auch jetzt noch
be­drängst du mich, jetzt,
wo ich alt bin.

… mal er­klärt sie:

Ich habe kei­ne Angst vor dem Wort,
ich lie­be es, ma­ni­pu­lie­re es, wäl­ze es um.

… und lässt sich vor­sorg­lich vom Pfar­rer be­schei­ni­gen, dass dies gott­ge­wollt sei („Noch ein Dialog“).

Lyrik-Sprache nahe an der Prosa

Die Spra­che ist klar, di­rekt, kon­zi­se, oft la­ko­nisch, oft nahe an der Pro­sa. Auf­fäl­lig ist die Häu­fung von re­la­ti­vie­ren­den Be­grif­fen wie „for­se“ („viel­leicht“) und „a vol­te“ („manch­mal“). Es gibt kei­ne Rei­me, kein durch­ge­hen­des Me­trum, noch nicht ein­mal Stro­phen. Die Vers-Auf­tei­lung ist nur ver­ein­zelt sinn­ge­bend. Es sind das durch­wegs klar her­vor­tre­ten­de ly­ri­sche Ich und sei­ne re­flek­tie­ren­de Be­schäf­ti­gung mit sei­ner ei­ge­nen Stel­lung in der Welt, die die Tex­te frag­los zu Ge­dich­ten machen.

Die Über­set­zung ist, so­weit ich das mit mei­nen be­schei­de­nen Ita­lie­nisch-Kennt­nis­sen be­ur­tei­len kann, ge­lun­gen. Na­tür­lich ist Über­set­zung im­mer auch Aus­le­gung, aber nur an ganz we­ni­gen Stel­len hat­te ich den Ein­druck, dass der Sinn des Ori­gi­nals – nach mei­nem na­tür­lich eben­so sub­jek­ti­ven Ver­ständ­nis – ver­fehlt wur­de, etwa wenn in Der En­gel „L’avvertimento è una spa­da nel cuo­re“ mit „Die War­nung ist: im Her­zen ein Schwert“ wie­der­ge­ge­ben wird an­statt mit „Die War­nung ist ein Schwert im Her­zen“. Doch das Schö­ne an zwei­spra­chi­gen Aus­ga­ben ist, dass man sich auch dazu eine ei­ge­ne Mei­nung bil­den kann.

Anregungen für den Umgang mit Krankheit und Einsamkeit

Gröss­ter Schwach­punkt des Bu­ches ist das Nach­wort, das sich ein biss­chen wie der über­lan­ge Ent­wurf für ei­nen Klap­pen­text liest, die dürf­ti­gen bio­gra­phi­schen und bi­blio­gra­phi­schen An­ga­ben, die man im deutsch­spra­chi­gen In­ter­net fin­det, we­nig lie­be­voll mit noch­ma­li­gem Ab­druck ei­ni­ger Ge­dich­te aus dem Buch auf ein paar Sei­ten aus­ge­dehnt. Aber na­tür­lich, das darf man so deut­lich sa­gen, ist das ein ech­tes Luxusproblem.
Wer An­re­gun­gen be­nö­tigt, wie man mit Ver­lust, Trau­er, Krank­heit, Ein­sam­keit oder Tod um­ge­hen kann – und wer be­nö­tigt die nicht? –, wird in die­sem Ge­dicht­band von Lina Frit­schi fün­dig. De­fi­ni­ti­ve Kaufempfehlung. ♦

Lina Frit­schi: Ein an­de­rer Traum / Un alt­ro so­g­no – Ge­dich­te Ita­lie­nisch und Deutsch, über­setzt von Chris­toph Fer­ber, 152 Sei­ten, Lim­mat-Ver­lag, ISBN 978-3-85791-896-4

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Mo­der­ne Ly­rik auch das „Ge­dicht des Ta­ges“ von Raoul Haus­mann: „Nichts“

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)Antwort abbrechen