Alexander Münninghoff: Hein Donner (Schach-Biographie)

Donnerhall im Reich der Schachliteratur

von Ralf Binnewirtz

Der hol­län­di­sche Gross­meis­ter Jan Hein Don­ner (1927-1988) wird bei der jun­gen Ge­ne­ra­ti­on weit­ge­hend in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten sein, zu­mal er auf der Schach­büh­ne nicht in die obers­ten Rän­ge ge­lan­gen konn­te. Und aus­ser­halb der nie­der­län­di­schen Schach­li­te­ra­tur sind nur we­ni­ge bio­gra­fi­sche De­tails über ihn ver­brei­tet wor­den. Der Ende April ver­stor­be­ne Au­tor Alex­an­der Mün­ning­hoff hat dem non­kon­for­mis­ti­schen Schach-Gross­meis­ter und -Au­tor ein be­mer­kens­wer­tes li­te­ra­ri­sches Denk­mal ge­setzt, das nun auch in Eng­lisch er­schie­nen ist.

Jo­han­nes Hen­dri­kus (Hein) Don­ner war si­cher­lich die schil­lernds­te Fi­gur in der Ge­schich­te des nie­der­län­di­schen Schachs – je­den­falls auf GM-Ni­veau. Als Spross ei­ner pro­mi­nen­ten, streng cal­vi­nis­ti­schen Fa­mi­lie in Den Haag – sein Va­ter Jan Don­ner brach­te es zum Jus­tiz­mi­nis­ter der Nie­der­lan­de – soll­te Hein als Ein­zi­ger des sechs­köp­fi­gen Don­ner-Nach­wuch­ses aus der Art schla­gen: Er hat­te zwar halb­her­zig ei­ni­ge Se­mes­ter Jura ab­sol­viert, ent­schloss sich dann aber – sehr zum Leid­we­sen sei­nes Va­ters – zu ei­ner kei­nes­wegs ri­si­ko­frei­en Pro­fi­lauf­bahn im Schach. Ein weit­ge­hend un­ge­bun­de­nes, bo­he­mi­en­haf­tes Le­ben in der Schach­welt ent­sprach sei­nem Na­tu­rell of­fen­bar weit­aus mehr als eine kon­ven­tio­nel­le Lauf­bahn im Establishment.

Mal top, mal flop

Scharf­zün­gig, faul, wit­zig, po­le­misch, ge­ni­al: Jo­han­nes Hen­dri­kus (Hein) Don­ner (1927-1988) (H.van Dijk)

Hein Don­ner (GM-Ti­tel 1959) war ein weit über­durch­schnitt­li­ches Ta­lent, um nicht zu sa­gen Ge­nie in die Wie­ge ge­legt, aber zu­min­dest als Schach­spie­ler hat er den in ihn ge­setz­ten Er­war­tun­gen nicht recht ent­spro­chen. Sei­ne Faul­heit, ge­paart mit ei­nem Man­gel an Dis­zi­plin und Ehr­geiz (er ver­folg­te nicht die Neue­run­gen in der Er­öff­nungs­theo­rie, be­rei­te­te sich auf Tur­nie­re in der Re­gel nicht vor und gab sich mit dem Er­reich­ten zu­frie­den), zei­tig­ten ein stän­di­ges Auf und Ab in den Tur­nier­re­sul­ta­ten und ver­hin­der­ten den Auf­stieg in die höchs­ten Sphä­ren, wo­bei ihm auch noch eine aus­ge­präg­te Rus­sen­pho­bie im Wege stand.
Im Ge­dächt­nis der Nach­welt ist Don­ner vor al­lem als Ver­lie­rer zahl­rei­cher Kurz­par­tien ver­blie­ben, die ihn im Kreis sei­ner in­ter­na­tio­na­len GM-Kol­le­gen zum Ge­spött mach­ten als „un­um­strit­te­nen Trä­ger der Nar­ren­kap­pe“ 1). Gleich­wohl war er in der Zeit­span­ne zwi­schen Max Euwe und Jan Tim­man der stärks­te nie­der­län­di­sche Schachspieler.

Zur Eh­ren­ret­tung Don­ners sei hier eine sei­ner re­spek­ta­blen Ge­winn­par­tien präsentiert:

Sie müs­sen Ja­va­Script ak­ti­vie­ren, um die No­ta­ti­on zu verbessern. 

In sei­ner Spiel­lei­den­schaft hat sich Don­ner auch in un­zäh­li­gen an­de­ren Spie­len (u.a. Bridge) ver­sucht, le­dig­lich vom Da­me­spiel hat er sich ver­ächt­lich abgewandt.

Unterwegs im Amsterdamer Szene-Viertel

An­zei­ge

Ei­nen gros­sen Teil sei­ner Frei­zeit ver­brach­te Don­ner in der Ams­ter­da­mer Sze­ne („The Ring Of Ca­nals“) bzw. im eli­tä­ren Künst­ler-Zir­kel „De Kring“, den er ge­mein­hin abends und nachts auf­such­te, da er erst am spä­ten Nach­mit­tag aus dem Bett zu stei­gen pfleg­te. Dort traf er auf die lo­ka­le In­tel­li­gen­zia, mit der er sich in un­er­müd­li­chen Dis­kus­sio­nen mes­sen oder aber den Clown spie­len konn­te. Don­ner, der sich schon früh zu ei­nem no­to­ri­schen „con­tra­ri­an“ ent­wi­ckel­te hat­te, also grund­sätz­lich die ge­gen­tei­li­ge Mei­nung sei­nes Ge­gen­übers ein­nahm, war nicht nur kör­per­lich (mit knapp 2 m Grös­se), son­dern auch in­tel­lek­tu­ell ein Rie­se. Aus­ge­stat­tet mit ei­nem mes­ser­schar­fen Ver­stand, mit enor­mer Elo­quenz und sar­do­ni­schem Witz, war er prak­tisch je­dem Geg­ner ver­bal ge­wach­sen, wenn nicht über­le­gen. Und soll­te ein Dis­put zu ei­nem Faust­kampf es­ka­lie­ren, was ge­le­gent­lich vor­kam, so be­sass Don­ner auch hier auf­grund sei­ner Obe­lix-ar­ti­gen Sta­tur Vor­tei­le. Es darf da­her nicht wun­dern, wenn die Zahl sei­ner Freun­de über­schau­bar blieb. Sei­ne le­gen­dä­re Dau­er­feh­de mit Lo­de­wi­jk Prins (Eh­ren-GM 1982) soll hier nur er­wähnt sein.

In der Romanliteratur verewigt

Ver­ewig­te sei­nen Freund Don­ner in der Fi­gur des Onno Quist: Schrift­stel­ler Har­ry Mulisch

Eine tie­fe Freund­schaft ver­band Don­ner mit dem Schrift­stel­ler Har­ry Mu­lisch, dem Don­ner li­te­ra­risch nach­zu­ei­fern such­te – nicht im­mer zum Vor­teil sei­ner Tur­nier-Per­for­mance (sie­he z.B. San­ta Mo­ni­ca 1966). In sei­nem Ro­man „Die Ent­de­ckung des Him­mels“ (1992) hat Mu­lisch sei­nen Freund post­hum in der Fi­gur des Onno Quist ver­ewigt. In die­sem Kon­text ist auch das auf­schluss­rei­che In­ter­view zu er­wäh­nen, das Dirk Jan ten Geu­zen­dam mit Har­ry Mu­lisch ge­führt hat (Kap. 11 – Har­ry Mulisch’s Heinweh).

Weit­aus er­folg­rei­cher als am Tur­nier­brett war Don­ner als Schach­schrift­stel­ler, hier konn­te er sei­ne Lust an der Po­le­mik und Pro­vo­ka­ti­on glei­cher­mas­sen aus­le­ben. Aber un­ter sei­nen zahl­lo­sen, in über drei Jahr­zehn­ten in di­ver­sen hol­län­di­schen Zei­tun­gen pu­bli­zier­ten Ar­ti­keln fin­den sich auch man­che se­riö­sen Bei­trä­ge. Eine Se­lek­ti­on sei­ner bes­ten Ar­ti­kel ist als An­tho­lo­gie er­schie­nen: „The King – Ch­ess Pie­ces“ steht in der Gunst der in­ter­na­tio­na­len Le­ser­schaft bis heu­te ganz oben. [Re­zen­si­on von Tay­lor King­s­ton]

Kreativität auch im Rollstuhl

An­zei­ge

Nach ei­nem Schlag­an­fall im Au­gust 1983, der Don­ner für die letz­ten Le­bens­jah­re in ein Pfle­ge­heim ver­bann­te, blieb ihm, an den Roll­stuhl ge­fes­selt, nur das Schrei­ben als ein­zi­ge krea­ti­ve Be­schäf­ti­gung. Mit ei­nem Fin­ger auf der Schreib­ma­schi­ne ver­fass­te er mi­ni­ma­lis­ti­sche Bei­trä­ge: Für „Na mijn dood ge­schre­ven“ [Nach mei­nem Tod ge­schrie­ben] wur­de ihm 1987 der höchst an­ge­se­he­ne Hen­riët­te-Ro­land-Holst-Preis ver­lie­hen. Auch die öf­fent­li­che Erst­prä­sen­ta­ti­on von De Ko­ning: Scha­akst­uk­ken konn­te er noch (in ei­nem mi­se­ra­blen Zu­stand) er­le­ben. Er hat sein Schick­sal klag­los hin­ge­nom­men. Eine im No­vem­ber 1988 un­ver­se­hens ein­ge­tre­te­ne Ma­gen­blu­tung be­deu­te­te den end­gül­ti­gen Exitus.

Donners Frauen – ein wechselhaftes Glück

Don­ner lern­te sei­ne ers­te Freun­din Olga Blaauw im Früh­ling 1949 ken­nen, sie leb­ten gut sechs Jah­re ohne Trau­schein zu­sam­men. Die Tren­nung wur­de un­er­war­tet aus­ge­löst durch ei­nen Hei­rats­an­trag Don­ners (nach des­sen Rück­kehr von Gö­te­borg 1955), der die Lei­den­schaft in­stantan er­lö­schen liess.

Don­ners zwei­te Frau und spä­te­re Stadt­rä­tin von Ams­ter­dam: Irè­ne van de Weete­ring (Wi­ki­pe­dia)

Die zwei­te er­wäh­nens­wer­te Dame, die in Don­ners Le­ben trat, war Irè­ne van de Weete­ring, im Jah­re 1958 noch „eine 18-jäh­ri­ge Nym­phe“. Als sich Ende 1959 Nach­wuchs an­kün­dig­te, war die ei­gent­lich un­er­wünsch­te Hei­rat nach cal­vi­nis­ti­schem Re­gle­ment un­ver­meid­lich. Das zwei­te Kind kam An­fang 1962. Wäh­rend Don­ner sei­nen Nach­wuchs (Sohn und Toch­ter) ab­göt­tisch lieb­te, war das Ver­hält­nis zu sei­ner Ehe­frau deut­lich küh­ler – schon bald nach der Trau­ung hat­te er eh ein pro­mis­kui­ti­ves Wan­der­le­ben be­gon­nen. Die ma­ro­de Li­ai­son ging schliess­lich voll­ends in die Brü­che, als sich Irè­ne 1966 der an­ar­chis­ti­schen Pro­vo-Be­we­gung an­schloss und Stadt­rä­tin in Ams­ter­dam wur­de (Schei­dung 1968).

Don­ners letz­te Frau war die An­wäl­tin Ma­ri­an Cou­te­ri­er, die er 1971 ehe­lich­te. Die Ver­bin­dung ver­lief von Be­ginn in har­mo­ni­schen Bah­nen, und Hein wan­del­te sich gar zum Fa­mi­li­en­mensch, eine Toch­ter kam 1974 zur Welt. Die Ehe währ­te bis zu Heins Tod.

Polarisierender Charakter mit Bohemien-Charme

Nicht je­der wird sich mit der Per­sön­lich­keit ei­nes Hein Don­ner iden­ti­fi­zie­ren kön­nen, zu am­bi­va­lent sind hier­für die Ein­drü­cke, die man bei der Lek­tü­re ge­winnt. Don­ners zwang­haf­te Streit­sucht ins­be­son­de­re im trun­ke­nen Zu­stand, sein de­spek­tier­li­ches Ver­hal­ten ge­gen­über Meis­ter­kol­le­gen, sein Do­mi­nanz­ge­ha­be sind At­tri­bu­te ei­ner merk­li­chen Un­ge­niess­bar­keit. Hier­zu mö­gen auch noch sein meist schmud­de­li­ges Out­fit und eine nach­läs­si­ge kör­per­li­che Hy­gie­ne zäh­len. In­des ge­hör­te Don­ner zu ei­ner Spe­zi­es, die in der heu­ti­gen Schach­sze­ne­rie aus­ge­stor­ben ist: Ein ech­tes Ori­gi­nal mit Ecken und Kan­ten und ei­nem sehr spe­zi­fi­schen Hu­mor. Ein un­ab­hän­gi­ger Geist, der sich nicht um Kon­ven­tio­nen scher­te, der sein Le­ben leb­te, wie er es woll­te, auch wenn es (durch über­mäs­si­ges Rau­chen und Trin­ken) ge­sund­heit­lich be­denk­lich schien oder er sein so­zia­les Um­feld brüs­kier­te. Und schliess­lich war er ei­ner der bes­ten und un­ter­halt­sams­ten Schach­schrift­stel­ler al­ler Zeiten.

Kontroverse Persönlichkeit meisterhaft biografiert

Bio­graph ohne Be­schö­ni­gun­gen: Alex­an­der Münninghoff

Alex­an­der Mün­ning­hoff hat die­sen po­la­ri­sie­ren­den Cha­rak­ter vor­treff­lich be­schrie­ben, da­bei un­an­ge­mes­se­ne ha­gio­gra­fi­sche Be­schö­ni­gun­gen be­wusst ver­mie­den. Eine ge­wis­se Nach­sich­tig­keit des Au­tors ge­gen­über sei­nem bio­gra­fi­schen Ob­jekt ist zwar spür­bar, aber nicht gra­vie­rend. Die eng­li­sche Über­set­zung ist rund­um ge­lun­gen und – so­li­de Eng­lisch­kennt­nis­se vor­aus­ge­setzt – flüs­sig les­bar, zu­mal der Au­tor sei­ne Dar­stel­lung chro­no­lo­gisch an­ge­legt hat. Vor al­lem hat er die wich­tigs­te For­de­rung be­her­zigt, die ein gu­tes Buch er­fül­len muss: Es darf sei­ne Le­ser­schaft kei­nes­falls lang­wei­len! Da­her gebe ich eine klas­si­sche Emp­feh­lung wei­ter: „Lest die bes­ten Bü­cher zu­al­ler­erst; sonst kommt ihr über­haupt nicht dazu, sie zu le­sen.“ (Hen­ry Da­vid Thoreau)
Neun Sei­ten Bild­ta­feln (18 s/w-Fo­tos aus Don­ners Le­ben) und ein Ka­pi­tel mit 34 kom­men­tier­ten Don­ner-Par­tien (Recherche/Analysen von Maar­ten de Ze­euw) kom­plet­tie­ren das Werk. Feh­ler sind eher sel­ten, le­dig­lich die auf S. 128 mit Nr. 23 re­fe­ren­zier­te Par­tie ge­gen Kort­schnoi sucht man in der Par­tie­aus­wahl / Kap. 12 vergeblich. ♦

1) Die Run­de um die Welt mach­te die sen­sa­tio­nel­le Kurz­par­tie des Chi­ne­sen Liu Wenz­he ge­gen Don­ner, Olym­pia­de Bue­nos Ai­res 1978 (s. S. 265), die ers­te Par­tie, die ein Chi­ne­se ge­gen ei­nen west­li­chen GM ge­wann. Kom­men­tar Don­ner: „Now I will be the Kie­se­ritz­ky of China.”

Alex­an­der Mün­ning­hoff: Hein Don­ner – The Bio­gra­phy, 272 Sei­ten (engl.), New In Ch­ess, ISBN 978-90-5691-892-7

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schach-Bio­gra­phien auch über Cars­ten Hen­sel: Wla­di­mir Kram­nik – Aus dem Le­ben ei­nes Schachgenies

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