Roswitha Quadflieg und Burkhart Veigel: Frei (Roman)

Zwischen Sinnfrage und Obsession

von Isabelle Klein

Deutsch­land am 13. Au­gust 1961: Mau­er­bau und Schlies­sung der Gren­ze. Die Er­eig­nis­se über­schla­gen sich: Die NVA steht in Ost­ber­lin, das Pots­da­mer Ab­kom­men ist ge­bro­chen, die So­wjet­zo­ne mu­tiert zum KZ. Ja­nus Em­mer­an, Me­di­zin­stu­dent aus Tü­bin­gen und Prot­ago­nist des Ro­ma­nes „Frei“ von Ros­wi­tha Quad­flieg und Burk­hart Ve­igel, hört die­se Nach­rich­ten fas­sungs­los wäh­rend sei­ner Se­mes­ter­fe­ri­en in West­ber­lin. Er geht neu­gie­rig, ob dies mög­lich wäre, un­ge­hin­dert in den Os­ten und wie­der zu­rück. Es reift ein Plan in dem jun­gen am­bi­tio­nier­ten Mann: Men­schen aus dem Os­ten, wie bei­spiels­wei­se sei­nem Stu­di­en­kol­le­gen Po­spiech, zur Frei­heit zu verhelfen.

Zu Be­ginn sei­ner Flucht­hel­fer­kar­rie­re ist al­les ganz easy. Man ver­wen­det Päs­se von West­deut­schen, schmug­gelt sie über die Gren­ze – pro­blem­los ist man aus Ost­ber­lin in die Frei­heit ge­langt. Die Pass-Tour wur­de ge­bo­ren, Ja­nus in sei­nem Hö­hen­flug be­flü­gelt. Ein stu­den­ti­sches Netz­werk zur Flucht­hil­fe ent­steht, und Ja­nus wird zu ei­nem ih­rer ge­ni­als­ten Köp­fe, der zwi­schen 1961 bis 1968 über 600 Men­schen zur Flucht ver­hilft. Ef­fek­ti­ver Kopf und Staats­feind Num­mer Eins der Bau­ern­re­pu­blik, der raf­fi­niert wei­te­re Wege in die Frei­heit er­sinnt, in Form der aus­ge­klü­gel­ten Ca­dil­lac- und Fran­zo­sen-Tour. Ge­ra­de letz­te­re be­rei­tet für zahl­lo­se DDR-Bür­ger den Weg in den Westen.

Extrem spannender Beziehungsreigen

Zeit­sprung: Ber­lin 2016. Nach ei­nem ge­ruh­sa­men Le­ben, das nicht mehr viel mit der auf­re­gen­den stu­den­ti­schen Flucht­hel­fer­zeit ge­mein hat – or­tho­pä­di­sche Pra­xis im be­schau­li­chen Schwa­ben­länd­le, zu­vor In­ter­mez­zo in den USA, Kind, Ke­gel und Fa­mi­lie (im­mer­hin vier Töch­ter) – möch­te es der jung­ge­blie­be­ne 68er, im­mer­hin sei­nen 80 nahe, noch mal wis­sen. Ge­schie­den, al­lein­ste­hend, mit ei­nem recht be­weg­ten Be­zie­hungs­rei­gen in der kur­zen Zeit nach der Tren­nung, ant­wor­tet er auf die An­non­ce ei­ner we­sent­lich jün­ge­ren Frau, die – jetzt kommt es zu ei­nem sehr ge­schick­ten Kunst­griff des Au­toren­paa­res Quadflieg/Veigel) – aus dem Os­ten der Re­pu­blik stammt…
Und so wird der Le­ser mit­ten in ei­nen ex­tra­or­di­nä­ren, ex­trem span­nend zu le­sen­den Be­zie­hungs­rei­gen hin­ein­ge­zo­gen, der die Brü­cke zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart schlägt, und in dem ei­nes ganz schnell klar wird: Ja­nus (der Name ist Pro­gramm, denn der eine Ab­schnitt sei­nes Le­bens scheint zum an­de­ren nicht zu pas­sen, so­wohl in Ver­gan­gen­heit als auch der Ge­gen­wart) hat auch nach vie­len ge­ruh­sa­men Jah­ren sein Frei­heits-Gen nicht ab­ge­legt. Er brennt noch im­mer für die Frei­heit, wäh­rend die rund 30 Jah­re jün­ge­re Co­let­te, die ei­nen Ver­lag lei­tet und zwei Kin­der in den 20ern hat, sich ganz auf die Paar­be­zie­hung be­schrän­ken will.

Kampf gegen das Mittelmass

Tag­hell be­leuch­tet, es wird scharf ge­schos­sen: Teil des be­rüch­tig­ten „To­des­strei­fens“ an der Ber­li­ner Mau­er 1961

Wer Frei­heit nicht kennt, ver­misst sie auch nicht, so in etwa Co­let­tes Ein­stel­lung zum The­ma Mei­nungs­frei­heit und Frei­heit der Per­son. So kann sie in den heis­sen Au­gust-Som­mer­ta­gen nicht nach­voll­zie­hen, dass Ja­nus, von sei­nem al­ten Flucht­hel­fer­kum­pel Har­ry um Hil­fe ge­be­ten, ei­ner jun­gen Frau mit Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund eine Chan­ce auf ein selbst­be­stimm­tes Le­ben ohne Angst und Re­pres­sa­li­en er­mög­li­chen will. Und da­für eben die trau­te, lei­den­schaft­li­che Zwei­sam­keit von Ber­lin in das Schwei­zer Berg­pan­ora­ma ver­le­gen will.
Ja­nus, ak­tu­ell mit der Auf­ar­bei­tung sei­ner Sta­si-Ak­ten be­schäf­tigt, sucht im­mer noch nach Mög­lich­kei­ten, an­de­ren die Frei­heit zu er­mög­li­chen, ist al­ler­dings in­zwi­schen zu alt für ak­ti­ve Flücht­lings­hil­fe. Anisa und das be­schau­li­che, ver­meint­lich ro­man­ti­sche Al­pen­idyll wer­den zur Be­wäh­rungs­pro­be für die jun­ge, bis dato pro­blem­los zu stem­men­de Lie­bes­be­zie­hung die­ser bei­den so un­ter­schied­li­chen Men­schen, die ei­nes ver­bin­det: „Den Kampf ge­gen das Mit­tel­mass“ (Sei­te 147) und die Su­che nach er­füll­ter Liebe.

Ei­ner der fin­digs­ten DDR-Flucht­hel­fer: Burk­hart Ve­igel (Geb. 1938 in Eisfeld/D)

Je­doch: Frei nach „Je­dem An­fang wohnt ein Zau­ber inne“ stellt ge­ra­de die­se Ak­ti­on die auf­kei­men­de gros­se Lie­be vor eine gros­se Fra­ge: Kann die So­zia­li­sa­ti­on in zwei kon­trä­ren po­li­ti­schen Sys­te­men, zu völ­lig un­ter­schied­li­chen Zei­ten und Aus­gangs­be­din­gun­gen ge­lin­gen? Wach­sen sich zu­nächst net­te Kab­be­lei­en und spit­ze Sti­che­lei­en zur aus­ge­wach­se­nen Sys­tem­kri­tik aus – z.B durch Co­let­tes kri­ti­sche Äus­se­run­gen über die USA und den Ka­pi­ta­lis­mus zu Ende des Bu­ches – und wird die Frei­heit zum hand­fes­ten Hin­der­nis, das ei­ner ge­mein­sa­men Zu­kunft entgegensteht?

Unterschiedliche Bedeutung von Freiheit

Die Schrift­stel­le­rin Ros­wi­tha Quad­flieg (Geb. 1949 in Zürich/CH)

Äus­serst ge­schickt er­zäh­len Quad­flieg und Ve­igel die­se Ge­schich­te, die la­pi­dar, doch eben­so ge­wich­tig „Frei“ heisst. Sie schla­gen wie im lo­cke­ren und leich­ten Flug Brü­cken zwi­schen hier und jetzt, zwi­schen Ver­gan­gen­heit und ver­heis­sungs­vol­ler Zu­kunft, die wie­der­um zart wie der Flü­gel­schlag ei­nes Schmet­ter­lings mit dem Wind ver­we­hen mag. Burk­hart Ve­igel er­fin­det eine Lie­bes­ge­schich­te, ver­webt mit Ros­wi­tha Quad­flieg äus­serst raf­fi­niert Fak­ten aus sei­ner Ver­gan­gen­heit mit Fik­ti­on. So sind Ja­nus und Ve­igel in vie­lem ei­nes und doch ganz an­ders. Ve­igel er­schafft mit Ja­nus Em­mer­an eine le­ben­di­ge, vi­ri­le und sehr viel­schich­ti­ge Per­sön­lich­keit, die eben nicht ein­fach ein­zu­ord­nen ist, zwei Ge­sich­ter hat und ein ei­ge­nes Al­ter Ego. Mit der gros­sen Lie­bes­ge­schich­te am Le­bens­abend ge­lingt es ih­nen mü­he­los und höchst ef­fek­tiv, die un­ter­schied­li­che Be­deu­tung der Frei­heit im Le­ben zwi­schen Ost und West zu the­ma­ti­sie­ren und span­nungs­ge­la­den das Glück – man fie­bert wirk­lich mit – sei­nen Lauf neh­men zu lassen.

Ein Buch mit Mehrwert

FAZIT: Der Ro­man „Frei“ von Ros­wi­tha Quad­flieg & Burk­hart Ve­igel ist ein wun­der­ba­res Buch, dem es mü­he­los ge­lingt, den Le­ser in sei­nen Bann zu zie­hen. Ei­nen Bann um Ja­nus Em­mer­an und des­sen Frei­heits­kampf, so­wohl im heis­sen Som­mer 2016 und na­tür­lich im Ber­lin der 1960er Jah­re. Ein Buch mit Mehr­wert, aus dem der Le­ser je nach Jahr­gang ganz Un­ter­schied­li­ches schöp­fen mag.

Der Ro­man „Frei“ von Ros­wi­tha Quad­flieg & Burk­hart Ve­igel ist ein wun­der­ba­res Buch, dem es mü­he­los ge­lingt, den Le­ser in sei­nen Bann zu zie­hen. Ei­nen Bann um Ja­nus Em­mer­an und des­sen Frei­heits­kampf, so­wohl im heis­sen Som­mer 2016 und na­tür­lich im Ber­lin der 1960er Jah­re. Ein Buch mit Mehr­wert, aus dem der Le­ser je nach Jahr­gang ganz Un­ter­schied­li­ches schöp­fen mag. So kann es (wie für Burk­hart Ve­igel) zu­gleich Auf­ar­bei­tung und Be­wäl­ti­gung sein, für mich (Jahr­gang 75) ist es die erst­ma­li­ge in­ten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung und haut­na­he Be­geg­nung mit der Ge­schich­te der deutsch-deut­schen Flucht­hil­fe. „Frei“ ist zu­gleich aber auch ein Denk­an­stoss, dass es mehr sol­cher aus­ser­ge­wöhn­li­chen Men­schen und sol­cher En­ga­ge­ments wie Vei­gels be­darf, um Frei­heit auch für jene ver­wirk­li­chen zu kön­nen, die sie im Jah­re 2018 nicht als selbst­ver­ständ­lich zu er­fah­ren vermögen. ♦

Ros­wi­tha Quad­flieg, Burk­hart Ve­igel: Frei – Ro­man, Eu­ro­pa Ver­lag, 338 Sei­ten, ISBN 98739589018

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