Klaas Huizing: Zu dritt – Karl Barth (Roman-Biographie)

Die Übermacht der Libido

von Hei­ner Brückner

Der Schwei­zer evan­ge­lisch-re­for­mier­te Theo­lo­ge Karl Barth (1886 bis 1968) gilt für die evan­ge­li­schen Kir­chen eu­ro­pa­weit auf­grund sei­nes Ge­samt­werks, Rö­mer­brief­kom­men­tar und 13 Bän­de Kirch­li­che Dog­ma­tik als „Kir­chen­va­ter des 20. Jahr­hun­derts“. Be­rühmt wur­de er vor al­lem we­gen sei­nes ve­he­men­ten Ein­sat­zes ge­gen das Hit­ler-Re­gime. Sein Pos­tu­lat: „Je­sus Chris­tus ist das eine Wort“ prägt das Bar­mer Be­kennt­nis von 1934 als theo­lo­gi­sches Fun­da­ment der Be­ken­nen­den Kir­che in der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Vor 50 Jah­ren am 10. De­zem­ber ist er ge­stor­ben. Re­for­mier­te und Lu­the­ra­ner wür­di­gen ihn 2019 mit ei­ner Rei­he von Veranstaltungen.

Der Würz­bur­ger sys­te­ma­ti­sche Theo­lo­ge Klaas Hui­zing (ge­bo­ren 1958) be­leuch­tet das geis­ti­ge Wir­ken Karl Barths in sei­nem Werk „Got­tes Ge­nos­se“. In ei­ner Art Bio­gra­fie des „Che Gue­va­ra der Pro­tes­tan­ten“, wie der Kreuz-Ver­lag die Ver­öf­fent­li­chung an­kün­digt, ver­schafft er ei­nen Zu­gang zu des­sen bis heu­te prä­gen­der Theo­lo­gie. So darf er nach in­ten­si­ver Re­cher­che als Ken­ner des Ge­samt­werks gel­ten. Die An­hän­ge mit den Le­bens­da­ten im Ro­man „Zu dritt“ sind ein Be­leg dafür.
Wie stark oder schwach der Mensch im gros­sen theo­lo­gi­schen Wis­sen­schaft­ler ge­we­sen ist, wo­her er sei­ne En­er­gie ge­schöpft hat, das ge­stal­tet Hui­zing in sei­nem gleich­zei­tig er­schei­nen­den neu­en Ro­man „Zu dritt“. Mit die­sem Kennt­nis­pols­ter und mit sei­ner Er­fah­rung als Ro­man­au­tor („Der Buch­trin­ker“; ein Je­sus-Ro­man „Mein Süss­kind“ u. a.) geht er das Drei­ecks­ver­hält­nis in Barths Fa­mi­lie an und lie­fert eine au­then­tisch wir­ken­de Le­bens­ge­schich­te von den Lei­den und Freuden/Wirren der aus­ser­ge­wöhn­li­chen Wohngemeinschaft.

Die Frauen hinter den Männern

Pro­fes­sor für Sys­te­ma­ti­sche Theo­lo­gie und Ro­man-Au­tor: Klaas Hui­zing

Dass hin­ter je­dem gros­sen Mann eine star­ke Kraft steht, die ihm Halt gibt, ist mitt­ler­wei­le eine Bin­sen­weis­heit. Häu­fig ist die Kraft eine Frau. Frau­en­quo­ten in der Po­li­tik, Frau­en­an­teil in der Wirt­schaft, Frau­en aufs Po­di­um? Die Ver­la­ge stel­len die­sen Aspekt neu­er­dings in ihre Pro­gram­me. Kei­ne Fra­ge, Rich­tig­stel­lung dient der Wahr­heits­fin­dung und führt zu Ge­rech­tig­keit. Und die His­to­rie weist eine Men­ge Grün­de und Bei­spie­le da­für aus. Ei­ni­ge da­von füh­re ich hier an:
Im be­rühm­tes­ten Brief­wech­sel des Mit­tel­al­ters er­fah­ren wir vom fran­zö­si­schen Scho­las­ti­ker Pe­trus Ab­ael­ard, der ab 1114 Haus­leh­rer der jun­gen Frau He­loi­se war. Als sie schwan­ger wur­de, liess ihn He­loi­ses On­kel und Vor­mund, der Sub­dia­kon Ful­bert von Not­re-Dame von Pa­ris, ent­man­nen. Sie hei­ra­te­ten heim­lich. He­loi­se zog sich in den Kon­vent Sain­te-Ma­rie von Ar­gen­teuil zu­rück, Ab­ael­ard ging als Mönch in die Ab­tei Saint-De­nis. Die zwei sa­hen sich nie wie­der, aber schrie­ben sich vie­le Briefe.

Frauenpower in Wissenschaft und Kultur

Der so­ge­nann­te Mönchs­va­ter Be­ne­dikt und sei­ne leib­li­che (Zwillings-)Schwester Scho­las­tika (480 bis 542): Gre­gor der Gros­se er­wähnt in ei­ner Vita, dass sie ih­ren Bru­der bei ei­nem ih­rer jähr­li­chen Dia­lo­ge durch in­stän­di­ges Ge­bet auf­hal­ten woll­te. Es habe dar­auf­hin ein so ge­wal­ti­ges Un­wet­ter ein­ge­setzt, dass Be­ne­dikt die Nacht über blei­ben muss­te. Gre­gors Kom­men­tar zu die­ser Epi­so­de: „Jene ver­moch­te mehr, weil sie mehr liebte.“
Pla­to­ni­scher Art soll das Ver­hält­nis zwi­schen dem gros­sen ka­tho­li­schen Je­sui­ten-Theo­lo­gen und Kon­zils­be­ra­ter Karl Rah­ner und der Dich­te­rin Lui­se Rin­ser ge­we­sen sein, wie sie in ih­rem Buch „Grat­wan­de­rung“ (1994) aus den Lie­bes­brie­fen („Wu­schel an Fisch“) aus­plau­dert. Da­ne­ben habe ihre Lie­be aber auch ei­nem Be­ne­dik­ti­ner­abt gegolten.
Selbst­ver­ständ­lich gibt es eben­so Ex­em­pel aus­ser­halb des kirch­li­chen Be­reichs. In der Ly­rik bei­spiels­wei­se: Die Muse Paul Cel­ans, Bri­git­ta Krei­de­stein, stell­te sich in ih­rem Be­richt in Brie­fen und Do­ku­men­ten „Cel­ans Krei­de­stein“ (2010) die Fra­ge, wie der gros­se Ly­ri­ker „die Gleich­zei­tig­keit sei­ner Bin­dun­gen an ver­schie­de­ne Frau­en oder sein Wer­ben um sie in sei­ner Ge­fühls­welt un­ter­brach­te …“ Man kann nicht von der Dich­tung auf die Au­toren­vi­ta schluss­fol­gern, nicht aus­schliess­lich. „Doch kann hier­aus nicht ge­fol­gert wer­den, dass zwi­schen dem Le­ben des Künst­lers und der Kunst un­be­dingt ein Miss­ver­hält­nis lie­gen müs­se“, zi­tiert sie Ro­man Ja­kobson aus ei­nem Auf­satz über rus­si­sche Dichter.
Frau­en­power in der Na­tur­wis­sen­schaft: In jüngs­ter Zeit sind mehr­fach Bio­gra­fien und Ro­ma­ne über Mi­le­va Ein­stein er­schie­nen und so­mit auch über ih­ren Mann Al­bert Ein­stein, der die bril­lan­te Phy­si­ke­rin für sei­ne wis­sen­schaft­li­che Ar­beit be­nutzt und dann fal­len­ge­las­sen habe.

Theologe mit zwei Frauen unter einem Dach

Be­deu­tends­ter re­for­mier­ter Theo­lo­ge des 20. Jahr­hun­derts und Bi­ga­mist: Karl Barth

Nun also auch Karl Barth. Bei ihm sind es zwei Frau­en ge­we­sen, die mit ihm Tür an Tür in ei­ner Woh­nung ge­lebt und ge­ar­bei­tet ha­ben. Va­ter, Sohn und Hei­li­ger Geist gel­ten in der Theo­lo­gie als gött­li­che Tri­ni­tät. Im Hau­se Barth herrsch­te 35 Jah­re lang eine Drei­heit, wenn auch kei­ne Drei­ei­nig­keit zwi­schen Karl, dem Mann, sei­ner Ehe­frau Nel­ly und der frü­he­ren Rot­kreuz­schwes­ter Char­lot­te von Kirsch­baum (Lol­lo), die er zu sei­ner Sekretärin/Assistentin er­wählt hat. Der Hin­ter­grund, die Ba­sis sol­cher Ar­beits­at­mo­sphä­ren wird im All­ge­mei­nen vom wis­sen­schaft­li­chen Ver­öf­fent­li­chungs-Out­put ver­drängt, ob­gleich sie höchst­wahr­schein­lich der Nähr­bo­den ge­we­sen ist. Char­lot­te hat­te in die­sem Fall die stär­ke­re Po­si­ti­on („Ich will Dein Du sein.“).
Das Ver­hält­nis war we­der üb­lich noch ge­setz­lich kor­rekt, es war auch nicht frei von Span­nun­gen (Lol­lo: „Ehe­frak­tur“). Frucht­bar ist die Dop­pel­lie­be in vie­ler­lei Hin­sicht ge­we­sen: fünf Kin­der (Karls „ge­sam­mel­te Wer­ke“), mensch­li­che (Doppel-)Liebe in grösst­mög­li­cher Of­fen­heit, in­ten­si­ve theo­lo­gi­sche Ar­beit, En­ga­ge­ment in Ge­sell­schaft und Po­li­tik. Ein be­weg­tes Le­ben ist es ge­we­sen: häu­fi­ge Um­zü­ge, Aus­lands­rei­sen, Be­kannt­schaf­ten, und ein be­we­gen­des Le­ben: po­li­ti­sche Wort­mel­dun­gen bis zur Aus­wei­sung aus Deutsch­land, Leh­re, Stan­dard­werk der Kirch­li­chen Dog­ma­tik; mensch­lich: zwei Frau­en, ihre spä­te­ren Krankheiten.
Nicht im­mer sei er den „Aus­brü­chen weib­li­cher Dia­lek­tik“ ge­wach­sen ge­we­sen. Aber er ge­stand sich ein, dass er das „Kar­ni­ckel“ war. Wie viel Po­ten­zi­al doch in den Frau­en­köp­fen ste­cke, staun­te Karl Barth über sei­ne Se­kre­tä­rin, Ge­lieb­te (Lol­lö­chen“) und zwei­te Le­bens­ge­fähr­tin, als ken­ne er die Zehn Ge­bo­te nicht, wenn er nach Mat­thä­us 5,28 wie­der­holt sei­ne Ehe bricht. Er mach­te ihr ein „arm­di­ckes Kom­pli­ment“ und för­der­te ihr „gott­ge­schenk­tes“ Ta­lent in je­der Hin­sicht. Lol­lo war elek­tri­fi­ziert von ihm, nu­schel­te ihm aber auch „Dop­pel­herz“ zu. Und auch der eine oder an­de­re Le­ser wird die Lek­tü­re der Of­fen­le­gung ei­ner fa­mi­liä­ren Pas­si­ons­tra­gö­die in ei­nem christ­li­chen Haus pi­kan­ter be­trach­ten als die Ou­tings von Pfarr­haus­häl­te­rin­nen über das Ver­hält­nis zu ih­rem zö­li­ba­t­ä­ren ka­tho­li­schen Pfarrherrn.

Keine moralischen Wertungen

„Knis­tern­de Ero­tik im Pfarr­haus“: Barth-Ge­lieb­te Char­lot­te von Kirschbaum

Hui­zing be­wer­tet die Drei­er-Sym­bio­se nicht, wer­tet also we­der ab noch auf. Er po­la­ri­siert zwei un­ter­schied­li­che Frau­en-Cha­rak­te­re, wohl aus dra­ma­tur­gi­schen Grün­den. Hier die for­dern­de, selbst­be­wuss­te, trei­ben­de Star­ke und In­tel­lek­tu­el­le mit dem Lol­lo-To­sen, die den Pro­fes­sor ganz ha­ben will. Ihre Lie­bes­sehn­sucht hat ge­nau­so star­ke kör­per­li­che Zieh­kraft wie die sinn­li­che. Dort die zwar ge­bil­de­te, aber lie­ber im Schwy­zer Deutsch schwät­zen­de Nel­ly, die Frau sei­ner Kin­der, die Haus­frau und Mut­ter. Aus dem­sel­ben Grund weicht der Au­tor auch ge­le­gent­lich von der stren­gen Chro­no­lo­gie ab. Er fühlt sich ein und drückt aus, als sei er ein wach­sa­mes Vi­deo­au­ge, das Au­then­ti­sches fest­ge­hal­ten hat. Sein Stil ist fein­füh­lend, mit­reis­send, spart aber knis­tern­de Ero­tik beim Schil­dern der se­xu­el­len Be­geg­nun­gen zwi­schen Lol­lo und Karl nicht aus.
Er zeigt die gross­mü­ti­ge Ge­dulds- und To­le­ranz­schwel­le von Nel­ly, der Frau, die Barth 1913 in Bern ge­hei­ra­tet hat­te. Sie gip­fel­ten in der Zu­stim­mung, dass die Ge­lieb­te Lol­lo im Fa­mi­li­en­grab auf dem Bas­ler Fried­hof bei­gesetzt wer­den kann. Sie selbst starb als Letz­te der drei 1976. Er be­tont aber auch die wis­sen­schaft­li­che Ar­beits­leis­tung ih­rer Ge­gen­spie­le­rin. Hui­zings Ro­man ver­schafft Durch­blick, ab­wä­gen­de Aus­ge­gli­chen­heit, wür­digt nicht nur den le­xi­ka­li­schen Na­men ei­ner Be­rühmt­heit, son­dern auch die auf­bau­en­de Zu- und Mit­ar­beit der Frau­en an der Sei­te des „Va­ters“ der Be­ken­nen­den Kir­che, der ger­ne für „14 Tage Papst sein“ woll­te. Und er re­la­ti­viert ein glo­ri­fi­zie­ren­des Bild, das die mensch­li­che Na­tur un­ter­schla­gen möchte.
Im Epi­log lässt der Au­tor vier Barth-Kin­der in heu­ti­gen State­ments über das Drei­ecks­ver­hält­nis ih­res Va­ters mit „Tan­te“ Lol­lo zu Wort kom­men. Sie be­ant­wor­ten qua­si aus in­ter­ner Aus­sen­sicht ei­ni­ge of­fe­ne Leserfragen.

Unverbrauchter Roman-Stil mit Spannung

Fa­zit: In sei­nem Ro­man „Zu dritt“ schil­dert Theo­lo­gie Klaas Hui­zing der an­hand ei­ner Fül­le von Brief­wech­seln do­ku­men­tier­ten Le­bens­da­ten die bio­gra­fi­sche, all­zu mensch­li­che, von hef­ti­ger Li­bi­do ge­steu­er­te Sei­te des Theo­lo­gen Karl Barth. Über­wie­gend aus der Sicht der bei­den Frau­en und ih­rer auf­wüh­len­den Ge­fühls­wal­lun­gen im Meer aus Freud und Leid, Lie­be und Neid. Die­ser Ro­man ist le­sens­wert we­gen sei­ner his­to­ri­schen, so­zio­kul­tu­rel­len und psy­cho­so­zia­len Komponenten.

Die kur­zen Per­spek­ti­ven­wech­sel lo­ckern auf. Sie er­zeu­gen im­mense Span­nung, auch mit kon­zen­trier­ten mehr­deu­ti­gen Wör­ter­aus­le­gun­gen oder -an­spie­lun­gen. Er er­zählt als Ro­man­cier mit un­ver­brauch­ten Ver­ben und poe­ti­schen For­mu­lie­run­gen („Sie spür­te so­fort die Mus­keln des Tex­tes, …“) ein we­nig be­kann­tes fa­mi­liä­res Dra­ma. Der Le­ser darf of­fen in alle Rich­tun­gen Schlüs­se zie­hen, Wi­der­sprü­che er­ken­nen und nach Er­klä­run­gen for­schen. Bei ge­nau­em Hin­se­hen ist auch die Sub­ti­li­tät der li­te­ra­ri­schen Kon­struk­ti­on Hui­zings aus­zu­ma­chen: Was Karl Barth in sei­nem Rö­mer­brief Kom­men­tar als Er­kennt­nis nie­der­ge­schrie­ben hat, ist aus sei­nem ei­ge­nen Er­le­ben ge­nom­men. Lie­be sei exis­ten­ti­el­les Vor-Gott-Ste­hen, das be­grün­de die In­di­vi­dua­ti­on: „Wenn man Gott und Welt ver­tauscht, …, dann wer­de das gan­ze Le­ben Ero­tik ohne Gren­ze!“ Das Cha­os zer­fal­le dann und es wer­de al­les mög­lich, al­les. 1956 er­schien von Karl Barth „Die Mensch­lich­keit Gottes“. ♦

Klaas Hui­zing: Zu dritt – Karl Barth, Nel­ly Barth, Char­lot­te von Kirsch­baum (Ro­man), 400 Sei­ten, Klöp­fer & Mey­er Ver­lag, ISBN 978-3-86351-475-4

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Kul­tur­ge­schich­te auch über
Ge­org Ca­vallar: Ge­schei­ter­te Aufklärung?

… so­wie zum The­ma Re­li­gi­on in der Ru­brik „Heu­te vor…“ über
Jo­seph Haydn: Die Schöpfung

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)Antwort abbrechen