Musik-Zitat der Woche von Urs Frauchiger

Über das Konzert-Publikum

Urs Frauchiger

[…] Als der Teu­fel sah, dass ein­zel­ne Ge­schöp­fe sich im­mer herr­li­cher ent­fal­te­ten und – zu­mal auf dem Ge­biet der Kunst – im­mer über­wäl­ti­gen­der für Got­tes Güte und Grös­se zeug­ten, er­fand er das Pu­bli­kum. Ein ge­nia­ler Wurf, das muss man ihm las­sen, denn wie an­ders hät­te man z.B. Mo­zarts un­fass­ba­ren Geis­tes­flug auf ei­nen Schlag in die Nie­de­run­gen der Ba­na­li­tät und des Miefs zu­rück­ho­len kön­nen, als in­dem man sei­ne gros­sen In­ter­pre­ten in ei­nen lä­cher­li­chen schwar­zen An­zug mit zwei Flü­geln zwängt, sie wie dres­sier­te Pin­gui­ne im ver­dun­kel­ten Saal auf ein be­leuch­te­tes er­höh­tes Holz­ge­stell wat­scheln lässt, sie zwingt, sich steif zu ver­beu­gen und dann ge­mäss vor­ge­druck­tem Pro­gramm pünkt­lich zur fest­ge­setz­ten Stun­de ihr Vers­lein auf­zu­sa­gen, sich wie­der steif zu ver­beu­gen und zum Schluss zum Händ­chen­pat­schen des Pu­bli­kums noch ein paar­mal vom Holz­ge­stell hin­un­ter und wie­der hin­auf zu watscheln?

„Wie ein dres­sier­ter Pin­gu­in im ver­dun­kel­ten Saal auf ein be­leuch­te­tes Holz­ge­stell wat­schelnd“: Zeit­ge­nös­si­sche Ka­ri­ka­tur „Der Di­ri­gent“ von Fran­co Fac­cio (1882)

Die Tier­dres­sur hat in den letz­ten Jahr­zehn­ten im­po­nie­ren­de Fort­schrit­te er­zielt: wenn die Erz­fein­de Lö­wen und Ti­ger fried­lich ver­eint durch glü­hen­de Rei­fen sprin­gen, wenn Af­fen mit­ein­an­der te­le­fo­nie­ren und Eis­bä­ren den „Schwa­nen­see“ tan­zen, er­regt das kaum mehr Auf­se­hen. Aber kein noch so sen­sa­tio­nel­les Er­eig­nis kommt dem Dres­sur- und Do­mes­ti­zie­rungs­akt gleich, den das Pu­bli­kum mit den Künst­lern voll­bracht hat. Da ma­chen Jahr­hun­dert­ge­nies das Männ­chen, ganz ge­nau dann und so lan­ge, wann und wie das Pu­bli­kum es will, da grin­sen Leu­te mit schwin­del­erre­gen­den In­tel­li­genz­quo­ti­en­ten se­lig­dümm­lich ins händ­chen­pat­schen­de Pu­bli­kum, wie das Klein­kind, das für den ers­ten ge­glück­ten Strahl ins Töpf­chen be­lo­bigt wird. Und alle zit­tern sie, be­vor sie vor das Un­ge­heu­er tre­ten. Man­che wa­gen es nur nach ei­ner Mor­phi­um­sprit­ze, man­che nicht ohne ei­nen Li­ter Wod­ka im Bauch; vie­le ha­ben ei­nen Hof­psych­ia­ter, ei­ni­ge ste­hen vor dem Auf­tritt nach fern­öst­li­cher Ma­nier Kopf, und vom Pil­len­ver­brauch al­lein der Künst­ler kön­nen ein paar Apo­the­ker schon ganz gut le­ben. Denn das Pu­bli­kum ist nicht nur ah­nungs­los und leicht ver­führ­bar, es kann auch un­be­re­chen­bar und bru­tal sein. Bald leckt es ei­ner Nie­te den Fuss, und gleich dar­auf holt es zum un­ge­ziel­ten Rund­schlag aus. Wen es trifft, und sei er der Gröss­te und Stärks­te, geht zu Bo­den, manch­mal für immer.

Urs Frau­chi­ger (geb. 1936)

Da­bei ist das Pu­bli­kum nicht ei­gent­lich böse. Sei­ne Bru­ta­li­tät ist die Bru­ta­li­tät ei­nes Un­ge­tüms, das den zer­tram­pelt, des­sen es hab­haft wird, und nicht den, der es reiz­te. Mit gu­tem Grund spürt es Miss­ach­tung, zu­recht wit­tert es Be­trug und Ver­rat. Die Selbst­si­cher­heit ei­nes Künst­lers hält es in Schach, ganz gleich, ob sie der Un­ver­fro­ren­heit, dem Ne­ro­kom­plex, der Ah­nungs­lo­sig­keit oder wirk­li­chem Kön­nen ent­springt. So stürzt es sich halt in dump­fem Zorn auf die Un­si­che­ren, ohne zu fra­gen, ob sich die Un­si­cher­heit nicht viel­leicht aus über­gros­sem Re­spekt und Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein her­lei­tet oder aus der Vi­si­on des Ide­als, das auch gros­se Künst­ler nur sel­ten er­rei­chen. Mit Vor­lie­be fällt es al­tern­de Ido­le an, de­nen es einst be­sin­nungs­los zu­ge­ju­belt hat­te. So­bald das Al­ter die schon frü­her vor­han­de­nen Schwä­chen der Stars bloss­legt, wit­tert das Pu­bli­kum Mor­gen­luft, riecht das Un­ge­heu­er Blut. Was das Pu­bli­kum der Cal­las auf ih­rer letz­ten Tour­nee an­tat, könn­te nur durch ewi­ge Ver­damm­nis zu den schreck­lichs­ten Höl­len­qua­len ge­büsst wer­den. Aber da ist kein Tier­schutz­ver­ein, kein Lob­by der Grü­nen, die der blind­wü­ti­gen Grau­sam­keit Ein­halt geböten.

Un­ge­scho­ren kom­men le­dig­lich die wah­ren Schul­di­gen da­von: die Agen­ten, die Ver­an­stal­ter, die Pro­du­zen­ten. Sie ho­cken in si­che­rem Ab­stand im Ge­büsch und ja­gen dem Un­ge­heu­er die Ha­sen vor die Lef­zen, un­ge­rührt ihre Pro­zen­te ein­strei­chend. Sie het­zen die Al­ten um des Mam­mons wil­len noch und noch über die Büh­nen, sie ver­hei­zen die Jun­gen, statt sie auf­zu­bau­en, sie ver­kau­fen Mit­tel­mass als Welt­ereig­nis, und sie un­ter­drü­cken das Welt­ereig­nis, weil es – wie fast alle wirk­li­chen Er­eig­nis­se – we­nig ein­bringt. Und in ih­rem Dunst­kreis tum­meln sich die Pu­bli­kums­for­scher, die wie alle Wis­sen­schaft­ler bei ih­rem Ein­tritt in die Alma ma­ter einst ge­schwo­ren hat­ten, „der Wahr­heit, der Wahr­heit und nichts als der Wahr­heit zu dienen“. […] 

Aus Urs Frau­chi­ger: Was zum Teu­fel ist mit der Mu­sik los – Eine Art Mu­sik­so­zio­lo­gie für Ken­ner und Lieb­ha­ber, Zyt­glog­ge Ver­lag 1982

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Pu­bli­kum & Di­ri­gent auch von Nils Gün­ther: Der Ge­mei­ne Or­ches­ter­di­ri­gent (Sa­ti­re)

… so­wie das Mu­sik-Zi­tat der Wo­che von Irm­gard Jung­mann: Mu­sik und Geschäft


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