Giorgio van Straten: Das Buch der verlorenen Bücher

Die Geschichten hinter den verschwundenen Geschichten

von Sig­rid Grün

Der Au­tor und Lei­ter des ita­lie­ni­schen Kul­tur­in­sti­tuts in New York, Gi­or­gio van Stra­ten, wid­met sich in sei­nem „Buch der ver­lo­re­nen Bü­cher“ acht li­te­ra­ri­schen Wer­ken, die es zwar mal gab, aber nicht mehr gibt. Es sind un­ver­öf­fent­lich­te Bü­cher be­kann­ter Au­toren, die in der prä-di­gi­ta­len Ära aus ver­schie­de­nen Grün­den ver­schwun­den sind. Meist durch tra­gi­sche Um­stän­de, etwa den Brand ei­ner Hüt­te (Mal­colm Lo­wry), den Ver­lust ei­nes Ge­päck­stücks (Er­nest He­ming­way, Wal­ter Ben­ja­min) oder durch Zen­sur (Lord Byron).

Umfangreiches Manuskript ins Feuer geworfen

Bei­spiels­wei­se Ni­ko­lai Go­gol, der eine Fort­set­zung der „To­ten See­len“ ver­fasst hat­te. Er war der­art per­fek­tio­nis­tisch, dass er – so lau­tet die Aus­sa­ge ei­nes Die­ners – ein um­fang­rei­ches Ma­nu­skript, das nicht den ei­ge­nen An­sprü­chen ge­nüg­te, zehn Tage vor sei­nem Tod dem Ka­min­feu­er über­ant­wor­te­te. Die­se „Gött­li­che Ko­mö­die“ der Step­pe wird also kei­ner von uns je­mals le­sen können.
Syl­via Plaths Werk „Dou­ble Ex­po­sure“ (‚Dop­pel­be­lich­tung‘) und Ro­ma­no Bi­len­chis „Il via­le“ (‚Die Al­lee‘) wur­den ver­mut­lich von den (Ex-)Partnern der Au­toren vernichtet.
„Der Mes­si­as“ des pol­ni­schen Schrift­stel­lers Bru­no Schulz ist ein­fach ver­schwun­den, und es ran­ken sich heu­te noch My­then um den Ver­lust die­ses Meis­ter­werks. An­geb­lich soll das Ma­nu­skript ein­mal auf­ge­taucht und an ei­nen schwe­di­schen Di­plo­ma­ten ver­kauft wor­den sein, der auf der Rück­rei­se vom Über­ga­be­ter­min töd­lich ver­un­glück­te – der Wa­gen brann­te völ­lig aus und alle In­sas­sen star­ben. Cyn­thia Ozick hat dem Ver­schwin­den des Bu­ches so­gar ei­nen gan­zen Ro­man ge­wid­met: „Der Mes­si­as von Stockholm“.

Spannend wie Krimi-Stories

Gi­or­gio van Stra­ten (Geb. 1955)

Die „Ge­schich­ten der ver­lo­re­nen Bü­cher“ sind teils span­nen­de Sto­ries, die an Kri­mi­nal­fäl­le er­in­nern und teils Tex­te, die uns die Tra­gik man­cher Künst­ler noch ein­mal dras­tisch vor Au­gen füh­ren. Der Syl­via-Plath-Text be­ginnt bei­spiels­wei­se mit ih­rem Selbstmord.
Van Stra­ten er­zählt un­ter­halt­sam und bis­wei­len wirkt sein Stil auch ein we­nig ge­schwät­zig, wo­bei er selbst be­tont, dass er Klatsch liebt. Mir per­sön­lich ist es ab und an et­was zu viel Na­me­drop­ping, bei dem der Au­tor auf­zei­gen möch­te, mit wel­chen Grös­sen des Li­te­ra­tur­be­triebs er Kon­tak­te pfleg­te bzw. im­mer noch pflegt. Aber dar­über kann man leicht hin­weg­se­hen. „Das Buch der ver­lo­re­nen Bü­cher“ ist eine kurz­wei­li­ge Lek­tü­re, die den Le­ser vor al­lem gut unterhält.
Ich habe schon meh­re­re Bü­cher über ver­ges­se­ne Meis­ter­wer­ke der Welt­li­te­ra­tur ge­le­sen, die mein In­ter­es­se an Tex­ten weck­ten, die zwar von der Bild­flä­che ver­schwun­den, aber im­mer noch da sind. „Das Buch der ver­lo­re­nen Bü­cher“ macht be­son­ders neu­gie­rig, je­doch ohne Aus­sicht, die­se Neu­gier­de je­mals zu stil­len. Das ist na­tür­lich ein biss­chen frus­trie­rend; In der Fan­ta­sie mag man sich aus­ma­len, wel­che Meis­ter­wer­ke dem Le­ser da ent­gan­gen sind.

Fundgrube für literarische Entdeckungen

Gi­or­gio van Stra­ten hat mit sei­nem „Buch der ver­lo­re­nen Bü­cher“ eine un­ter­halt­sa­me Text­samm­lung ge­schafft, die sich her­vor­ra­gend als Ge­schenk für Li­te­ra­tur­be­geis­ter­te eig­net. Er kann in­ter­es­san­te In­hal­te span­nend ver­mit­teln und schliesst mit sei­nem Buch eine Lü­cke im Be­reich der Li­te­ra­tur­ge­schich­te. Wer An­ek­do­ten mag, ist hier goldrichtig.

Aber manch­mal sind Bü­cher viel­leicht auch ein­fach nicht ver­öf­fent­licht wor­den, weil sie tat­säch­lich nicht so gross­ar­tig wa­ren, wie sie hät­ten sein sol­len. In­ter­es­sant ist die Sa­che al­le­mal! Mich hat das Buch auch dazu ver­an­lasst, Au­toren zu le­sen, die ich bis­lang noch nicht kann­te: Ro­ma­no Bi­len­chi und Bru­no Schulz. Dan­kens­wer­ter­wei­se ent­hält der An­hang eine Bi­blio­gra­fie mit den ins Deut­sche über­setz­ten Wer­ken. „Das Buch der ver­lo­re­nen Bü­cher“ ist also auch eine Fund­gru­be für alle, die an li­te­ra­ri­schen Ent­de­ckun­gen in­ter­es­siert sind. ♦

Gi­or­gio van Stra­ten: Das Buch der ver­lo­re­nen Bü­cher – Acht Meis­ter­wer­ke und die Ge­schich­te ih­res Ver­schwin­dens, 164 Sei­ten, In­sel Ver­lag, ISBN 978-3-458-17728-9

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