Kai Engelke: Kaminski wandert (Kurzprosa)

Kaminski wandert

Kai En­gel­ke

Es sind die Win­zig­kei­ten, hin­ter de­nen sich das Gros­se verbirgt.
(Klaus C. Jacobsen )

Draus­sen in der frei­en Na­tur, ab­seits der Zen­tren und Me­tro­po­len, wo es grün und still ist, dort fühlt Ka­min­ski sich am wohls­ten. Hier kann er tief durch­at­men, in sich hin­ein­hor­chen und zu sich kommen.
Ka­min­ski hat die Men­schen nicht ge­zählt, die er un­ter die Erde ge­bracht hat.

Er ist froh, als er in der Ge­mein­de Bur­gen an der Mo­sel das kur­ze Stück an der viel be­fah­re­nen Stras­se ent­lang, Rich­tung Ma­cken, vor­bei an der Schmau­se­müh­le, hin­ter sich ge­bracht hat, denn dort geht’s gleich rechts in den Wald hin­ein. Di­rekt auf den Fo­rel­len­weg im Baybach-Tal.
Die Blät­ter der Bäu­me ver­schlu­cken sehr schnell die meis­ten Stras­sen­ge­räu­sche, eine Els­ter warnt, ein Zaun­kö­nig zwit­schert, über dem gluck­sen­den Bach jagt eine Li­bel­le nach Insekten.
Ob­wohl die Son­ne scheint, ist es nicht sehr hell. Der Weg ist schmal, knor­ri­ge Wur­zeln er­for­dern an­ge­streng­te Auf­merk­sam­keit. Ein dunk­ler Blät­ter­tun­nel, ähn­lich ei­nem Ge­burts­ka­nal, wie zu Be­ginn ei­ner Lebenszeit.
Ka­min­skis Ge­schäft ist der Tod.

Wenn er beim Ge­hen den Blick di­rekt vor sei­ne Füs­se rich­tet, sieht er vie­le klei­ne Stei­ne, Gras­in­seln, Blät­ter­res­te, krab­beln­de Kä­fer, zer­tre­te­ne Kä­fer, Bor­ken­stü­cke, Holzsplitter.
Vom ge­gen­über­lie­gen­den Ufer des Bay­bachs win­ken hoch­ge­wach­se­ne Pflan­zen mit ih­ren Blät­tern her­über. Wahr­schein­lich Ler­chen­spor­ne. Ka­min­ski winkt zurück.
Ka­min­ski mag den Ge­ruch frisch ge­gra­be­ner Erde. Da­her schreckt ihn auch die Vor­stel­lung nicht, ei­nes Ta­ges selbst zu Erde zu werden.
Und über­haupt, sagt Ka­min­ski, wenn ich tot bin, mach ich, was ich will. Aber noch bin ich am Le­ben und küm­me­re mich um die Toten.
Ka­min­ski hat sich an sich gewöhnt.

Links taucht zwi­schen den Bäu­men ein aus gro­ben, ocker­far­be­nen Stei­nen er­rich­te­tes, al­lein ge­le­ge­nes Haus auf, der Berg­hof. Der war ein­mal ein Ho­tel, ein Re­stau­rant, ein Café, vor vie­len Jah­ren. Ur­sprüng­lich be­her­berg­te die­ses präch­ti­ge Ge­bäu­de mit dem mar­kan­ten Man­sar­den­dach und den seit­li­chen Fas­sa­den­tür­men eine Ölmühle.
Alle ehe­ma­li­gen Be­woh­ner sind ver­schwun­den. Nun ist das Haus ge­stor­ben. Die Na­tur nimmt es in ih­ren Be­sitz. Wil­des Brom­beer­ge­strüpp kriecht die Mau­ern em­por. Zwi­schen ho­hen Grä­sern leuch­ten Buschwindröschen.
Ka­min­ski hat sich ar­ran­giert mit der Un­ver­meid­bar­keit des Todes.
Wir brau­chen nichts so sehr, wie den Mut zur Ver­gäng­lich­keit, sagt Kaminski.

Dann wird es hell. Der Blick wei­tet sich. Der Weg wird be­que­mer, es lässt sich un­an­ge­streng­ter vor­an­kom­men. Rechts der Laub­wald, auch ein paar Na­del­höl­zer da­zwi­schen, links eine Obst­wie­se mit al­ten Bir­nen- und Apfelbäumen.
Ka­min­ski setzt sich auf eine Bank, schliesst die Au­gen und fühlt sich für eine kur­ze Wei­le völ­lig mit die­sem fried­vol­len Ort ver­bun­den. Man kann auch sa­gen: Ka­min­ski ist glücklich.
Plötz­lich tau­chen Bil­der auf, düs­te­re Bil­der. Ka­min­ski hat es im­mer wie­der er­fah­ren: Es ist nur ein dün­ner Fir­nis, der den Men­schen von der grau­sa­men Tat trennt. Ge­fühls­käl­te, Ego­zen­trik und Rück­sichts­lo­sig­keit – die­se drei Ei­gen­schaf­ten rei­chen aus für ei­nen Mord. Wenn man all die Nach­ru­fe und Grab­sprü­che für Da­hin­ge­schie­de­ne liest, dann fragt man sich, wo ei­gent­lich die fie­sen, die bös­ar­ti­gen Men­schen be­gra­ben sind.
Ka­min­ski weiss es.

Ka­min­ski kommt an eine Kreu­zung. Ver­schie­de­ne Weg­wei­ser zei­gen in alle mög­li­chen Rich­tun­gen. Er muss sich ent­schei­den. Lau­ter Ab­zwei­gun­gen. Wo soll er hin? Wo will er hin? Ge­ra­de­aus geht’s zur Fo­rel­len­zucht. Er könn­te sich eine frisch ge­ba­cke­ne Fo­rel­le in aus­ge­las­se­ner But­ter ser­vie­ren las­sen und dazu ei­nen ge­kühl­ten Ries­ling-Wein trin­ken. Das wäre der an­ge­nehms­te, der ein­fachs­te Weg.
Links geht’s nach Ma­cken, aber wie von dort wo­hin weiter?
Nach rechts wür­de er das Bay­bach-Tal ver­las­sen, um ein paar Stun­den spä­ter wie­der in Bur­gen an­zu­kom­men. Er könn­te den Kreis schliessen.
Ka­min­ski wen­det sich nach rechts. Schon bald geht es un­ge­wöhn­lich steil berg­auf. Je­des Mal, wenn er glaubt, den un­an­ge­nehms­ten Teil ge­schafft zu ha­ben, geht es hin­ter der nächs­ten Weg­bie­gung noch ein we­nig stei­ler berg­an. Die An­stren­gung raubt ihm fast den Atem. Sein Herz klopft ra­send. Im­mer wie­der muss er ste­hen­blei­ben, um sich ein we­nig auszuruhen.
Hier ganz in der Nähe gibt es eine Höh­le, die ei­nem Ver­folg­ten als Ver­steck dien­te, dem Schin­der­han­nes. Die Men­schen ha­ben ihn in Ge­schich­ten und An­ek­do­ten zu ei­nem Huns­rücker Volks­hel­den ge­macht. In Wahr­heit war er wohl bloss ein Räu­ber, ein Strauch­dieb, ein Mörder.
Ka­min­ski spürt die Be­grenzt­heit sei­ner Kräf­te. Er emp­fin­det die End­lich­keit sei­nes Daseins.
Aber er ist frei von Angst.
Wenn ich be­den­ke, sagt er, wie lan­ge ich tot war, be­vor ich ge­bo­ren wur­de, dann muss ich sa­gen: das Tot sein hat mir nicht geschadet.

Ka­min­ski ist bald oben an­ge­kom­men. Er hat ge­kämpft. Er hat ge­zwei­felt. Er hat es fast ge­schafft. Je hö­her er steigt, des­to mü­der und kurz­at­mi­ger wird er, doch sein Blick wei­tet sich. Im­mer mehr er­kennt er das Gan­ze. Fer­ne Ge­birgs­zü­ge, Tä­ler und Orte wir­ken er­ha­be­ner als die na­he­ge­le­ge­nen. Zeit­wei­li­ge Di­stanz er­mög­licht Übersicht.
Ka­min­ski ge­niesst den wei­ten Blick.
Er ahnt Zusammenhänge.

Und dann geht es berg­ab. Ka­min­ski macht klei­ne Schrit­te, um nicht auf dem Schot­ter­weg ins Rut­schen zu ge­ra­ten. Der stei­le Ab­stieg ver­ur­sacht Schmer­zen in den Bein­ge­len­ken. Das Ende der Wan­de­rung ist in Sicht.
Ka­min­ski, war­um sprichst du so sel­ten über dei­nen Be­ruf, fra­gen die Men­schen sei­ner nä­he­ren Umgebung.
Man muss ja nicht gleich im­mer mit der Lei­che ins Haus fal­len, sagt Ka­min­ski und lächelt.
Manch­mal ru­fen sie ihm zu: Ka­min­ski, nicht ver­ges­sen! Heu­te Nacht wer­den die Ur­nen umgestellt!
Oder:
Ka­min­ski, was ist das? Es ist klein, grün und liegt im Sarg, na?
Eine Sterb­se! Ha, ha, ha!
Aber es kommt auch vor, dass sie ihm Fra­gen stel­len. Ernst­haf­te Fra­gen. Lei­se und verstohlen.
Ka­min­ski, was ist mit der See­le? Du musst das doch wissen!
Die See­le, sagt Ka­min­ski, ist der Le­bens­atem, der aus dem Ster­ben­den fort­fliegt, und erst dann als See­le er­kenn­bar ist. Der Un­ter­schied zwi­schen Le­ben und Tod.
Am Le­bens­atem er­kennt man, was eine See­le ist oder war.

Die Wan­de­rung ist nun zu Ende. Viel schnel­ler als ge­dacht. Ka­min­ski ist müde. Tod­mü­de. Er legt sich nie­der und schliesst die Au­gen. Ka­min­ski schläft ein. Viel zu früh. Er wacht nicht mehr auf.
Er wuss­te: Der Tod ist kein Punkt, son­dern ein Dop­pel­punkt: Nicht Ex­itus (Aus­gang), son­dern In­tro­itus (Ein­gang).
Die Son­ne sank, be­vor es Abend wurde. ♦

Für Klaus Ja­kob (1961-2017), Be­stat­ter aus Giessen


Kai En­gel­ke

Geb. 1946, Päd­ago­gik­stu­di­um in Hil­des­heim, Grund­schul­leh­rer im Ems­land, zahl­rei­che Buch-Ver­öf­fent­li­chun­gen und -Her­aus­ga­ben, drei CDs, Bei­trä­ge in mehr als 100 An­tho­lo­gien, lebt als Schrift­stel­ler und Mu­sik­jour­na­list in Surwold/D

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