Interview mit dem Schriftsteller René Oberholzer

Der Mann mit dem Schalk im Lächeln

oder

Strawberry Fields Forever!.

von Karin Afshar

Baum­schu­le

Die Bäu­me ge­hen zur Schule
Ler­nen wie man wächst und ge­ra­de steht
Ler­nen wie man sich biegt und wie­der aufrichtet
Ler­nen nicht wie man der Axt entkommt

(René Ober­hol­zer in der An­tho­lo­gie „…bis an die Baum­gren­ze“,  Khor­s­hid Ver­lag 2009)

René RO (*1963 in St. Gallen)

Der Mann“ ist Schwei­zer Schrift­stel­ler und Per­for­mer, lebt und ar­bei­tet seit 1987 in Wil. Ge­bo­ren ist er 1963 in St. Gal­len. Seit 1986 schreibt er Ly­rik, seit 1991 auch Pro­sa. – So in etwa lau­te­ten die an uns ge­schick­ten Zei­len, die mit drei Ge­dich­ten ein­tra­fen. „Uns“ bzw. „Wir“ – das wa­ren mei­ne Her­aus­ge­be­rin und ich – wir hat­ten An­fang 2009 eine An­tho­lo­gie mit dem The­ma „Bäu­me“ aus­ge­schrie­ben. Die drei ein­ge­sand­ten Ge­dich­te setz­ten wir so­fort auf die Ha­ben-wol­len-Lis­te. Das Buch er­schien im Sep­tem­ber 2009; in­zwi­schen sind mehr als sechs Jah­re ins Land ge­gan­gen. Fra­gen Sie nicht, war­um es erst jetzt ein In­ter­view (ha­ben wir per Mail ge­führt) mit René Ober­hol­zer gibt!
Le­gen Sie sich am bes­ten zum Le­sen eine gute alte LP von den Beat­les auf, und ge­nies­sen Sie.

Ka­rin Afs­har: René, wor­an ar­bei­test du gerade?

René Ober­hol­zer: Mo­men­tan ar­bei­te ich an Tex­ten zum The­ma „Ur­laub“. Die­se wer­den dann in eine sze­ni­sche Le­sung mit der Au­toren­grup­pe Oh­ren­hö­he mün­den, mit der ich seit Jah­ren im­mer wie­der neue The­men be­ar­bei­te und auf die Büh­ne brin­ge. Das ist mein mit­tel­fris­ti­ges Ziel für nächs­tes Jahr. Län­ger­fris­tig ar­bei­te ich an ei­nem neu­en Kurz­pro­sa­band, der the­ma­tisch völ­lig un­ge­bun­den sein wird.

KA: Au­toren­grup­pe? Auf­füh­ren? Stimmt, ich hat­te es im Hin­ter­kopf, und auf dei­ner Web­sei­te kann der Be­su­cher auch ei­ni­ges dazu se­hen. Das sieht nach Pro­ben, nach sehr viel Zeit fürs Schrei­ben und fürs Krea­ti­ve aus? Bist du frei­er Schrift­stel­ler und Künst­ler, oder gibt es noch ei­nen an­de­ren Broterwerb?

RO: Ich bin kein frei­er Schrift­stel­ler und Künst­ler, mein haupt­säch­li­cher Brot­er­werb ist das Un­ter­rich­ten als Ober­stu­fen­leh­rer an ei­ner Ost­schwei­zer Schu­le. Und das ist auch gut so. Ich könn­te mir nicht vor­stel­len, nur zu schrei­ben und vom Schrei­ben auch noch le­ben zu müs­sen. Das wür­de mich ei­ner­seits zu stark un­ter krea­ti­ven und öko­no­mi­schen Druck set­zen, und an­de­rer­seits wür­de es mei­ne Frei­heit, das zu schrei­ben, wo­nach ich Lust habe, zu stark ein­schrän­ken. Durch mei­nen Brot­be­ruf habe ich in li­te­ra­ri­scher Hin­sicht Nar­ren­frei­heit und kann ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te schrei­ben und ste­he auch un­ter kei­nem Ver­öf­fent­li­chungs­druck. Zu­dem kann ich mir nicht vor­stel­len, den gan­zen Tag an ei­nem Com­pu­ter oder vor ei­nem Heft zu sit­zen und zu schrei­ben. Ich muss zu­erst nach draus­sen ge­hen, das Le­ben le­ben und das Un­ter­be­wusst­sein mit Bil­dern und Ge­schich­ten fül­len, da­mit ich wie­der li­te­ra­risch et­was Neu­es kre­ieren kann nach dem Prin­zip: Le­ben – Schrei­ben – Le­ben – Schrei­ben. Und da­für ist ein Brot­be­ruf, der ei­nen krea­tiv nicht un­ter Druck setzt, sehr nütz­lich. Zu­dem müss­te ich ex­trem gut und ex­trem pro­duk­tiv sein, um in der Schweiz vom Schrei­ben le­ben zu kön­nen. So­gar ganz gros­se Au­toren wie Kaf­ka u.a. ha­ben ja nicht al­lein vom Schrei­ben ge­lebt und sind ei­nem „bür­ger­li­chen Be­ruf“ nachgegangen.

KA: Dar­aus er­gibt sich na­tür­lich gleich die nächs­te KA: Wel­che Fä­cher un­ter­rich­test du, wel­ches da­von ist dein Lieblingsfach?

RO: Ich un­ter­rich­te die sprach­lich-his­to­ri­schen Fä­cher, d.h. Deutsch, Fran­zö­sisch, Eng­lisch, Räu­me & Zei­ten (eine Kom­bi­na­ti­on von Ge­schich­te und Geo­gra­fie), Bild­ne­ri­sches Ge­stal­ten und In­di­vi­du­um & Ge­mein­schaft. Lieb­lings­fä­cher habe ich gleich meh­re­re – Deutsch, Eng­lisch und Ge­schich­te (ist in Räu­me & Zei­ten integriert).

KA: Apro­pos Eng­lisch, Fran­zö­sisch: Wie­vie­le Spra­chen sprichst du?

RO: Ich spre­che in mei­ner Um­ge­bung Schwei­zer­deutsch, beim Un­ter­rich­ten in der Schu­le Hoch­deutsch, an­sons­ten in den ent­spre­chen­den Fä­chern Fran­zö­sisch und Englisch.

KA: Stich­wort „mehr­spra­chi­ge Schweiz“ – Ich habe vor Jah­ren ein Buch be­spro­chen, in dem es dann hiess, ja – die Schweiz sei mehr­spra­chig, die Ein­woh­ner sei­en es je­doch nicht zwangs­läu­fig (sehr ver­kürzt ge­sagt) … Sprichst du ei­nen Dialekt?

RO: Ich spre­che den St. Gal­ler Dia­lekt, von dem man in der Schweiz sagt, dass er re­la­tiv neu­tral im Ver­gleich zu an­de­ren Dia­lek­ten sei.

KA: Mich als Lin­gu­is­tin in­ter­es­siert und fas­zi­niert die­ses The­ma im­mer wie­der. Ich fra­ge die bi­lin­gua­len und mul­ti­l­in­gua­len Kin­der in mei­ner Um­ge­bung, wenn es sich er­gibt, und er­hal­te er­staun­li­che Ant­wor­ten. Wie ist es bei dir: hast du eine Ge­fühls- und eine Denk­spra­che? Ver­schie­den oder identisch?

RO: Da­durch dass ich in der Schu­le Hoch­deutsch als Un­ter­richts­spra­che spre­che, viel in Bü­chern, in Zeit­schrif­ten und im In­ter­net lese, ist mir die deut­sche Hoch­spra­che sehr ver­traut ge­wor­den. Ich den­ke in der Hoch­spra­che. Ob­wohl ich mit der Schwei­zer Mund­art auf­ge­wach­sen bin, die ei­gent­lich mei­ne Ge­fühls­spra­che ist, ist die deut­sche Hoch­spra­che mitt­ler­wei­le zu ei­ner gleich­wer­ti­gen Mut­ter­spra­che wie die Mund­art ge­wor­den, nicht zu­letzt auch, weil ich ei­ni­ge Freun­de und Be­kann­te im be­nach­bar­ten deutsch­spra­chi­gen Aus­land habe. Und dann ist da na­tür­lich mein ei­ge­nes Schrei­ben, das mich nicht in der Mund­art, son­dern in der Hoch­spra­che den­ken und dann spä­ter auch re­flek­tie­ren lässt. Wenn ich den Fern­se­her an­ma­che, schaue ich mir lie­ber deut­sche Sen­dun­gen in der Hoch­spra­che an, das hat dann ei­nen ei­gen­ar­tig pro­fes­sio­nel­le­ren Anstrich.
Füh­len und Den­ken sind bei mir nicht zwei Schub­la­den, son­dern grei­fen in­ein­an­der, des­halb ist die hoch­deut­sche Denk­spra­che mitt­ler­wei­le auch zu ei­ner Ge­fühls­spra­che geworden.

René RO („Der Runner“)

KA: Dass Dia­lek­te als „un­pro­fes­sio­nell“ her­über­kom­men, ist ih­rer Do­mä­ne ge­schul­det. Man muss eben wis­sen, wo man sich be­wegt. Ich habe nie den Dia­lekt mei­ner Mut­ter spre­chen ge­lernt (wie­wohl ich auch kein Hoch­deutsch sprach, was ich dach­te, und was sich beim Um­zug in den Nor­den dann als Irr­tum her­aus­stell­te), d.h. ich habe mich nie so weit zu die­ser Fa­mi­li­en­sei­te ge­hö­rig ge­fühlt, um mich mit ihr zu iden­ti­fi­zie­ren. Wir wa­ren im letz­ten Jahr im Dorf, be­such­ten Freun­de mei­ner Mut­ter, und es war ein gros­ses „Fest“ – alle spra­chen im Dia­lekt, denn das war die Spra­che ih­rer Zu­ge­hö­rig­keit. Ir­gend­wann kam ei­ner auf die Idee zu fra­gen, ob ich sie denn ver­ste­he. Die Spra­che ist bei­des: ei­ner­seits Ge­fühl-/Denk­spra­che und an­de­rer­seits eine Iden­ti­täts­stif­te­rin und Schaf­fe­rin des so­zia­len Zu­sam­men­halts. Das bringt mich zu ei­nem so­zia­len Netz­werk, in dem wir auch mit­ein­an­der ver­netzt sind. – Da sehe ich dann im­mer wie­der Fo­tos vom RO: in die­ser Pose (sie­he dein ei­ge­nes Foto rechts) an den ver­schie­dens­ten Or­ten. Was hat es mit den Fo­tos auf sich? Gibt es eine Ge­schich­te da­hin­ter, was die Be­we­gung und ihre Rich­tung angeht?

RO: Es gibt kei­ne kon­kre­te Ge­schich­te zu mei­nen „Runner“-Bildern. Ich habe vor lan­ger Zeit ge­merkt, dass es nebst dem Grin­sen in die Ka­me­ra oder dem mehr oder we­ni­ger gu­ten Po­sie­ren vor ei­ner Ka­me­ra noch eine an­de­re Pose ge­ben könn­te, und so habe ich die Fi­gur des „Run­ners“ kre­iert. Sie gibt ei­nem sta­ti­schen Bild Be­we­gung, sug­ge­riert na­tür­lich auch, dass ich stän­dig in Be­we­gung bin, manch­mal mit dem Be­trach­ter-Bild­strom von links nach rechts schwim­me, manch­mal ge­gen das Auge des Be­trach­ters von rechts nach links an­ren­ne. Mitt­ler­wei­le sind die­se „Runner“-Bilder zu ei­nem Mar­ken­zei­chen von mir ge­wor­den. Es gibt be­reits ver­ein­zelt Men­schen, die mich in der­sel­ben Pose be­grüs­sen, sie an­der­wei­tig imi­tie­ren oder mich auf sie an­spre­chen. Auf je­den Fall löst sie bei al­len ein Schmun­zeln aus.

KA: Schmun­zeln – Schmun­zeln muss ich oft, wenn auf mei­ner Start­sei­te RO-ge­teil­te Posts auf­tau­chen. (So ein Netz­werk ist ein herr­li­ches Me­di­um zum Mit­le­sen, oder?) Sehe ich das rich­tig, dass du sur­rea­le Ma­le­rei oder über­haupt das Sur­rea­le magst?

RO: Der Sur­rea­lis­mus ist tat­säch­lich die Kunst­rich­tung in der Ma­le­rei, die mich am meis­ten in­ter­es­siert und fas­zi­niert, weil ihre ge­heim­nis­vol­le Poe­sie mich zum Den­ken an­regt. Es sind Bil­der von René Magrit­te, Sal­va­dor Dali oder Wolf­gang Lettl und an­de­ren Sur­rea­lis­ten, die es mir an­ge­tan ha­ben. Sur­rea­lis­ti­sche Bil­der sind auch nach Jah­ren nie lang­wei­lig, ver­lie­ren nichts von ih­rem Ge­heim­nis oder ih­rem „Mys­te­ri­um“, wie René Magrit­te den In­halt sei­ner Bil­der einst be­schrie­ben hat­te. Zu­dem spült der Sur­rea­lis­mus durch die Ver­bin­dung zum Un­ter­be­wuss­ten und zu den Träu­men In­hal­te her­vor, die das Den­ken nor­ma­ler­wei­se nicht her­vor­bringt. Der Sur­rea­lis­mus lie­fert mir eine Me­ta­ebe­ne, die ich zu ver­ste­hen ver­su­che. Und das macht ihn für mich in­ter­es­sant, weil ich vor sur­rea­lis­ti­schen Bil­dern ver­wei­len kann. Das pas­siert mir bei rea­lis­ti­schen oder abs­trak­ten Bil­dern nicht. Aber ich mag auch Bil­der von Van Gogh oder Clau­de Mo­net, auf de­nen ich er­ken­nen kann, was ab­ge­bil­det ist, un­ab­hän­gig von der je­wei­li­gen Kunstrichtung.

KA: Wann hat die­se Fas­zi­na­ti­on an­ge­fan­gen? Gibt es ein Schlüsselerlebnis?

RO: Ein Schlüs­sel­er­leb­nis, war­um ich den Sur­rea­lis­mus so mag, gibt es nicht wirk­lich, es ist ver­mut­lich die Sum­me von ver­schie­de­nen Ent­wick­lungs­pro­zes­sen, die ich durch­lau­fen habe, und di­ver­sen Ein­flüs­sen. Da spielt mei­ne Fan­ta­sie eine Rol­le, die im­mer wie­der nach dem sucht, was nicht alle Men­schen su­chen, da ist die Vor­stel­lung, dass man et­was im­mer auch mit an­de­ren Au­gen an­schau­en kann, da ist mei­ne Lie­be zur Mu­sik der Beat­les, die mich im Teen­ager­al­ter zu prä­gen be­gon­nen und mich bis heu­te nicht mehr los­ge­las­sen hat. Vie­le Song­tex­te der Beat­les ab 1966 ha­ben ex­trem sur­rea­le Züge, der Trick­film „Yel­low Sub­ma­ri­ne“ ist Sur­rea­lis­mus pur. Die­ser Film hat mich sehr be­ein­flusst. Da wa­ren aber auch die Fil­me von Luis Bunu­el, die mich in­spi­riert ha­ben, oder auch Fil­me, in de­nen Mi­chel Pic­co­li, den ich für ei­nen der gröss­ten Schau­spie­ler hal­te, eine Haupt­rol­le ge­spielt hatte.
Ein per­sön­li­ches Er­leb­nis mit ei­nem mei­ner sur­rea­lis­ti­schen Vor­bil­der, das für mich sehr prä­gend war, als ich mich äs­the­tisch schon längst dem Sur­rea­lis­mus ver­schrie­ben hat­te, gibt es aber trotz­dem. Das war der Be­such bei Wolf­gang Lettl in Augs­burg. Ich war mit mei­ner da­ma­li­gen Le­bens­part­ne­rin ex­tra nach Augs­burg ge­reist, um sei­ne Bil­der im Atri­um-Mu­se­um mir anzusehen.
Da­bei kam es zu ei­nem Tref­fen mit Flo­ri­an Lettl, dem Sohn von Wolf­gang Lettl, der den gan­zen Nach­lass und die Mu­se­en in Augs­burg und Lin­dau be­treut. Flo­ri­an Lettl spür­te, dass ich ein ech­tes In­ter­es­se an der Kunst sei­nes Va­ters hat­te, zu­mal ich das hal­be Mu­se­um mit Post­kar­ten und Pos­tern auf­ge­kauft hat­te, und lud mich des­halb zu­erst zu sich nach Hau­se und spä­ter zu sei­nem Va­ter ein. Die­se Be­geg­nung mit ei­nem der gröss­ten Sur­rea­lis­ten des 20. Jahr­hun­derts war schon sehr be­ein­dru­ckend. Umso trau­ri­ger war die Nach­richt, dass er kur­ze Zeit spä­ter im Jahr 2008 ver­stor­ben war.

KA: Malst du auch selbst?

RO: Nein, ich selbst male nicht. Ich habe es vor Jah­ren ver­sucht, merk­te aber, dass das nicht mei­ne Schie­ne ist, ob­wohl ich mit der Ma­le­rei sehr ver­bun­den bin. Zum ei­nen konn­te ich mit den we­ni­gen Bil­dern, die ich ge­malt hat­te, da­mals kei­ne Ge­schich­ten er­zäh­len, zum an­de­ren fehl­te mir auch der Platz und die Zeit, die Mal­sa­chen im­mer wie­der her­vor­zu­neh­men. Da war das Schrei­ben we­sent­lich ein­fa­cher. Ich konn­te ei­nen Schreib­block und ei­nen Ku­gel­schrei­ber über­all­hin mit­neh­men. Und die Re­pro­duk­ti­on mei­ner ge­schrie­be­nen Tex­te war auch we­sent­lich ein­fa­cher, als das bei ei­nem ge­mal­ten Bild der Fall ist. Eine Bil­der­ver­nis­sa­ge zu or­ga­ni­sie­ren, ist we­sent­lich auf­wän­di­ger als eine Le­sung ab­zu­hal­ten. Heut­zu­ta­ge ist das Re­pro­du­zie­ren von Kunst im In­ter­net­zeit­al­ter zwar et­was leich­ter ge­wor­den, doch das Ori­gi­nal­bild ist im­mer noch das Ori­gi­nal­bild. Bei ei­nem Text kommt es nicht auf das hand­ge­schrie­be­ne Ori­gi­nal an, son­dern nur auf die Wor­te, das Ori­gi­nal hat dem­zu­fol­ge kei­ne gros­se Be­deu­tung, aus­ser man wird spä­ter ein­mal sehr berühmt.

KA: Dei­ne Tex­te – und ich den­ke auch an drei Ge­dich­te in „…bis an die Baum­gren­ze“ – le­ben von dem Spiel mit der Er­war­tung der Le­ser. Die­se Er­war­tung führst du ad ab­sur­dum, führst den Le­ser in eine an­de­re als die von ihm ge­dach­te Richtung.

RO: Ge­nau. So pas­sie­ren in mei­nen Ge­schich­ten oft Din­ge, die zwar sehr real sind, doch in der Art, wie sie pas­sie­ren, nur in mei­nen Ge­schich­ten pas­sie­ren kön­nen. Was mich beim Schrei­ben von Ge­schich­ten oder Ge­dich­ten aber auch mit dem Sur­rea­lis­mus ver­bin­det, ist die Mög­lich­keit, da­mit In­ter­pre­ta­ti­ons­räu­me für den Leser/die Le­se­rin zu öff­nen. Das fängt beim Ti­tel an und hört bei ei­nem of­fe­nen Schluss auf. Der Leser/die Le­se­rin soll mit­den­ken und den In­halt wei­ter­spin­nen kön­nen. Das ge­lingt auch nicht im­mer in mei­nen Tex­ten, denn je­der Text kommt, wie er kommt, und manch­mal sind ja auch Tex­te, in de­nen mehr oder we­ni­ger al­les ge­sagt ist, nicht schlecht, weil sie ein schö­nes Bild oder ein schö­nes Ge­fühl ver­mit­teln, das stim­mig ist. Oder aber eine knall­har­te Rea­li­tät so dar­stel­len, wie sie nun ein­mal ist. Da­bei ist die Poe­sie, wenn sie dann in Tex­ten vor­kommt, im An­satz schon ein we­nig sur­re­al, weil ja nie­mand auf der Stras­se so spricht, wie z.B. oft in Ge­dich­ten ge­spro­chen wird.

KA: Wenn ich da jetzt so drü­ber nach­den­ke… Dann war und ist der Sur­rea­lis­mus auch eher eine Kunst­rich­tung, die mich mehr fas­zi­niert als ein blos­ser Im­pres­sio­nis­mus. Aber es hat vie­les ei­nen Platz un­ter der Son­ne und sei­ne Ab­neh­mer und Lieb­ha­ber. Zur Mu­sik! – du hast sie be­reits er­wähnt – als prä­gend für dich (wie sie prä­gend für eine gan­ze Ju­gend­ge­ne­ra­ti­on wa­ren) – die Beat­les. Was ver­bin­det dich mit ihnen?

RO: Mit den Beat­les ver­bin­det mich zum Ers­ten eine tie­fe mu­si­ka­li­sche Lie­be. Es gibt mei­ner Mei­nung nach kei­ne Grup­pe und kei­nen Sänger/keine Sän­ge­rin, die eine der­art gros­se Band­brei­te an Me­lo­dien ge­schaf­fen ha­ben wie die Beat­les. Ihre Me­lo­dien sind zu mei­nen in­ne­ren Me­lo­dien ge­wor­den. Und je äl­ter ich wer­de, des­to mehr wird mir be­wusst, dass ich mei­ne grund­sätz­li­che Fröh­lich­keit auch ein Stück weit den Beat­les zu ver­dan­ken habe. Mit Beat­les-Lie­dern im Her­zen bist du ei­gent­lich im­mer auf der Sonnenseite.
Dann gibt es na­tür­lich auch die text­li­che Sei­te der Beat­les-Lie­der, die mich be­ein­flusst hat. Da sind z.B. Hym­nen wie „All You Need Is Love“, die in ih­rer Bot­schaft so exis­ten­zi­ell sind, dass ei­gent­lich al­les ge­sagt ist. Dann ist da die le­bens­be­ja­hen­de, in­halt­li­che Sei­te in Songs wie z.B. in „Here Co­mes The Sun“, die po­li­ti­sche Sei­te wie z.B. in „Re­vo­lu­ti­on“, in dem klar ge­gen Ge­walt Po­si­ti­on be­zo­gen wird. Und dann ist da die sur­rea­lis­ti­sche Sei­te wie z.B. in „Straw­ber­ry Fields Fo­re­ver“ oder die text­lich und mu­si­ka­lisch raf­fi­niert mon­tier­te und sehr mo­der­ne Sei­te wie z.B. in „A Day In The Life“, um nur ei­ni­ge un­ter­schied­li­che Sei­ten der Beat­les aufzuzählen.

KA: Die in­ne­woh­nen­de Fröh­lich­keit? – Der tief­sta­peln­de Humor?

RO: Ihr Witz – der spie­gelt sich nicht nur in ih­ren Lie­dern wi­der, son­dern vor al­lem auch in ih­ren Fil­men wie „Help“ oder „Yel­low Sub­ma­ri­ne“. Da ist viel tro­cke­ner, eng­li­scher Hu­mor drin, den ich sehr mag. Und dann mag ich auch ihre In­ter­views, in de­nen sie mit la­ko­ni­schen Sät­zen und sur­rea­len Wen­dun­gen auf ba­na­le KA:n von Jour­na­lis­ten geist­reich und schräg ge­ant­wor­tet ha­ben und da­mit be­wie­sen ha­ben, dass man sich zwar ernst, aber das Le­ben um sich her­um nicht im­mer so ernst neh­men sollte.

KA: Als es sie dann nicht mehr… wem bist du mehr ge­folgt? John Len­non, Ge­or­ge Har­ri­son, Rin­go Starr oder Paul Mc­Cart­ney? Ich fra­ge das, weil ich selbst zu­nächst mehr Ge­or­ge Har­ri­son hör­te. 1979 kam „Ge­or­ge Har­ri­son“ her­aus, hab ich mir als Kas­set­te or­ga­ni­siert. Paul Mc­Cart­ney und die „Wings“ („With a litt­le luck“) – hab ich auch rauf und run­ter gehört.

RO: Na­tür­lich habe ich die So­lo­kar­rie­ren al­ler vier Beat­les mit­ver­folgt, teil­wei­se auch rück­bli­ckend in der zwei­ten Hälf­te der 1970er Jah­re. Heut­zu­ta­ge bin ich noch im­mer stark mit Paul Mc­Cart­ney ver­bun­den, den ich ger­ne ein­mal tref­fen wür­de. Sei­ne Mu­sik seit der Tren­nung der Beat­les ver­fol­ge ich sehr ge­nau, und sei­ne ve­ge­ta­ri­sche Le­bens­wei­se, die ich auch lebe, be­ein­druckt mich sehr. Zu­dem be­wun­de­re ich, wel­che En­er­gie er in sei­nem Al­ter noch hat, und wie er lau­fend neue Pro­jek­te rea­li­siert. Aber auch die So­lo­al­ben und -pro­jek­te der an­de­ren drei Beat­les, vor al­lem die der be­reits Ver­stor­be­nen John Len­non und Ge­or­ge Har­ri­son, sind sehr be­ein­dru­ckend und ha­ben mein Post-Beat­les-Herz hö­her schla­gen lassen.

KA: Jetzt fal­len mir doch noch et­li­che Fra­gen ein, aber ich habe mein selbst­ge­stell­tes Fra­gen-Li­mit er­reicht. Eine letz­te Fra­ge aber doch noch – weg von der Mu­sik zu­rück zur Li­te­ra­tur: Wel­ches Buch wür­dest du un­se­ren Le­sern empfehlen?

RO: Da kann ich mich nur schwer auf ei­nes fi­xie­ren. So gebe ich mal völ­lig un­re­prä­sen­ta­tiv aus  vier li­te­ra­ri­schen Spar­ten je ein Buch an.
Ro­man: „Der Pro­zess“ von Franz Kaf­ka (1925)
Kurz­pro­sa: „Vom ge­räum­ten Meer, den ge­mie­te­ten So­cken und Frau But­ter“ von Ag­la­ja Ve­te­ranyi (2004)
Dra­ma: „Das letz­te Band“ von Sa­mu­el Be­ckett (1958)
Ly­rik: „Buc­kower Ele­gi­en“ von Ber­told Brecht (1964)

KA: Hier tau­chen sie also auch wie­der auf – die Din­ge über die du sprachst. „Ich glau­be an die künf­ti­ge Auf­lö­sung die­ser schein­bar so ge­gen­sätz­li­chen Zu­stän­de von Traum und Wirk­lich­keit in ei­ner Art ab­so­lu­ter Rea­li­tät, wenn man so sa­gen kann: Sur­rea­li­tät. Nach ih­rer Er­obe­rung stre­be ich, si­cher, sie nicht zu er­rei­chen, zu un­be­küm­mert je­doch um mei­nen Tod, um nicht zu­min­dest die Freu­den ei­nes sol­chen Be­sit­zes ab­zu­wä­gen“, schrieb  An­dré Bre­ton, und von dir könn­te man viel­leicht sa­gen: Das Le­ben in sei­nen vie­len Aus­prä­gun­gen ist eine so erns­te An­ge­le­gen­heit, dass man gut dar­an tut, sie nicht zu ernst zu neh­men. Mit Un­ge­duld, ohne sich fest­hal­ten zu las­sen und in kör­per­li­cher wie geis­ti­ger Bewegung.
René, ich wün­sche dir wei­ter viel (Bein-)Freiheit.

Der Rad­wech­sel

Ich sit­ze am Strassenrand
Der Fah­rer wech­selt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
War­um sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

(Ber­tolt Brecht, Buc­kower Elegien)

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch von Rene Ober­hol­zer: Vier Berg-Short-Sto­rys (Kurz­pro­sa)

… so­wie das Li­te­ra­tur-In­ter­view mit dem Ver­le­ger Beat Hüp­pin: „Das qua­li­täts­vol­le Buch hat Zukunft“

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