Ursula Petrik: Die Leiden der Neuen Musik

Unheilvolle Apotheose des Fortschritts

von Wal­ter Eigenmann

In wahr­schein­lich noch kei­ner Epo­che der mehr­tau­send­jäh­ri­gen Mu­sik­ge­schich­te war eine sol­che Dis­kre­panz von Kunst­mu­sik und Hö­rer­schaft zu kon­sta­tie­ren, wie sie spä­tes­tens nach dem Zwei­ten Welt­krieg breit be­merk­bar und auch all­mäh­lich in­ten­si­ver so­zio­lo­gisch, äs­the­tisch und mu­sik­his­to­risch the­ma­ti­siert wur­de, und wie sie sich in­zwi­schen – auch ge­ra­de in un­se­rem Zeit­al­ter der „post­mo­der­nen Be­lie­big­keit“ – zu ei­nem re­gel­rech­ten „Zer­würf­nis“ zwi­schen ori­gi­nä­rem Kom­po­nie­ren und all­ge­mein­ge­sell­schaft­li­chen Hör­kon­ven­tio­nen aus­ge­wach­sen hat.

Akademisch gepflegte Nische

Ur­su­la Pe­trik: Die Lei­den der Neu­en Musik

Die ver­h­eh­ren­de Kon­se­quenz die­ses Drif­tings ist be­kannt: Die sog. Neue Mu­sik (=Avant­gar­de) ist exis­tent, aber sie exis­tiert nicht… Denn ihre Kom­po­si­tio­nen, Kom­po­nis­ten und/oder Prot­ago­nis­ten fris­ten im „Kul­tur­be­wusst­sein“ der All­ge­mein­heit – so­fern die­se über­haupt Kennt­nis nimmt von mehr als „Un­ter­hal­tungs­mu­sik“ – ein al­len­falls aka­de­misch ge­pfleg­tes Ni­schen-Da­sein, ihre Auf­füh­run­gen fin­den meist – trotz der üb­li­chen „Sandwich“-Programmpraxis „Klas­si­sches-Mo­der­nes-Klas­si­sches“ – vor halb­lee­ren Sää­len statt, und kaum, dass ihre Schöp­fer und Aus­füh­ren­den über­haupt Ver­la­ge bzw. No­ten­ma­te­ri­al für Ihre Pro­duk­tio­nen fin­den und nicht viel­mehr selbst­aus­beu­te­risch in völ­li­ger „ei­gen­ver­ant­wort­li­cher“ Iso­la­ti­on ar­bei­ten müssen.
Wel­che mu­si­ka­li­schen Strö­mun­gen, ge­sell­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen und in­di­vi­du­al­kom­po­si­to­ri­schen Mo­ti­ve sind da­für ver­ant­wort­lich, dass der „Neu­en Mu­sik“ sei­tens des Pu­bli­kums kaum Be­ach­tung, ge­schwei­ge denn Zu­stim­mung zu­teil wird? Wel­che „Per­so­nal­sti­le“ füh­ren zu der Kluft zwi­schen ak­tu­el­ler „abend­län­di­scher Ton­spra­che“ und den Er­war­tun­gen bzw. Wün­schen fast al­ler Hö­rer­schich­ten der mo­der­nen Ge­sell­schaf­ten? Ist die kon­se­quen­te Auf­ga­be al­ler To­na­li­tät – wie sie z.B. in der Zwölf­ton-Mu­sik Schönberg’scher Pro­ve­ni­enz erst­mals stil- und schul­bil­dend und bis in un­se­re Tage qua­si der „Mi­ni­mal­kon­sens“ (fast) al­len ar­ri­vier­ten Kom­po­nie­rens wur­de – eine wi­der­na­tür­li­che Igno­ranz ge­gen­über hör­phy­sio­lo­gi­schen bzw. -an­thro­po­lo­gi­schen Gesetzmässigkeiten?

Preisgabe der Tonalität

Die Wie­ner Mu­sik­wis­sen­schaft­le­rin Ur­su­la Pe­trik geht die­sen Fra­gen in ih­rer jüngs­ten Pu­bli­ka­ti­on „Die Lei­den der Neu­en Mu­sik“ nach, in­dem sie die mass­geb­li­chen Ent­wick­lungs­zü­ge in den Mit­tel­punkt hebt, wel­che mit der sog. „Zwei­ten Wie­ner Schu­le“ so­wie den be­rühm­ten bzw. be­deut­sa­men „In­ter­na­tio­na­len Fe­ri­en­kur­sen für Neue Mu­sik“ as­so­zi­iert werden.
Die Au­torin sel­ber über die In­ten­tio­nen ih­rer Ar­beit: „Es wird da­von aus­ge­gan­gen, dass sich be­reits im frü­hen 20. Jahr­hun­dert eine Kluft zwi­schen den äs­the­ti­schen Vor­stel­lun­gen der Kom­po­nis­ten und den Er­war­tun­gen und Wün­schen der Hö­rer auf­ge­tan hat, die bis­lang nicht über­brückt wer­den konn­te.“ […] Als zwei­ter und wohl schwer­wie­gends­ter Fak­tor in die­sem Pro­zess wird die Preis­ga­be der To­na­li­tät gel­tend ge­macht. Da das Phä­no­men „To­na­li­tät“ in­ner­halb der Mu­sik­for­schung ein bis­lang un­ge­lös­tes Pro­blem dar­stellt, wer­den zu­nächst To­na­li­täts­be­trach­tun­gen des 19., 20. und frü­hen 21. Jahr­hun­derts an­ge­führt und dis­ku­tiert. Das Ka­pi­tel be­inhal­tet auch eine aus­führ­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ato­na­li­tät Schön­bergs, We­berns und Bergs, na­ment­lich mit den ver­schie­dent­li­chen Ver­su­chen ih­rer theo­re­ti­schen Recht­fer­ti­gung, mit ih­ren mu­si­ka­li­schen Kon­se­quen­zen so­wie mit den do­ku­men­tier­ten Re­ak­tio­nen sei­tens Mu­sik­kri­tik und Pu­bli­kum auf ihre kom­po­si­to­ri­schen Aus­for­mun­gen. Fer­ner wer­den die nicht ato­na­len Zwölf­ton­theo­rien Jo­sef Mat­thi­as Hau­ers und Oth­mar Stein­bau­ers vor­ge­stellt und in Hin­blick auf Ge­mein­sam­kei­ten und Un­ter­schie­de mit Schön­bergs Zwölf­ton­me­tho­de ver­gli­chen. Ab­schlies­send wird ein Über­blick über die Re­zep­ti­on der Zwölf­ton­mu­sik gegeben.

Progression des musikalischen Materials

Das Fol­ge­ka­pi­tel nennt als wei­te­re Ur­sa­che für die Ent­frem­dung zwi­schen Kom­po­nist und Hö­rer die ra­san­te Pro­gres­si­on auf Ba­sis des mu­si­ka­li­schen Ma­te­ri­als. Das Haupt­au­gen­merk liegt hier­bei auf den Ent­wick­lun­gen, die sich nach 1950 im Kon­text mit den Darm­städ­ter Fe­ri­en­kur­sen er­eig­ne­ten. In die­sem Kon­text wird auch der Ein­fluss von Theo­dor W. Ador­nos „Phi­lo­so­phie der neu­en Mu­sik“ auf das Mu­sik­den­ken der Nach­kriegs-Avant­gar­de nä­her beleuchtet.
Im letz­ten Ka­pi­tel wird die Ab­sa­ge der Kom­po­nis­ten des 20. Jahr­hun­derts an das Pu­bli­kum als ur­säch­li­cher Fak­tor für die bei­der­sei­ti­gen Kon­takt­schwie­rig­kei­ten er­ör­tert. Es wird hin­ter­fragt, in­wie­fern das mu­sik­äs­the­ti­sche und -phi­lo­so­phi­sche Schrift­tum die so­zia­le Iso­la­ti­on der Neu­en Mu­sik be­ein­fluss­te und wel­che Rol­le die Mas­sen­me­di­en als de­ren För­de­rer da­bei spielten.“

Eine praxisorientierte Bestandesaufnahme

Ur­su­la Pe­triks „Die Lei­den der Neu­en Mu­sik“ ist – in ih­rer de­tail­rei­chen Do­ku­men­tiert­heit und gleich­zei­tig in ih­rer durch­dach­ten Fo­kus­sie­rung auf die so­wohl mu­sik­theo­re­tisch wie -so­zio­lo­gisch prä­gen­den „Main­streams“ des ex­trem kom­ple­xen Phä­no­mens „Neue Mu­sik“ – eine eben­so will­kom­me­ne wie elo­quen­te Ab­hand­lung, und zu­gleich eine durch­aus pra­xis­ori­en­tier­te Be­stan­des­auf­nah­me, die sich nicht beim his­to­ri­sie­ren­den Be­fund be­schei­det, son­dern  die ge­sam­te Viel­falt des Kon­tex­tes, also auch die öko­no­mi­schen, ideo­lo­gi­schen bzw. kul­tur­po­li­ti­schen Im­ma­nenzen berücksichtigt.
Scha­de nur, dass die­ser ho­hen in­halt­li­chen Qua­li­tät des Ban­des das druck­tech­ni­sche Er­schei­nungs­bild zu­wi­der­läuft (was durch den an­ge­nehm tie­fen Preis nicht wett­ge­macht wird): Teils lieb­lo­se Ty­po­gra­phie und v.a. mi­se­ra­ble Buch­bin­dung soll­ten in ei­ner (hof­fent­lich nö­ti­gen) zwei­ten Auf­la­ge un­be­dingt ver­bes­sert werden.
Da­von aber ab­ge­se­hen: Wer sich an der Dis­kus­si­on über die sog. „Neue Mu­sik“ be­tei­li­gen will (oder z.B. aus schu­li­schen Grün­den be­tei­li­gen muss), kommt an die­sem her­vor­ra­gen­den, ana­ly­tisch prä­zi­sen und kennt­nis­reich prä­sen­tier­ten Trak­tat Pe­triks nicht vor­bei. Durch­aus emp­feh­lens­wert auch für „Lai­en und Ama­teu­re“, wel­che sich eine mi­ni­ma­le Of­fen­heit ge­gen­über neu­en mu­sik­kul­tu­rel­len Ent­wick­lun­gen be­wahrt ha­ben – und viel­leicht mal den ob­li­ga­ten „Abend mit Mo­zart und Beet­ho­ven“ aus­tau­schen zu­guns­ten der Neu­gier auf eine (ers­te?) Be­geg­nung mit Schönberg&Co… ♦

Ur­su­la Pe­trik, Die Lei­den der Neu­en Mu­sik – Die pro­ble­ma­ti­sche Re­zep­ti­on der Mu­sik seit etwa 1900, Edi­ti­on Mo­no­chrom Wien, 164 Sei­ten, ISBN 978-3950237245

Inhalt

       Vorwort                                                                  7
       Danksagung                                                               9
I.     Die Entwicklung der bürgerlichen Musikkultur                            11
       und der Musikanschauung bis 1900
LI.    Zur gesellschaftlichen Situation der Musikschaffenden um 1800           11
1.2.   Rückwendung zur musikalischen Vergangenheit                             14
1.3.   Tradition wider Innovation                                              17
1.4.   Widerläufige ästhetische Konzepte                                       21
1.5.   Eskalationen im Zuschauerraum                                           26
1.6.   Auseinandertreten von Kunst- und Trivialmusik                           28
1.7.   Konsequenzen                                                            44
2.     Die Entfremdung zwischen Komponist und Hörer                            48
2.1.   Voraussetzungen: Das Ende der verbindlichen Tonsprache                  49
2.2.   Die Preisgabe der Tonalität                                             56
2.2.1. Die Rolle der Musiktheorie bei der „Auflösung der Tonalität"            58
2.2.2. Tonalitätsbetrachtungen des späteren 20. und frühen 21. Jahrhunderts    61
2.2.3. Schönbergs Konsonanz-Dissonanz-Betrachtung                              64
2.2.4. Musikalische Konsequenzen der Preisgabe der Tonalität                   66
2.2.5. Hypothesen zu einem „atonalen Tonsatz"                                  69
2.2.6. Reaktionen auf die frühe atonale Musik                                  70
2.2.7. Formprobleme der frei atonalen Musik                                    88
2.2.8. Restitution der Fasslichkeit durch Schönbergs Zwölftonmethode?          90
2.2.9. Andere Zwölftonschulen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede               107
2.2.1. Zur Rezeption der Zwölftonmusik 114 2.2.11. Schlussbetrachtung         119
2.3.   Die Apotheose des Fortschritts                                         121
2.4.   Absage an das Publikum                                                 142
       Schlussbetrachtung und Ausblick                                        152
       Literatur - eine Auswahl                                               155
       Personen- und Sachregister                                             157

Leseprobe

Ur­su­la Pe­trik: Die Lei­den der Neu­en Mu­sik (Le­se­pro­be)

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Mu­sik und Ge­sell­schaft auch den Es­say von
Frie­der W. Berg­ner: Das U und das E in der Musik

… so­wie zum The­ma „To­na­li­tät und Dis­so­nan­zen“ über
Lutz Jän­cke: Macht Mu­sik schlau? (Mu­sik und Emotionen)

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