Heute vor … Jahren: Die Zofen (Jean Genet)

Ungeheure Träume träumender Ungeheuer

Über „Die Zofen“ von Jean Genet

von Walter Eigenmann.

Am 17. April 1947 hat das Pa­ri­ser Thé­at­re de l’Athéne auf sei­nem Spiel­plan die Ur­auf­füh­rung ei­nes Stü­ckes, des­sen Au­tor im Säug­lings­al­ter von sei­ner Mut­ter, ei­ner Pro­sti­tu­ier­ten, der Für­sor­ge über­ge­ben wird, und der schon in sei­ner Ju­gend­zeit als Strich­jun­ge, va­ga­bun­die­ren­der Dieb, Schwu­len-Zu­häl­ter und schliess­lich als mehr­jäh­ri­ger Sträf­ling je­nes Ver­wor­fe­nen-Le­ben lebt, das spä­ter zur zen­tra­len Staf­fa­ge, ja zur ze­le­brier­ten Un­ter- und Ge­gen-Welt des to­ta­len Wer­te-Ne­gie­rens in fast al­len sei­nen Ro­ma­nen und Stü­cken er­ho­ben wird. Die Rede ist von dem fran­zö­si­schen Schrift­stel­ler, Dra­ma­ti­ker und Poe­ten Jean Ge­net (1910-1986) – und von sei­nem ab­surd-gro­tes­ken Pro­sa-Ein­ak­ter „Die Zo­fen“ (Les Bonnes).

Jean Ge­net (1910-1986)

Die Zo­fen, das sind die Schwes­tern Clai­re und So­lan­ge, wel­che die­nend gleich­sam zum le­ben­den Mo­bi­li­ar in der rei­chen Sa­lon-Welt ei­ner „gnä­di­gen Frau“ er­nied­rigt sind, die aber, ist die Herr­schaft aus dem Haus, zu ei­ge­nem Spiel und Traum um­sie­deln, um dort ih­ren Herr­schafts-Trie­ben, ih­ren Ver­gel­tungs-Sehn­süch­ten, ih­rer ge­gen­sei­ti­gen Hass-Lie­be und ih­rem Ver­nich­tungs­rausch zu frönen.

Der Mord als Katharsis

Pla­kat der „Zofen“-Verfilmung mit Glen­da Jack­son und Su­san­na York

Ihr Mord-Plan, die Her­rin zu ver­gif­ten, nach­dem sie de­ren Ge­lieb­ten be­reits an­onym de­nun­ziert und (wie sie mei­nen) für im­mer ins Ge­fäng­nis ge­bracht ha­ben, ist der ers­te Schritt zur ei­ge­nen Er­lö­sung, die das so­zia­le Ge­fü­ge neu­tra­li­sie­ren und die bei­den Zo­fen sel­ber im phan­tast­ma­go­rischen Rol­len-Spiel als Die­ne­rin und als Her­rin in­stal­lie­ren soll. Clai­re (als neue Her­rin) und So­lan­ge ver­stri­cken sich qual­voll lei­dend und lüs­tern ge­nies­send zu­gleich in ihre grau­sam-lust­vol­le Traum-Flucht hin zur selbst­ge­wähl­ten Knecht­schaft, die sie be­frei­en soll. Der Zo­fen ge­nüss­lich-mor­bi­de Spiel-Lust an der Un­ter­wer­fung wie der Un­ter­drü­ckung macht sie zu „Un­ge­heu­ern – wie wir sel­ber, wenn wir die­ses oder je­nes träu­men“ (Ge­net). Als die psy­cho­lo­gisch kon­se­quent vor­an­ge­trie­be­ne Apo­theo­se die­ser Lie­be-Hass- und Herr­schaft-Un­ter­wer­fung-Am­bi­va­lenz naht, kippt die erst ge­spielt-vir­tu­el­le Iden­ti­täts-Flucht der bei­den Zo­fen in die tra­gi­sche Rea­li­tät: Her­rin ist nun Clai­re, und die­se trinkt das für die „Gnä­di­ge“ be­stimmt Gift, „wäh­rend So­lan­ge un­be­weg­lich mit dem Ge­sicht zum Pu­bli­kum steht, die Hän­de über­kreuzt, als ob sie Hand­schel­len trüge“.
Der „Ko­mö­di­ant und Mär­ty­rer Saint Ge­net“, wie Sart­re in sei­nem gleich­na­mi­gen um­fang­rei­chen Es­say die­sen so­wohl bio­gra­phisch wie li­te­ra­risch so­li­tä­ren Skan­dal-Au­toren nennt, in­ter­pre­tiert sel­ber „Die Zo­fen“ we­der als So­zi­al­kri­ti­ker noch als Psy­cho­lo­ge oder gar Mo­ra­list, son­dern als Poet: „Ich ver­such­te, eine Di­stan­zie­rung zu er­rei­chen, die gleich­zei­tig ei­nen de­kla­ma­to­ri­schen Ton zu­las­sen und es er­mög­li­chen soll­te, das Thea­tra­li­sche ins Thea­ter zu brin­gen. Ich hoff­te, da­durch die Cha­rak­te­re ab­zu­schaf­fen… und sie durch Sym­bo­le er­set­zen zu kön­nen, die so weit wie mög­lich von dem ent­fernt sein soll­ten, was sie ei­gent­lich ver­kör­per­ten, und doch wie­der eng da­mit ver­knüpft, um als ein­zi­ges Bin­de­mit­tel zwi­schen Au­tor und Pu­bli­kum die­nen zu kön­nen. Kurz, ich woll­te er­rei­chen, dass die Fi­gu­ren auf der Büh­ne nur noch Me­ta­phern des­sen wa­ren, was sie dar­stel­len soll­ten.“ Die selbsti­ma­gi­nier­te Hass- und Ekel-Es­ka­la­ti­on der Zo­fen wird so zur Ze­le­brie­rung ei­nes Ri­tu­als, wel­ches das Ver­bre­chen als rei­ni­gen­de Kult-Hand­lung zen­triert: Der Mord als Katharsis.

Krankhaft überhöhte Leidensfähigkeit der Protagonisten

Die zwei Schwestern
Die In­spi­ra­ti­on für sei­nen „Zofen“-Handlungsrahmen hol­te sich Ge­net bei ei­nem wah­ren Mord­fall im fran­zö­si­schen Städt­chen Mans, wo die bei­den Ge­schwis­ter Chris­ti­ne (28) und Léa Pa­pin (21) schon lan­ge in ei­nem bür­ger­li­chen, äus­sert streng ge­führ­ten Haus­halt in der Pro­vinz­stadt Mans als Dienst-Mäd­chen an­ge­stellt wa­ren. Wie sich die Tra­gö­die ab­spiel­te, schil­dert Ed­mund White in sei­nem Buch „Jean Ge­net“ (Mün­chen 1993): „Ei­nes Ta­ges ver­sag­te die Elek­tri­zi­tät im Haus. Da die Fa­mi­lie nicht da war, tru­gen die Dienst­mäd­chen die Ver­ant­wor­tung. Als Mut­ter und Toch­ter nach Hau­se ka­men, be­schimpf­ten sie die Schwes­tern, die in ei­nem Wut­an­fall Mut­ter und Toch­ter die Au­gen aus­kratz­ten und sie tö­te­ten. Dann ver­stüm­mel­ten sie die Lei­chen und ba­de­ten die eine im Blut der an­de­ren. Nach ge­ta­ner Ar­beit wu­schen sie ihre Werk­zeu­ge, nah­men ein Bad und leg­ten sich im Bett zur Ruhe mit den Wor­ten: ‚Da ha­ben wir uns aber was ge­leis­tet!‘ Die Schwes­tern wa­ren im­mer un­zer­trenn­lich ge­we­sen, selbst in ih­ren Fe­ri­en. Bei ih­rem Pro­zess wa­ren sie aus­ser­stan­de, ein Mo­tiv für ihr Ver­bre­chen zu nen­nen. Ihr ein­zi­ges In­ter­es­se war, die Schan­de ge­mein­sam zu tra­gen. Nach fünf Mo­na­ten im Ge­fäng­nis, wäh­rend de­rer sie von ih­rer jün­ge­ren Schwes­ter ge­trennt war, brach Chris­ti­ne zu­sam­men und ver­such­te, dies­mal sich selbst die Au­gen aus­zu­krat­zen. Als sie in eine Zwangs­ja­cke ge­steckt wur­de, mach­te sie obs­zö­ne Ver­ren­kun­gen, dann fiel sie in Schwer­mut. Nach­dem die bei­den Mäd­chen zur Guil­lo­ti­ne ge­führt wur­den, sank Chris­ti­ne auf die Knie.“
Wal­ter Eigenmann

Auf die (im bio­gra­phi­schen Kon­text durch­aus na­he­lie­gen­de) Fra­ge, war­um er nie ei­nen Mord ver­übt habe, ent­geg­ne­te ein­mal der ho­mo­se­xu­el­le Kri­mi­nel­le und ewi­ge Flücht­ling Ge­net ent­waff­nend: „Wahr­schein­lich, weil ich mei­ne Bü­cher ge­schrie­ben habe“. Und die Kom­pro­miss­lo­sig­keit, mit wel­cher die­ser Au­tor – des­sen Le­ben sich vor ei­nem bür­ger­li­chen Blick wie ein ein­zi­ger tra­gi­scher Witz aus­brei­tet – die über­hö­hen­de wie krank­haft über­höh­te Lei­dens­fä­hig­keit sei­ner Prot­ago­nis­ten bis zur bit­te­ren Nei­ge aus­kos­tet, wird nur noch über­trof­fen durch die ab­sur­den, schier ir­rea­len Tri­via­li­tä­ten, wel­che all die­se Düs­ter­nis und die­ses Schei­tern in Ge­nets teils per­ver­sen, teils ins Re­li­gi­ös-Hei­li­ge ge­stei­ger­ten Welt(en) aus­zu­lö­sen ver­mö­gen. Dass sich der Exis­ten­zia­list Sart­re und der frü­he Coc­teau so­wie in der Fol­ge sol­che nam­haf­ten Un­der­ground- und Beat-Schrift­stel­ler wie Al­len Gins­berg, Wil­liam Bur­roughs, Jack Ke­rouac oder Gre­go­ry Cor­so bis zu Charles Bu­kow­ski auf Jean Ge­net als ei­nen ih­rer li­te­ra­ri­schen Ani­ma­teu­re be­ru­fen, ist also kei­nes­wegs zufällig.

Omnipräsente Spur der Moralität

Von „Not­re­Da­me-des-fleurs“ (1944) und sei­ner stän­di­gen Kon­fron­ta­ti­on mit der Pro­ble­ma­tik des Tö­tens über „Le bal­con“ (1957) mit der zen­tra­len In­ten­ti­on „Die Welt ist ein Bor­dell“ bis hin zu der gi­gan­to­ma­nen, thea­tra­lisch nicht mehr zu be­wäl­ti­gen­den To­ten­tanz-Opu­lenz der „Pa­ra­vents“ (1961) – Ge­net nann­te die­se sei­ne „Wän­de“ mass­los ver­nied­li­chend ein „Mär­chen­spiel“, ein „Fest, ge­wid­met den Le­ben­den wie den To­ten“ – durch­zieht da­bei das ge­sam­te um­fang­rei­che Ge­net-Oeu­vre eine om­ni­prä­sen­te Spur der ge­walt­sams­ten Obs­zö­ni­tät und der ob­ses­sivs­ten Miss­ach­tung al­ler ge­sell­schaft­lich de­ter­mi­nier­ten Mo­ra­li­tät. An­ders als etwa Hen­ry Mil­ler, des­sen über­stei­ger­te „li­te­ra­ri­sche Se­xua­li­tät“ (zu­min­dest an­fäng­lich) ba­nals­te mo­ne­tä­re Ur­sa­chen hat­te, ist Ge­net der wahr­haft Be­ses­se­ne, der Bil­der-Jun­kie, der Apo­theo­ti­ker auch der phal­li­schen (prä­zi­ser: homo-ero­ti­schen) Vi­ri­li­tät, dem al­ler Un­ter­leib zu Kopf steigt. Jean Ge­net, das ist ein ein­zi­ger per­ma­nen­ter Tabu-Bruch, und das an Leib und Seele.
Zu­recht ist in der Ge­net-For­schung auf die nicht nur the­ma­ti­sche, son­dern auch sti­lis­ti­sche Par­al­le­li­tät Ge­nets zur eben­falls ba­rock-opu­len­ten Mons­trö­si­tät ei­nes sei­ner „Vor­gän­ger“, näm­lich des Mar­quis de Sade hin­ge­wie­sen wor­den. Gleich wie bei je­nem – und wie­der an­ders als bei Mil­ler – kommt die Pro­sa, kom­men auch die Dra­men Ge­nets, bei all ih­rer per­vers-kri­mi­nel­len Nar­ra­ti­on, selt­sam re­flek­to­risch da­her, Dia­lo­ge und Schil­de­run­gen sind sei­ten­wei­se ver­setzt mit qua­si-phi­lo­so­phi­schen Ex­kur­sen – ir­ri­tie­ren­de Re­fle­xio­nen, wel­che die Sym­bo­lik ein­zel­ner Hand­lungs­strän­ge sel­ten er­klä­ren, meist viel­mehr vor­an­trei­ben. In zwang­haf­ter Fa­ta­li­tät brei­tet so fast je­des Ge­net-Werk je eine ei­ge­ne wahr­li­che Äs­the­tik des Bö­sen aus – Der „Querelle“-Verfilmer Rai­ner Wer­ner Fass­bin­der nennt das 1982 den „Pakt mit dem Teu­fel“ -, die des­il­lu­sio­nie­ren­de Ana­ly­se mensch­li­chen Zu­sam­men­le­bens wird zur buch­stäb­li­chen Sprach-Ge­walt. In ei­nem Ge­schwis­ter-Dia­log der „Zo­fen“ wird das ex­em­pla­risch im Hin­blick auf mensch­li­che Bin­dun­gen for­mu­liert: „Ich möch­te dir hel­fen. Ich möch­te dich trös­ten, aber ich weiss, ich ekle dich an. Ich stos­se dich ab. Ich weiss es, weil du mich an­ekelst. Lie­be in Knecht­schaft ist kei­ne Liebe.“

Unentrinnbarer Identitäts-Zwiespalt

Die Ge­net-Freun­de Pi­cas­so und Coc­teau (1955 bei ei­ner Corrida)

Zwar sind die „Zo­fen“ in ih­rer psy­cho­pa­thi­schen In­di­vi­du­al­sphä­re ein Drei-Per­so­nen-Bin­nen­stück, aber de­ren un­ent­rinn­bar ver­stri­cken­der Iden­ti­täts-Zwie­spalt, ei­nes der gros­sen Leit-Mo­ti­ve Ge­nets, hat Ge­net sel­ber hoch­trans­po­niert in sei­ne ei­ge­ne, post-li­te­ra­ri­sche Le­bens-Pha­se, da er sich vor­nehm­lich als po­li­ti­scher Ak­ti­vist be­tä­tig­te: Als Viet­nam­krieg-Geg­ner, aber auch als RAF-Sym­pa­thi­sant; als Ara­fat-Freund im pa­läs­ti­neni­schen Frei­heits­kampf, aber auch – welt­weit kri­ti­siert – als „ein­fühl­sa­mer“ Ver­ste­her des „Dich­ters“ Hit­ler, über den er (nur ein Jahr nach dem Zwei­ten Welt­krieg!) schreibt: „Dich­ter, der er war, ver­stand er, sich des Bö­sen zu be­die­nen. Er zer­stör­te um der Zer­stö­rung wil­len, er tö­te­te, um zu tö­ten.“ Und: „Der Füh­rer schick­te sei­ne schöns­ten Män­ner in den Tod. Das war die ein­zi­ge Mög­lich­keit, die er hat­te, um sie alle zu besitzen.“

Entindividualisierung bis zur existenziellen Nackheit

Hier wird noch beim spä­ten Ge­net ein zwei­tes le­bens­lan­ges li­te­ra­ri­sches Mo­tiv die­ses Al­le­go­rien-Hym­ni­kers ver­stärkt auf den Punkt ge­bracht: Die Ent­in­di­vi­dua­li­sie­rung der Prot­ago­nis­ten, die am Ende ih­res Um­wand­lungs­pro­zes­ses nur noch als exis­ten­zi­el­le Nackt­hei­ten vor­han­den sind – als „In­sze­nie­rung ih­rer äus­ser­li­chen Form“, wie es die Ge­net-Ana­ly­ti­ke­rin Mi­chae­la Wünsch ein­mal formulierte.

Wie fast alle sei­ne Stü­cke wur­de „Die Zo­fen“ – der Dra­men-Erst­ling Ge­nets – vom scho­ckier­ten zeit­ge­nös­si­schen Thea­ter-Pu­bli­kum nicht ver­stan­den, son­dern boy­kot­tiert, die Erst­auf­füh­rung ge­riet zum De­sas­ter, auch für den Re­gis­seur Lou­is Jou­vet. Noch war die Zeit 1947 nicht reif für ei­nen Jean Ge­net – nicht für den Hei­li­gen, und nicht für den Sünder. ♦

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin in der Ru­brik „Heu­te vor…“ auch über das Dra­ma von Hen­rik Ib­sen: Peer Gynt
aus­ser­dem zum The­ma Li­te­ra­tur-Ver­fil­mung über Chris­ti­an Pet­zold: Undine

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)Antwort abbrechen