Lothar Becker: Das Erzgebirge, die Stasi und ich (Satire)

Das Erzgebirge, der Wald, die Stasi und ich

Lo­thar Becker

Ich war ein Idi­ot. Und was für ei­ner! Im Ok­to­ber 89 habe ich an­ge­fan­gen, für die Sta­si zu ar­bei­ten. Im Ok­to­ber 89. Wie kann man nur so blöd sein, wer­det ihr fra­gen. Im Ok­to­ber 89 ist doch mit der DDR schon al­les vor­bei ge­we­sen. Ich weiss, ich weiss. Rück­bli­ckend bin ich ja der­sel­ben Ansicht.
Aber ich schwö­re, da­mals habe ich nichts ge­ahnt. Wirk­lich. Ich dach­te, das geht im­mer so wei­ter mit der Zone und mit den Ost­mäch­ten und mit den West­mäch­ten und mit dem Ei­ser­nen Vor­hang und al­le­dem. Die Be­ton­köp­fe sind nicht re­for­mier­bar, habe ich ge­dacht. Die kle­ben an ih­rer Macht. An den Ver­hält­nis­sen wird sich in den nächs­ten fünf­hun­dert Jah­ren nichts än­dern. War­um ich das ge­dacht habe, weiss ich bis heu­te nicht. Viel­leicht habe ich mich et­was zu oft im Wald auf­ge­hal­ten und des­we­gen das eine oder an­de­re nicht mitbekommen.
Ich bin eben ein Erz­ge­birg­ler wie er im Bu­che steht. Na­tur­ver­bun­den, hei­mat­lie­bend. Im Wald war die DDR noch sta­bil. Da war es wie im­mer. Im Wald gab es kei­ne po­li­ti­schen Erup­tio­nen. Im Wald gab es kei­nen Gor­bat­schow und kein Neu­es Fo­rum. Manch­mal kam ei­ner vor­bei, der sah aus wie Rai­ner Ep­pel­mann. Aber er war es dann doch nicht. Ich muss sa­gen, im Wald habe ich mich nicht ein­ge­sperrt gefühlt.
Aber sonst im­mer. Ein­ge­sperrt und be­ob­ach­tet. Und be­lauscht. Vor al­lem be­lauscht. Weil ich Mu­sik ge­macht habe, Songs ge­schrie­ben und so. Pro­test­songs. In erz­ge­bir­gi­schem Dia­lekt. Denn ich woll­te Frei­heit, die Um­wäl­zung, den Ka­pi­ta­lis­mus. Na­tür­lich, was denn sonst. Das woll­ten ja alle da­mals. Aber ich hat­te kei­ne Ah­nung, dass im Ok­to­ber 89 po­li­tisch schon ei­ni­ges im Gan­ge ge­we­sen ist. Die Pe­re­stroi­ka hat­te ich ir­gend­wie ver­passt. Im Wald sind die Ver­hält­nis­se wie all die Jah­re da­vor ge­we­sen, und ich habe mit mei­nen Lie­dern ge­gen die­se Wald­ver­hält­nis­se an­ge­kämpft. Auf erz­ge­bir­gisch. Ich war ein Mundart-Dissident.

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Aber war­um bist du dann zum Sta­si ge­gan­gen, wer­det ihr fra­gen? Das ist kom­pli­ziert. So kom­pli­ziert wie al­les da­mals. Ich will ver­su­chen, es euch zu er­klä­ren. Da­mals muss­te man um die Ecke den­ken, wenn man die Macht­ha­ber aus­trick­sen woll­te, man muss­te für et­was sein, wenn man ge­gen es sein woll­te, und um­ge­kehrt muss­te man ge­gen et­was sein, wenn man da­für sein woll­te. Ver­steht ihr? Also wenn man so tat, als wäre man für die be­stehen­den Ver­hält­nis­se, konn­te man leich­ter ge­gen sie sein, und ge­nau das habe ich gemacht.
Im Klar­text: Zur Sta­si bin ich ge­gan­gen, weil ich in den Wes­ten woll­te. Na­tür­lich nur zu Be­such. Mit ei­nem Vi­sum. Ich woll­te auf je­den Fall wie­der zu­rück­kom­men. Ohne mein Erz­ge­bir­ge wäre ich ja zu Grun­de ge­gan­gen. Trotz­dem muss­te ich mal rü­ber. Aus künst­le­ri­schen Grün­den. Ich hat­te von Gun­der­mann ge­hört, der aus dem­sel­ben Grund mit der Sta­si zu­sam­men­ge­ar­bei­tet hat­te. Ger­hard Gun­der­mann, der sin­gen­de Bag­ger­fah­rer. Gun­der­mann woll­te im Wes­ten auf­tre­ten und be­rühmt wer­den. Das woll­te ich auch. Im Wes­ten konn­te man Kar­rie­re ma­chen. Wer es im Wes­ten schaff­te, war der Held. Und der wäre ich gern gewesen.
Also habe ich mich in An­na­berg als IM bei der Sta­si be­wor­ben. Mein Füh­rungs­of­fi­zier hiess Ralf und trug zwei Par­tei­ab­zei­chen, um sei­ne un­ver­brüch­li­che Treue zum Ar­bei­ter- und Bau­ern­staat zu zei­gen. „Ich zah­le auch zwei Mal die Mit­glieds­bei­trä­ge“, sag­te er, „die Par­tei ist mein Ein und Al­les.“ Ralfs Deck­na­me war Rolf. Ich muss­te ihn Rolf nen­nen, da­mit sei­ne Iden­ti­tät nicht aufflog.
„War­um willst du inn­of­fi­zi­el­ler In­for­mant wer­den?“, frag­te Rolf.
„We­gen Dings, na hier Sieg des So­zia­lis­mus und so“, sag­te ich.
„Duf­te“, sag­te Rolf, „und wie willst uns helfen?“
„Als Spit­zel“, sag­te ich, „in­dem ich den Klas­sen­feind denunziere!“
„Je­mand be­stimm­tes?“, er­kun­dig­te sich Rolf.
„Nee, ge­ne­rell“, sag­te ich.
„Na­men“, sag­te Rolf, „wir brau­chen Namen.“
„Hm“, sag­te ich und über­leg­te. Ich kann­te nur Sven. Sven hat­te zu­sam­men mit Voj­tech, ei­nem Be­kann­ten aus Te­pli­ce be­gon­nen, T-Shirts aus su­da­ne­si­schen Tex­til­ab­fäl­len her­zu­stel­len. Wei­te­re Stoff­res­te er­hiel­ten sie vom af­gha­ni­schen Mi­li­tär und ei­ner al­ba­ni­schen Fa­brik für pro­tes­tan­ti­sche Her­ren­un­ter­wä­sche. Sven und Voj­tech schrie­ben „Schwer­ter zu Pflug­scha­ren“ oder „Lie­ber tot als rot“ auf die Stof­fe, und drei tsche­chi­sche Nä­he­rin­nen sas­sen Tag und Nacht an ih­ren Näh­ma­schi­nen, denn die Nach­fra­ge nach T-Shirts war in Ost­deutsch­land über­wäl­ti­gend. Sven und Voij­tech be­fan­den sich auf dem bes­ten Weg, mit ih­ren Pro­duk­ten reich zu wer­den. Dass sie da­mit der Volks­wirt­schaft und dem An­se­hen der Re­pu­blik und al­lem scha­de­ten, war ih­nen egal.

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Zu­fäl­li­ger­wei­se wuss­te ich, dass Sven am 28. Ok­to­ber eine neue Lie­fe­rung über den Grenz­über­gang Ober­wie­sen­thal ge­plant hat­te. Ich wuss­te es des­we­gen, weil ich mir bei ihm ein T-Shirt mit der Auf­schrift „Sta­si in den Ta­ge­bau“ be­stellt hat­te, und es noch am sel­ben Abend in Crot­ten­dorf ab­ho­len wollte.
Rolf freu­te sich. „Da­für stel­len wir ei­ni­ge Ge­nos­sen ab!“, be­stimm­te er, „wenn die Sa­che funk­tio­niert, dann kön­nen wir auch was für dich tun!“ Na, das lief doch prima!
Tat­säch­lich hat­te sich Sven dann am 28. Ok­to­ber mit sei­nen drei Nä­he­rin­nen, Olga, La­ris­sa und Jana in ei­nem bis un­ter die De­cke mit T-Shirts voll­ge­pack­ten Ta­tra von Te­pli­ce zum Grenz­über­gang Ober­wie­sen­thal auf den Weg ge­macht. Nun weiss ich nicht, wer von euch schon ei­nen Ta­tra ge­se­hen hat, aber al­len, die das Fahr­zeug nicht ken­nen, kann ich ver­si­chern, es war der schwers­te PKW sei­ner Zeit. Ein rus­si­sches Pro­dukt, das ge­macht wur­de, um sich durch den si­bi­ri­schen Schnee zu frä­sen, und ne­ben­her al­les von der Fahr­bahn zu schleu­dern, was dort nicht hin­ge­hör­te: kraft­strot­zen­de Wild­rin­der, El­che oder Bä­ren zum Bei­spiel, wirk­lich alles.
Dum­mer­wei­se war Sven wäh­rend des stei­len An­stie­ges zum Zoll­ge­bäu­de der Sprit aus­ge­gan­gen. Das mag am zu­sätz­li­chen Ge­wicht der vier­tau­send, ins Wa­gen­in­ne­re ge­press­ten T-Shirts ge­le­gen ha­ben, aber auch an Olga, die nicht ganz so dürr wie La­ris­sa und Jana ge­we­sen ist. „Scheis­se!“, hat­te Sven ge­ru­fen, „Olga, La­ris­sa, Jana! Aus­stei­gen und schie­ben!“ Olga, La­ris­sa und Jana stie­gen aus und be­gan­nen, den Sko­da die steil an­stei­gen­de Stras­se von Bozi Dar zum Grenz­über­gang nach oben zu schie­ben. Sven sass hin­ter dem Steu­er und lenk­te, und nur, wenn La­ris­sa, Olga und Jana zu schnell wa­ren, brems­te er ein wenig.
Die Zoll­be­am­ten krieg­ten sich kaum ein vor La­chen, als Olga, La­ris­sa und Jana das Auto vor ih­nen ab­stell­ten, aber dann wink­ten sie Sven zur Sei­te, und nah­men den Wa­gen gründ­lich aus­ein­an­der. „Zoll?“, frag­te ei­ner der tsche­chi­schen Beamten.
„Nix Zoll!“, er­bos­te sich Sven, „Ei­gen­be­darf. Das zie­he ich al­les sel­ber an!“
„Ha, ha!“, sag­ten die Zoll­be­am­ten und kon­fis­zier­ten den ge­sam­ten Wa­gen­in­halt. Dann sperr­ten sie Sven, La­ris­sa, Olga und Jana zwei Stun­den lang ein, te­le­fo­nier­ten mit ih­ren Vor­ge­setz­ten und lies­sen sie schliess­lich wie­der ge­hen. Ohne die T-Shirts ver­steht sich. Da schüt­tel­te Sven re­si­gniert den Kopf, setz­te sich hin­ters Steu­er und liess sich von Olga, La­ris­sa und Jana zu­rück nach Te­pli­ce schieben.

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Un­ten in Crot­ten­dorf war­te­ten ich und die an­de­ren Ge­nos­sen der Sta­si bis zum Mor­gen­grau­en auf Sven und die T-Shirts, aber als ab­zu­se­hen war, dass er nicht mehr auf­tau­chen wür­de, blies Rolf den Ein­satz ab. „Na, das war ja wohl nichts!“, kon­sta­tier­te er, „ich hof­fe, wir ha­ben kei­nen Ver­rä­ter in un­se­ren Rei­hen!“ Da­mit war ich ge­meint. Da habe ich „Ach, so ist das!“ ge­ru­fen, und bin ge­gan­gen. Wenn eine Tür da ge­we­sen wäre, hät­te ich sie zu­ge­knallt. War aber nicht.
Ein paar Wo­chen spä­ter fiel die Mau­er. Nach der Wen­de in­ter­es­sier­te sich kein Mensch mehr für sin­gen­de Mund­art-Dis­si­den­ten. We­der im Os­ten noch im Wes­ten. Fragt Gun­der­mann! Wie so vie­le an­de­re auch muss­te ich mich im Ar­beits­amt in An­na­berg mel­den. Und nun stellt euch ein­mal vor, wer mir da als Sach­be­ar­bei­ter ge­gen­über­sass: Es war Rolf!
„Mensch Rolf!“, rief ich, „das ist ja viel­leicht eine Überraschung!“
„Tut mir leid, hier gibt es kei­nen Rolf!“, sag­te Rolf, „ich heis­se Ralf!“
„Al­les klar, Ralf!“, sag­te ich, „ich brau­che ei­nen Job, hörst du?“
„Schwie­rig, schwie­rig“, mur­mel­te Rolf, „mit dei­ner Ver­gan­gen­heit! Du warst doch bei der Sta­si, oder?“
„An­de­re doch auch!“, sag­te ich.
„So? Wer denn?“, er­ei­fer­te sich Rolf.
„Das weisst du doch ganz ge­nau!“, sag­te ich.
„Ich?“, brüll­te Rolf, „Ich soll was wis­sen? Das ist doch wohl die Höhe! Mein gan­zes Le­ben lang habe ich ge­gen das Re­gime ge­kämpft, nie­mand war ak­ti­ver im Un­ter­grund als ich! Das fehl­te noch, dass ich von ei­nem Sta­si-Spit­zel als Sta­si-Spit­zel de­nun­ziert wer­de! Aus­ge­rech­net ich, eine Säu­le des Wi­der­stan­des. Und ich soll dir ei­nen Job ver­sor­gen? Das kannst du ein für alle Mal ver­ges­sen. Und jetzt raus hier, aber dalli!“
Da habe ich mich wort­los um­ge­dreht, die Tür hin­ter mir zu­ge­schla­gen, und bin wie­der in den Wald ge­gan­gen. Im Wald wa­ren die Ver­hält­nis­se wie im­mer. Im Wald war es noch wie im Os­ten. Manch­mal kam ei­ner vor­bei, der sah aus wie Ibra­him Böh­me. Aber er war es dann doch nicht. ♦


Lothar Becker - Schriftsteller Publizist - Glarean MagazinLo­thar Becker

Geb. 1959 in Lim­bach-Ober­frohna/D, zahl­rei­che Ly­rik- und Pro­sa-Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, Ver­öf­fent­li­chun­gen von Mu­si­cal- und Thea­ter-Stü­cken, lebt als Ju­gend-So­zi­al­päd­ago­ge, Mu­si­cal-Kom­po­nist und Band-Mu­si­ker in Lembach/D

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma DDR-Mau­er­fall auch über den Ro­man von
Ros­wi­tha Quad­flieg und Burk­hart Ve­igel: Frei

aus­ser­dem zum The­ma Po­li­tik und Ge­sell­schaft eine wei­te­re Sa­ti­re von
Lo­thar Be­cker: Hit­ler in der U-Bahn

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Ein Kommentar

  1. Coo­ler Text, hat amü­siert, dan­ke – legt auch nach­denk­lich den Fin­ger auf die Bi­got­te­rie so man­cher Os­sis und Wes­sis. Schö­ner Be­weis, dass man das The­ma auch mit au­gen­zwin­kern an­ge­hen kann. die Si­tua­ti­on da­mals war ja ab­surd ge­nug in un­se­rer Stadt!! Na­tür­lich wol­len heu­te im­mer noch vie­le von da­mals nichts ge­wusst ha­ben von den ei­ge­nen sta­si-um­trie­ben. Schön be­schrie­ben im Text, schmunzel… 🙂
    Grüs­se aus Ber­lin: Chris (dan­kend)
    https://mitvergnuegen.com/2016/ossi-wessi/

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