Beatrice Nunold: …und die Welt… (Groteske)

…und die Welt ist eine Scheibe

Bea­tri­ce Nunold

Ver­dammt, wo hat­te ich so et­was schon ge­se­hen?“ Ich starr­te auf das hoch kom­pli­zier­te Ka­chel­mo­sa­ik. Un­ter mei­nen Füs­sen wan­den sich ver­schlun­ge­ne Kno­ten und Schlin­gen. „Quas­i­k­ris­tal­le1 , das sind Quas­i­k­ris­tal­le.“ Die Pen­ro­se­par­ket­tie­rung, auch mit­tel­al­ter­li­che ara­bi­sche Kno­ten­or­na­men­te wie­sen 5-, 8- oder 10-, so­gar 12-zäh­li­ge Ro­ta­ti­ons­sym­me­trien auf. Aber dies war das ver­wir­renste Mus­ter, das mir je un­ter die Au­gen ge­kom­men war. Mir schwin­del­te bei sei­nem An­blick und dem Ver­such eine Ord­nung zu er­ken­nen. Von dem Mo­sa­ik ging ein dif­fu­ses Leuch­ten aus, als wür­den die we­ni­gen Pho­to­nen, die sich bis hier her durch­ge­schla­gen hat­ten, re­flek­tiert. Un­durch­dring­li­che Fins­ter­nis über­spann­te das nicht en­den wol­len­de Pla­teau. Fei­ner Nie­sel­re­gen strei­chel­te mein Ge­sicht, durch­feuch­te­te Haar und Klei­dung und ver­lieh den Mo­sai­ken ei­nen ge­heim­nis­vol­len Schim­mer. Da war Mu­sik. Sie füll­te mei­nen Kopf. Lei­se sphä­ri­sche Klän­ge schwol­len zu ei­ner ge­wal­ti­gen Sym­pho­nie an. Das kann­te ich doch, wenn auch an­ders, ein­fa­cher, ro­cki­ger, – die Pea-Brains2, – mein Lieb­lings­lied. Doch kein Dampf­ham­mer-Ha­vey-Me­tal-Sound dröhn­te in mei­nem Schä­del. Viel­stim­mi­ge Ober­tö­ne wei­te­ten mein Be­wusst­sein, dehn­ten es bis an die Gren­ze zur Auf­lö­sung, bis an die Schwel­le zur Fins­ter­nis, die in mei­nem Hirn her­auf­zu­däm­mern drohte:

Strings swin­gen im Quan­ten­schaum, im Quantenschaum,
Ein Gott träumt den 3-Bran-Raum.

Mor­gen­glanz …“

… im Quantenschaum …

Es­ther!! Sieh dir das an …“

Ein Gott träumt…

Ich glau­be nicht, was ich da sehe!“

…den 3-Bran-Raum…

Es­ther! Wach end­lich auf!“
Ta­bahs Stim­me wur­de deut­li­cher. Der Ober­ton­chor ver­stumm­te. Der Him­mel lich­te­te sich. Das Fuss­bo­den­mo­sa­ik be­gann aus den Fu­gen zu ge­ra­ten. Opa­ker Gold­glanz brach zwi­schen den Ris­sen her­vor. Ich glaub­te zu stür­zen. Der ei­ge­ne Schrei gell­te mir in den Ohren.
„Mor­gen­glanz?! Wo bleibst du. Mal­li­on! Schmeiss Es­ther aus dem Bett!“
Ein Rüt­teln liess mein Be­wusst­sein wie­der zum Zen­trum mei­ner selbst zu­sam­men­zur­ren. Je­mand schüt­tel­te Gold­staub aus Klei­dern und Haa­ren. Die Luft flirr­te und wäh­rend der Flit­ter zu nichts ver­ging, er­wuchs aus die­sem Nichts eine Welt.
„Crea­tio ex ni­hi­lo“, hör­te ich mich kommentieren.
„Es­ther, hey! Al­les wie­der senkrecht?“
Die Welt war lila. Nein, die Welt wa­ren Mer­rylls Au­gen, sei­ne lie­ben lila Au­gen, die mich be­sorgt an­blick­ten. Die Co­ro­na sei­nes wir­ren weis­sen Haa­res brach­te die Son­ne in mei­ne Welt zurück.
„Du hast geträumt.“
„Ja, ei­nen Traum aus Quan­ten­schaum.“ Ich war im­mer noch benommen.

Es­ther, komm end­lich durch. Die Ka­pi­tä­nin wird auf der Brü­cke ver­langt. Ta­bah flippt aus.“

Was ist los, Ta­bah?“ frag­te ich als wir die Brü­cke be­tra­ten. Der Ka­ma­ria­ner sah mich mit sei­nen schwarz schim­mern­den Au­gen fra­gend an. Er brauch­te nichts zu sa­gen. Mein Blick kleb­te am Pan­ora­ma­schirm. Ei­nen Mo­ment lang glaub­te ich, mein Traum spu­ke noch in mei­nem Hirn.
Die Be­sat­zung des klei­nen Raum­schiffs war ver­sam­melt. Ich spür­te ihre Ratlosigkeit.
„Wo­her soll ich wis­sen, was das ist, – ir­gend­ei­ne Quas­i­k­ris­tall-Gi­gan­to­ma­nie, – kei­ne Ah­nung. Was meint un­se­re Astro-Archäologin?“
„So et­was habe ich schon mal ge­se­hen, nur viel ein­fa­cher. Auf Ter­ra, glaub ich, hat die Is­la­misch-ara­bi­sche Kul­tur eine ähn­li­che Or­na­men­tik her­vor­ge­bracht. Ver­gleich­ba­res gibt es bei uns auf Kama oder auf Ka­tha­ra, die Mo­sai­ken der Tu­ba­nischa und bei vie­len an­de­ren Pla­ne­ten­kul­tu­ren. Quas­i­k­ris­tal­le sind qua­si­pe­ri­odisch. Ihre Pe­ri­odi­zi­tät wird erst in ei­nem hö­her­di­men­sio­na­len Raum ver­ständ­lich. Ma­the­ma­tik ist uni­ver­sal. Ich neh­me an, di­ver­se Kul­tu­ren sind auf ver­gleich­ba­re Lö­sun­gen ge­kom­men. Aber so et­was Kom­pli­zier­tes …. Und wer um al­les im Mul­ti­ver­sum par­ket­tiert die schwar­zen Tie­fen des Kos­mos? „Fe­net schüt­tel­te den Kopf.
Das Schiff schweb­te über eine nicht en­den wol­len­de Platt­form blau-gol­de­ner Mo­sai­ken auf weis­sem Grund. Sie schim­mer­ten fahl in der Weltraumnacht.
Ich starr­te un­ver­wandt auf den Schirm: „Com­pu­ter, Pea-Brains, Neuwelt.“
„Mor­gen­glanz, bist du kom­plett durchgeknallt?“
„Halt die Klap­pe, Tabah.“
Aus ei­ner an­fäng­li­chen Ge­räu­sche­ka­ko­pho­nie ent­span­nen sich Töne zu Me­lo­die­fä­den und wo­ben ei­nen kom­ple­xen Klang­tep­pich, dar­über konn­te der Schwer­me­tall­rhyth­mus nicht hin­wegd­röh­nen. Er häm­mer­te die ver­schlun­ge­ne Me­lo­die auf un­se­re ein­di­men­sio­na­len Hör­ge­wohn­hei­ten herunter.
„Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on.“
„Was? Mor­gen­glanz, ich mach mir ernst­haft Sorgen …“
„Ruhe, Tabah!“

Eter­ni­ty, die Front­frau der Band er­hob ihre Rockröhre:

Der Tag trägt Trauer,
Die Far­ben der Nacht,
Ein sanf­ter Schauer
Strei­chelt ihn sacht.
Sacht, sacht in den Far­ben der Nacht, in den Far­ben der Nacht.

Zum Re­frain un­ter­stütz­ten die Jungs grö­lend ihre Sängerin.

Strings swin­gen im Quan­ten­schaum, im Quantenschaum,
Ein Gott träumt den 3-Bran-Raum.
Im Quantenschaum…

Com­pu­ter, stopp. Ich habe das schon ein­mal ge­se­hen, – in mei­nem Traum und die­se Mu­sik ge­hört, nur sa­gen wir sym­pho­ni­scher, wie Sphä­ren­klän­ge, – viel­leicht eine Superstring-Sphärensymphonie.“
Das Bild auf dem Schirm än­der­te sich. In den Bo­den wa­ren schma­le, sehr lan­ge Spitz­bo­gen­fens­ter ein­ge­las­sen. Als wäre das nicht selt­sam ge­nug, zeig­ten die­se in alle Rich­tun­gen. Hin­ter den Fens­ter­öff­nun­gen lau­er­te un­durch­dring­li­che Fins­ter­nis, manch­mal gold-opak changierend.
„Ent­we­der wa­ren die­se Bau­meis­ter to­tal me­schug­ge oder un­fass­ba­re Ge­nies, oder bei­des,“ mur­mel­te ich vor mich hin.
Am Ho­ri­zont kam so et­was wie eine Bar­rie­re ins Bild. Vor uns wuchs eine ge­wal­ti­ge, das gan­ze Blick­feld aus­fül­len­de Quas­i­k­ris­tall­mo­sa­ik­mau­er und ver­lor sich in der Schwär­ze des Alls. Ge­mau­er­te Lan­zett­fens­ter zeig­ten schein­bar will­kür­lich nach oben, un­ten, seit­wärts als hät­te das Bau­werk kei­ne Aus­rich­tung. Wie bei Ve­xier­bil­dern kipp­te hin­ter den Fens­tern sam­te­nes Dun­kel in auf­glän­zen­des Gold.
„Tran­szen­denz ohne Trans­pa­renz wie der Gold­grund mit­tel­al­ter­li­cher Bil­der. Die Licht­un­durch­läs­sig­keit des Gol­des bringt das düs­ters­te Leuch­ten des Uni­ver­sums her­vor. ‚Fürch­tet den Tag des Herrn, denn des Herrn Tag ist Fins­ter­nis und nicht Licht’, Amos ich weiss nicht was.“
Die an­de­ren Schwiegen.
„Der bar­ba­ri­sche Glanz des Gol­des ist bloss der Wi­der­schein sei­ner im­ma­nen­ten Dun­kel­heit oder doch der Vor­schein des Herrn Tag. Auf Ter­ra gibt es das alte la­tei­ni­sche Wort sa­cer. Es be­deu­tet so­wohl hei­lig als auch verflucht.“
„Ich bin kei­ne Sprach­wis­sen­schaft­le­rin“, mel­de­te sich Fe­net, aber za­b­rach auf Kama oder em­pur auf Sum­far hat eine ver­gleich­ba­re Bedeutung.“
Un­ter uns sa­hen wir ge­wal­ti­ge Por­ta­le. Aus kom­pli­zier­ten Kno­ten­mus­tern wuch­sen gro­tes­ke Dä­mo­nen oder lös­ten sich in die­se auf. Höl­len­frat­zen mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen und Mäu­lern glotz­ten eher ver­zwei­felt als böse. Wie die Fens­ter so hat­ten die Tore kei­ne be­stimm­te Aus­rich­tung. Die Ho­ri­zont und Fir­ma­ment aus­fül­len­de Mau­er, auf die wir zu­hiel­ten, zeig­te das glei­che Bild.
Ta­bah er­hol­te sich als ers­ter von dem An­blick: „Wir soll­ten lan­den, Mor­gen­glanz, und uns die­ses ab­sur­de Bau­werk nä­her ansehen.“
„Noch nicht.“
Ich setz­te mich auf mei­nen Ka­pi­täns­ses­sel und steu­er­te das Schiff senk­recht die Mau­er em­por. Doch das schien nur so. Die Mau­er wan­del­te sich zum Pla­teau. Ich dreh­te das Schiff um 180 Grad. Ne­ben uns rag­te das eins­ti­ge Fuss­bo­den­mo­sa­ik als Mau­er in die schwar­ze Höhe. Das Schiff setz­te auf. Un­se­re Sen­so­ren zeig­ten aus­rei­chend Sau­er­stoff und Schwerkraft.
Fe­net, Ta­bah, Mal­li­on und ich stan­den auf dem Fuss­bo­den­mo­sa­ik, das wir zu­nächst als Mau­er iden­ti­fi­ziert hat­ten. Es nie­sel­te und der Tag trug Trau­er. Von den Mo­sai­ken ging ein hoff­nungs­lo­ses Leuch­ten aus, und doch war der fah­le Schim­mer wie ein Geschenk.
„End­zeit­licht, Ab­glanz der Ver­gäng­lich­keit.“ Mei­ne Stim­me klang rau und erstickt.
„Es­ther, mahn­te mich Mer­ryll, „hör auf zu orakeln.“
Vor un­se­ren Füs­sen dehn­te sich ein von un­se­rer Po­si­ti­on aus nicht zu über­bli­cken­des Fens­ter und gähn­te gold­schlie­ri­ge Dun­kel­heit. Un­will­kür­lich wi­chen wir zu­rück und lenk­ten un­se­re Schrit­te auf ein Por­tal in der Mauer.
„Wenn es nicht so kunst­voll ge­ar­bei­tet und so kom­pli­ziert ge­stal­tet wäre, wür­de ich es als bar­ba­risch bezeichnen.“
Wäh­rend die As­tro-Ar­chäo­lo­gin sprach, be­rühr­te sie mit ihre Hand das Tor. Ge­räusch­los sprang es nach in­nen auf und gab den Blick frei in ei­nen rie­si­gen Rund­bau, um­stan­den von ei­nem Säu­len­wald. Stre­be­pfei­ler schos­sen in die Höhe. Ich konn­te nur ah­nen, dass sie sich gleich der Eu­klid­schen Par­al­le­len ir­gend­wo im Un­end­li­chen tref­fen. Zu­sa­gen der Raum sei ka­the­dra­len­haft wäre eine Ver­nied­li­chung. Wir ver­harr­ten auf der Schwel­le, win­zi­ge We­sen, schau­dernd vor der be­drän­gen­den Nähe des Un­er­mess­li­chen. Bun­tes Licht brach durch den stei­ner­nen Forst, glimm­te im Dun­kel und wog­te als far­bi­ger Pho­to­nen­schlei­er auf der Rotundenlichtung.
„Und das Licht fiel in die Fins­ter­nis und die Fins­ter­nis hat es nicht er­grif­fen“, ich hauch­te die Wor­te. Abt Su­ger muss ähn­lich über­wäl­tigt ge­we­sen sein als er den Kir­chen­raum von St. De­nis be­trat. ‚Lux mi­ra­bi­lis et Continua’ …“
„Mor­gen­glanz“, un­ter­brach mich Ta­bah, „Nie­mand aus­ser­halb dei­nes Pro­vinz­pla­ne­ten ver­steht den Pro­vinz­dia­lekt die­ses Him­mel­ko­mi­kers oder kennt die­sen Provinztempel.“
„Das ist nicht nö­tig,“ wand­te Fe­net ein. „In den meis­ten Pla­ne­ten­kul­tu­ren wird Licht als Epi­pha­nie des gött­li­chen emp­fun­den, als et­was Heiliges.“
„Ja,“ be­stä­tig­te Mer­ryll, „denk an den Pro­vinz­tem­pel der Wa­rin­da mei­nes klei­nen Pro­vinz­pla­ne­ten Kathara.“
Ich woll­te die Ro­tun­de be­tre­ten, zog mei­nen Fuss aber wie­der zu­rück. Die Stre­be­pfei­ler spie­gel­ten sich im Bo­den und schie­nen in der Tie­fe zu lo­ten, um­flos­sen von ei­nem wun­der­bar un­un­ter­bro­che­nen Glanz far­big ge­bro­che­nen Lichts.
„Es­ther, seit wann bist du so ängst­lich oder wirst du plötz­lich re­li­gi­ös. Zie­het eure Schu­he aus, ihr be­tre­tet hei­li­gen Bo­den,“ läs­ter­te Ta­bah, der mal wie­der ver­such­te sei­ne Er­grif­fen­heit mit Cool­ness zu über­spie­len. Ich igno­rier­te ihn. Im Au­gen­win­kel ge­wahr­te ich, wie Fe­net sich an­schick­te über die Schwel­le zu treten.
„Nicht!“ Ich pack­te Thy­ra ge­ra­de noch am Arm.
„Tran­tasch ka­bir shun!“ ‚hei­li­ge Scheis­se!’ fluch­te sie in ih­rer Mut­ter­spra­che, und wich ent­setzt meh­re­re Schrit­te zurück.
Da war kein spie­geln­der Bo­den, son­dern ein gäh­nen­der Ab­grund. Die Säu­len rag­ten in die Un­tie­fe eben­so wie in die Höhe. Aber gab es über­haupt ein Un­ten und Oben. Die Tie­fe des Ab­grun­des und die Tie­fe des Alls sind ein- und das­sel­be und nur für uns nicht das glei­che. Hier muss­te wahr­lich nie­mand auf den Kopf ge­hen, um in den Ab­grund des Him­mels zu blicken.
„Dort“, sag­te Mer­ryll leise.
Eine Art Floss schweb­te durch ein Spa­lier aus far­big ge­bro­che­nem Licht auf uns zu. Das Floss hielt an der Schwel­le. Wir sa­hen uns an. Ich nahm mei­nen gan­zen Mut zu­sam­men und ver­wehr­te den Ängs­ten, die aus dem Un­tie­fen mei­nes Selbst em­por kro­chen, be­sitzt von mir zu er­grei­fen. Vor­sich­tig be­trat ich die schwe­ben­de Platt­form. Sie trug mich, schwank­te nicht ein­mal. Mer­ryll und Ta­bah ta­ten es mir gleich. Nur Fe­net zö­ger­te zu­nächst. Ich konn­te sie gut ver­ste­hen. Kei­ne Angst zu ha­ben ist ein Zei­chen von Phan­ta­sie­lo­sig­keit. Auch wenn dies hier un­ser Vor­stel­lungs­ver­mö­gen über­for­der­te, die Ein­bil­dungs­kraft be­lebt selbst das Un­vor­stell­ba­re mit Phan­to­men. Kein Bild­ver­bot hat das je zu un­ter­bin­den ver­mocht. Ta­bah reich­te Fe­net die Hand und zog sie zu sich hinüber.

Das Floss schweb­te durch das Photonenspalier.
„Don’t pay the fer­ry­men…,“ schoss es mir durch den Kopf und „Wer hier ein­tritt, las­se alle Hoff­nung fahren …“.
Hin­ter uns schlu­gen die Tür­flü­gen ins Schloss. Oh, Shit! Was hät­te ich für ei­nen Ver­gil ge­ge­ben. So­gar Cha­ron, der die to­ten See­len über den ab­grün­di­gen Styx in den Ha­des schifft, wäre mir will­kom­men gewesen.
Mu­sik stieg aus der Tie­fe des Rau­mes em­por, die­sel­be die ich in mei­nem Traum ver­nom­men hat­te und de­ren Rock­ver­si­on mir durch die P(ea)-Bra(i)ns ver­traut war. Der Ober­ton­chor hob an:

Der Tag trägt Trauer,
Die Far­ben der Nacht,

Nur mit Mühe ge­lang es mir mein Be­wusst­sein dar­an zu hin­dern in die Un­end­lich­keit aus­ein­an­der zu driften.

Ein sanf­ter Schauer
Strei­chelt ihn sacht.

Oh­ren zu­hal­ten!“ schrie ich.

Strings swin­gen im Quan­ten­schaum Schaum,
Ein Gott träumt den 3-Bran-Raum.

Der Si­re­nen­ge­sang klang jetzt et­was ge­dämpf­ter, aber er zerr­te im­mer noch an den Neuronen.

Die Son­ne hinkt auf ih­rer Bahn.
Der Mond erbleicht.
Pan phan­ta­siert im Fieberwahn.
Ver­ges­sen ist leicht.
Strings swin­gen im Quan­ten­schaum Schaum,
Ein Gott träumt den 3-Bran-Raum.

Ich war jetzt in der Lage den Ge­sang zu orten.

Am Ab­grund schlum­mert ein Stein.
Die Tie­fe träumt Welten.
Quarks tanz­ten Ringelreihen
Als Di­men­sio­nen zerschellten.

Das Licht­spa­lier sang. Ich kann nicht sa­gen, dass dies zu mei­ner Be­ru­hi­gung beitrug.

Strings swin­gen im Quan­ten­schaum Schaum,
Ein Gott träumt den 3-Bran-Raum.

Manch­mal glaub­te ich schwa­che For­men zu erkennen.

Das Meer ver­dampft zu Silberschein.
Die Fer­ne geht verloren.
Schwei­gend rollt der Ho­ri­zont sich ein.
Neu­welt wird geboren.

Was war das nur für eine Spra­che. Selt­sa­mer­wei­se ver­stand ich sie.

Strings swin­gen im Quan­ten­schaum Schaum,
Ein Gott träumt den 3-Bran-Raum.
Strings swin­gen im Quan­ten­schaum Schaum,
ein Gott träumt den 3-Bran-Raum.
Im Quan­ten­schaum, im Quantenschaum…

Pro­toglos­sa,“ dach­te ich. „Pro­toglos­sa…“
Der Ge­sang verstummte.
„Ihre Ge­hir­ne sind für un­se­re Mu­sik nicht aus­ge­legt,“ er­klang ein me­lo­di­sches Unisono.
Wir lös­ten die Hän­de von un­se­ren Ohren.
„Ihre Hir­ne sind für un­ser Wis­sen nicht ausgelegt.“
Ich woll­te pro­tes­tie­ren, da sah ich, wor­auf wir zu­steu­er­ten. Auf ei­nem schwe­ben­den Mo­sa­ik ruh­te ein Fels­bro­cken, ein Find­ling, – bi­zarr ge­formt als hät­te ein wüs­ter Äo­nen­sturm die rohe Ma­te­rie erodiert.
„Pro­to­ma­te­rie,“ schoss es mir durch den Kopf. „Nein, da­mit as­so­zi­ier­te ich bis­her die Strings oder de­ren an­ge­reg­te Schwin­gungs­zu­stän­de die Ele­men­tar­teil­chen. Die­ser Fels schien so et­was wie ein hei­li­ges Ob­jekt zu sein, wie die Kaa­ba in Mek­ka. Das Floss leg­te an. Wir be­tra­ten die Mo­sa­ik-Platt­form. Ich hör­te Fe­net ne­ben mir zi­tie­ren: „Am Ab­grund schlum­mert ein Stein, / die Tie­fe träumt Welten …“
Da be­gann ich zu be­grei­fen, oder nein, so et­was wie ein Be­grei­fen er­griff mich und er­schüt­ter­te mich bis ins Mark. Un­se­re Welt die Schaum­ge­bo­re­ne. Ich fiel auf die Knie und starr­te über den Rand in den Abgrund.
„Es­ther!“ Mer­rylls Stim­me über­schlug sich fast.
Ich hob mein Haupt und blick­te in den Ab­grund über mir. Fins­ter­nis und opa­kes Gold durch­schie­nen von far­big ge­bro­che­nem Licht. „Das Xaos, Pla­tons Cho­ra3„, stam­mel­te ich, „die Amme des Wer­dens“, das Bulk4, – dass ich das Erlebe!
Ich sah mich um. Schlan­ke Licht­ge­stal­ten um­stan­den uns. Mer­ryll half mir auf.
„Die Pro­to­to­po­lo­gie der Spin-Net­ze des Quan­ten­schaums5 ist nicht dia­phan.“ sprach es stau­nend aus mir.
„Nur der Welt­raum ist durchscheinend.“
„Wer seid ihr?!“ hör­te ich Mer­rylls ver­wun­der­te Frage.
„Wir sind das Licht der Welt. Wir sind das Un­be­grif­fe­ne der Fins­ter­nis. Wir sind die Hir­ten des Seins. Wir sind die Hü­ter der End­lich­keit. Wir sind die Wäch­ter der Welt, die En­gel, die An­ge­loi, die Ka­ra­mir, die Ma­rusch. Wir sind das Fun­keln der Ster­ne und des Feu­ers Schein, das Leuch­ten in den Au­gen und das Licht der Ver­nunft. Wir sind die Grenz­pos­ten zur Unendlichkeit.“
Fe­net bück­te sich und zeich­ne­te mit ei­nem Fin­ger das kom­pli­zier­te Mus­ter nach. Ein Pen­ro­se­par­kett war nur eine ex­trem ein­fa­che Va­ri­an­te die­ses ver­schlun­ge­nen Quasikristallmosaiks.
„Eine drei­di­men­sio­na­le Pro­jek­ti­on der un­end­li­chen Tie­fe, der All-Di­men­si­on al­ler Bra­nen­wel­ten, al­ler Zeit-Spiel-Räu­me der Mul­ti­ver­sen, ein abs­trak­tes Bild, stark ver­ein­facht, von dem, wo­von nie­mand ein Bild sich ma­chen kann, nicht ein­mal wir. Auch wir sind Ge­fan­ge­ne der 3-di­men­sio­na­len fla­chen Schei­be, un­se­rer 3-Bran­welt, die un­ser Uni­ver­sum ist, so wie ihr und alle hadro­ni­sche Ma­te­rie.6 Un­se­re Welt, sie en­det hier.“
Bei die­sen Wor­ten be­gan­nen die Licht­ge­stal­ten sich wie­der in far­bi­ge Pho­to­nen­schlei­er aufzulösen.
„Geht jetzt! Dies ist kein gu­ter Ort für hadro­ni­sche We­sen. Manch­mal bre­chen die Däm­me. Ein Mul­ti­di­men­si­ons­stru­del, wir spü­ren ihn.“

Der Pa­nik nahe spran­gen wir auf das Floss. Ich be­te­te zu al­len mir be­kann­ten Göt­tern und Göt­zen des Mul­ti­ver­sums, das Floss möge schnell ge­nug und das Tor wie­der of­fen sein. Schon tauch­te es vor uns auf. Es war ge­schlos­sen. Hin­ter uns ein Dröh­nen, das un­se­re Trom­mel­fel­le zu zer­reis­sen droh­te. Wir wag­ten nicht uns um­zu­dre­hen. Ich ahn­te das Auf­reis­sen der sich um uns her­um ver­dun­keln­den Welt. Statt der Pfor­te dräu­te vor uns Fins­ter­gold. Wir schrie­en wie aus ei­ner Keh­le als wir in die mas­siv wir­ken­de Gold­nacht ras­ten. Eine Me­lan­ge von Gold und Schwär­ze stob an uns vor­bei. Das Tor sprang auf. Das Floss ramm­te die Schwel­le. Wir flo­gen in ho­hen Bo­gen auf den Mo­sa­ik­bo­den. Hin­ter uns schlug kra­chend die Pfor­te zu. Ich rap­pel­te mich hoch.
„Mer­ryll!“
Er war in ei­nes die­ser Lan­zett­fens­ter ge­stürzt und ver­such­te sich her­aus­zu­zie­hen. Ich flog zu ihm, pack­te ihn un­ter den Axeln. Die an­de­ren ka­men zur Hil­fe. Kaum hat­te er fes­ten Bo­den un­ter den Füs­sen, er­schüt­ter­te ein Be­ben die Mo­sa­ik­ebe­ne. Es fehl­te nicht viel und wir wä­ren ge­mein­sam in den Ab­grund ge­stürzt, aus dem wir ge­ra­de mei­nen Liebs­ten be­freit hat­ten. Oh­ren­be­täu­ben­des Brül­len er­füll­te die Luft.
„Zum Schiff!“ Schrie ich.
Wir rann­ten um un­ser Leben.

Ich star­te­te durch. Die Be­sat­zung press­te es in die Sit­ze. Aus dem Laut­spre­cher dröhn­ten die Pea-Brains. Vor uns öff­ne­te sich ein Wurm­loch. Wir tun­nel­ten uns in hei­me­li­ge­re Ge­fil­de un­se­res Provinzuniversums.
Ich dreh­te mich um. Mer­ryll war grün im Ge­sicht, ein hüb­scher Kon­trast zu sei­nen Lila Au­gen. Ta­mir Ta­bah grins­te breit, um­klam­mer­te aber im­mer noch Fe­nets Hand.
„Puh, das war knapp! Dann doch lie­ber zer­strahlt im Quan­ten­nir­wa­na als Ver­schol­len oder Schlim­me­res im Out­back der Mul­ti­ver­sen.“ Ich lach­te und das La­chen be­frei­te. „Und wo geht’s als nächs­tes hin? Wie wär’s mit im­mer der Nase nach von ei­nem Rand un­se­rer 3-Bran-Schei­ben­welt zum an­de­ren, – Pto­le­mä­us revistet.“
„Waas?“ kam es wie aus ei­nem Munde.
„Ver­gesst es, – Provinzgeschichte.“

Strings swin­gen im Quan­ten­schaum, im Quantenschaum,
Ein Gott träumt den 3-Bran-Raum.
Im Quan­ten­schaum…


1 Quas­i­k­ris­tal­le sind schein­bar ape­ri­odisch. Ihre Pe­ri­odi­zi­tät ist erst in ei­nem hö­her­di­men­sio­na­len Raum zu erkennen.

2 Wort­spiel der Phy­si­ker: p-Bra­ne ist laut­gleich mit Pea-Brain, Erb­sen­hirn. Bra­ne: von Mem­bran. p-Bra­ne: Lö­sung der Ein­stein­schen Glei­chung E=mc². P-Bra­nen ex­pan­die­ren in ei­ni­ge Rich­tun­gen un­end­lich. In ei­ner Di­men­si­on wirkt eine p-Bra­ne wie ein schwar­zes Loch und fängt Ob­jek­te ein. P steht für die An­zahl der räum­li­chen Dimensionen.

3 Pla­ton, Ti­ma­i­os, 49 a, vgl. 52 d.

4 Als Bulk (engl. Gross, Gross­steil, Gros) wird der um­fas­sen­de hö­her­di­men­sio­na­le Raum be­zeich­net, in dem alle Bra­nen­wel­ten ver­sam­melt sind. Er ist die „Ort­schaft al­ler Orte und Zeit­spiel­räu­me“, von der Heid­eg­ger spricht, das grie­chi­sche Xaos, der gäh­nen­de Ab­grund und Pla­tons Cho­ra, die Tie­fe, die Spal­te oder Kluft.

5 Hät­ten wir die Mög­lich­keit, so geht die Theo­rie ei­ni­ger Phy­si­ker, die Na­tur so­weit zu ver­grös­sern, dass selbst win­zigs­te Struk­tu­ren mit Plank-Län­ge (10-35 m) sicht­bar wür­den, löse sich die Kon­ti­nui­tät von Raum und Zeit auf und ein dis­kre­tes, ge­quan­tel­tes Spin-Netz­werk ein­di­men­sio­na­ler Fä­den wür­de sicht­bar, bzw. auf Grund der Un­schär­fe­re­la­ti­on, die quan­ten­phy­si­ka­li­sche Über­la­ge­rung al­ler mög­li­chen Zu­stän­de. Der Spin ist der Ei­gen­dreh­im­puls ei­nes Ele­men­tar­teil­chens. Sei­ne ma­the­ma­ti­schen Ei­gen­schaf­ten sind mit Netz­werk­ver­knüp­fun­gen ver­gleich­bar, wie ein Ge­we­be aus ein­di­men­sio­na­len Fä­den. Ist das Bulk eine Art Prä­geo­me­trie, so das Spin-Netz oder der Quan­ten­schaum eine Art Pro­to­geo­me­trie oder –Pro­to­to­po­lo­gie, aus der eine kon­kre­te Raum­zeit erst emergiert.

6 Nor­ma­le aus Quarks zu­sam­men­ge­setz­te und der Star­ken­wech­sel­wir­kung (Hadron) un­ter­lie­gen­de Ma­te­rie. Wäh­rend ei­ni­ge Teil­chen sich frei in al­len Bra­nen­wel­ten und im Bulk be­we­gen kön­nen, sol­che die An­re­gungs­zu­stän­de ge­schlos­se­ner Strings sind wie das Gra­vi­ton, kön­nen an­de­re, An­re­gungs­zu­stan­de of­fe­ner Strings, sich nur ent­lang der Raum­di­men­sio­nen be­stimm­ter Bra­nen­wel­ten be­we­gen, sind also Ge­fan­ge­ne der Bra­nen­welt. Was für die Ele­men­tar­teil­chen gilt, trifft auch auf Ob­jek­te und We­sen zu, die aus die­sen Teil­chen be­stehen. Wir le­ben, so die Theo­rie ei­ni­ger Phy­si­ker, in ei­ner 3-Branwelt.


Beatrice Nunold - Glarean MagazinDr. Bea­tri­ce Nunold

Geb. 1957 in Han­no­ver, Stu­di­um der Phi­lo­so­phie, Kunst­ge­schich­te, Volks­kun­de, Spra­che und Kul­tur Viet­nams in Ham­burg, Pro­mo­ti­on; ver­schie­de­ne wis­sen­schaft­li­che und li­te­ra­ri­sche Pu­bli­ka­tio­nen, lebt als freie Au­torin und Phi­lo­so­phin in Goslar/D

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