David Gorton: Trajectories (CD)

Neue Musik“ in alten Bahnen

von  Michael Magercord

Die Neue Mu­sik gibt es nun schon so lan­ge, dass man durch­aus von al­ter und neu­es­ter Neu­er Mu­sik spre­chen kann. Doch wo ver­läuft die Gren­ze zwi­schen Neu­er und Neu­es­ter Mu­sik? Wie in al­len Küns­ten sind die Schnitt­li­ni­en zwi­schen alt und neu flies­send, es las­sen sich je­doch Trends und Ten­den­zen her­aus­hö­ren, die ei­nen kom­men­den Um­schwung an­deu­ten. Und in jüngs­ter Zeit schei­nen vor al­lem die jün­ge­ren Kom­po­nis­ten wie­der eine er­leich­ter­te Hör­bar­keit ih­rer Wer­ke an­zu­stre­ben, oder an­ders ge­sagt: Es ent­krampft sich ei­ni­ges in der Sze­ne der Neu­en Musik.

Kompositorische Freiheit und künstlerische Innovation

Doch es gibt da­ne­ben na­tür­lich noch die Ex­po­nen­ten der „gu­ten al­ten“ Neu­en Mu­sik, jene näm­lich, die sich dem Ex­pe­ri­ment und der Her­aus­for­de­rung von Hö­rern und Mu­si­kern ver­schrie­ben ha­ben, und die sich die kom­po­si­to­ri­sche Frei­heit neh­men, sich gänz­lich dem Zwang der künst­le­ri­schen In­no­va­ti­on zu ergeben.
Ein Zeug­nis die­ser fast drei Jahr­zehn­te lang die Sze­nen be­stim­men­den Kom­po­si­tio­nen legt noch ein­mal die CD „Tra­jec­to­ries“ (You­tube-Vi­deo) ab – zu deutsch „Flug­bah­nen“ -, auf der Wer­ke der Kam­mer­mu­sik des bri­ti­schen Kom­po­nis­ten Da­vid Gor­ton (geb. 1978) ver­sam­melt sind. Die erst jetzt ver­öf­fent­lich­ten Auf­nah­men stam­men aus den Jah­ren 2005 und 2006, ha­ben also nach den Mass­stä­ben des Gen­res ei­ni­ge Zeit auf dem Bu­ckel. Es sind Bei­spie­le ei­ner hoch­in­no­va­ti­ven Mu­sik, in der al­les aus­pro­biert wird, was klas­si­sche Mu­sik­in­stru­men­te hergeben.

„Sphä­ri­scher Klang­brei mit Hil­fe von Drit­tel­ston-Stim­mung“: Par­ti­tur-Aus­zug von Da­vid Gor­tons Streich­quar­tett „Tra­jec­to­ries“

Was also ist das be­stim­men­de Ele­ment die­ses ält­li­chen Neu­en? Es ist das De­tail. Je­des ein­zel­ne Werk ist eine Rei­hung von Kleinst­kom­po­si­tio­nen, Note für Note sind gleich wich­tig. Und man­ches Mal wer­den durch eine An­häu­fung von De­tails ge­ra­de die De­tails zum Ver­schwin­den ge­bracht: Da­vid Gor­ton nutzt dazu so ge­nann­te Mi­kro­stim­mun­gen, lässt also die Stim­mung der In­stu­men­te um ei­nen Drit­tel­ton ver­schie­ben, wor­aus oft­mals le­dig­lich ein sphä­ri­scher Klang­brei wird, et­was, das man heut­zu­ta­ge „Sound­scape“ nennt. Will man als Hö­rer in die­sen Ton­land­schaf­ten nicht völ­lig ori­en­tie­rungs­los um­her­wan­deln, ist Kon­zen­tra­ti­on ge­for­dert, um sich selbst eine hiera­chi­sche Ab­fol­ge zu er­stel­len, die dar­aus schliess­lich ein ge­sam­tes Stück ent­ste­hen lässt.

Wozu braucht man Musik?“

„Tra­jeto­ries“ von Da­vid Gor­ton ist eine Ab­fol­ge von sehr ähn­li­chen Stü­cken der so­ge­nann­ten Neu­en Mu­sik, die sich aber in den be­reits al­ten Bah­nen die­ses Gen­res be­wegt: Ab­so­lu­te In­no­va­ti­on und kon­zen­tra­ti­ons­for­dern­de De­tail­freu­de. Das al­les ge­reicht – auch dank der aus­füh­ren­den Mu­si­ker – zu­min­dest pha­sen­wei­se durch­aus zum „Hör­ge­nuss“.

Der deut­sche Kom­po­nist Bernd Fran­ke hat­te ein­mal bei ei­ner Ver­an­stal­tung im Pra­ger Goe­the-In­sti­tut die Fra­ge: „Wozu braucht man Neue Mu­sik?“ be­ant­wor­tet mit der Ge­gen­fra­ge: „Wozu braucht man Mu­sik?“ Laut Book­let der CD von Da­vid Gor­ton soll des­sen Mu­sik an der Gren­ze des Spiel­ba­ren ge­hen, hin­ter der sich dann ein neu­er Ho­ri­zont auf­tue. Doch stellt sich die Fra­ge, was da­hin­ter lie­gen mag: das Un­spiel­ba­re, das Un­hör­ba­re, die sinn­freie In­no­va­ti­on also? Die­se Gren­ze al­ler­dings hat auch die Mu­sik von Da­vid Gor­ton (Vi­deo-Hör­bei­spiel aus „Er­in­ne­rungs­spiel“) nicht über­schrit­ten, und der für den Hö­rer viel­leicht gröss­te Ge­winn liegt dar­in, dass die­se CD auf mu­si­ka­li­sche Wei­se die Mög­lich­keit gibt, et­was zu er­fah­ren von der Mo­der­ne und ih­rer Fä­hig­keit, die Kon­zen­tra­ti­on und In­no­va­ti­on auf et­was zu ver­le­gen, was im Grun­de kei­ne Sinn­fra­ge zu­lässt: auf Ele­men­te, Ato­me, Quan­ten – kurz: auf Details.

Studio-Aufnahme gegen Live-Mitschnitt

David Gorton Komponist - Glarean Magazin
Neue Mu­sik an der „Gren­ze des Spiel­ba­ren“: Der eng­li­sche Kom­po­nist Da­vid Gorton

Aber es ist eben doch Mu­sik auf die­ser CD, und es sind eben doch noch Mu­si­ker, die mit her­kömm­li­chen In­stru­men­ten für Hör­bar­keit sor­gen. Ein wun­der­ba­rer Ein­fall ist auch die Ge­gen­über­stel­lung ein und des­sel­ben Stü­ckes, der So­na­te für Cel­lo-Solo, in zwei Va­ri­an­ten: ei­ner Stu­dio­auf­nah­me und ei­nem Live-Mit­schnitt. Es of­fen­ba­ren sich ge­wal­ti­ge Ab­wei­chun­gen der zeit­li­chen Be­to­nung un­ter­schied­li­cher Pas­sa­gen. Und es zeigt sich die Über­le­gen­heit der spon­ta­nen Fas­sung, der ge­gen­wär­ti­gen Kon­zen­tra­ti­on und Un­wie­der­hol­bar­keit der Live-Dar­bie­tung. Auch im wei­chen Vio­li­nen-Spiel von Pe­ter Shepp­ard Skaer­ved im Ti­tel­stück, dem Streich­quar­tett „Tra­jec­to­ries“, wird deut­lich, dass selbst der­ar­ti­ge Mu­sik eben doch Mu­sik ist. Über­haupt sind es die Aus­füh­ren­den, de­nen wohl zu dan­ken ist, dass die Rei­hung von Bruch­stü­cken als Stü­cke hör­bar wer­den. Und der Dank kommt da­bei si­cher nicht nur vom Hö­rer, son­dern vom Kom­po­nis­ten – soll­te er jedenfalls. ♦

Da­vid Gor­ton, Tra­jec­to­ries: So­na­te für Cel­lo solo (Stu­dio­auf­nah­me), Streich­quar­tett Tra­jec­to­ries, So­na­te für Cel­lo solo (Live-Mit­schnitt) – Neil Heyde (Cel­lo), Pe­ter Shepp­ard Skaer­ved (Vio­li­ne), Ro­de­rick Chad­wick (Kla­vier), Kreut­zer Quar­tett, La­bel Di­vi­ne Art / Metier

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Kam­mer­mu­sik auch über Mar­kus Wolf (Vio­li­ne): Strauss- & Pfitz­ner-So­na­ten (CD)


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