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Ⓐnarchismus für Ⓐnfänger
von Jakob Krajewsky
Als junge Punks im besitzbürgerlichen Hamburg haben wir das A im Kreis oft auf Stromkästen oder an Häuserwände gesprayt. Muttern meinte nur, das sei gefährlich. Wir waren ahnungslos: Welche Konzepte sich hinter diesem Zeichen verbargen – wir wussten es damals nicht, es galt uns einfach nur als Provokation. Genau da setzt Eva Demski an. Sie erklärt im Vorwort ihres “anarchistischen Albums”, dass es noch keinen systematischen Versuch gäbe, anarchistische Konzepte vergleichend darzustellen. Das würde dem anarchistischen Gedankengut, das sehr individualistisch geprägt ist, zuwiderlaufen…
Die Autorin Eva Demski wurde 1944 in Regensburg als Tochter des Bühnenbildners Rudolf Küfner geboren. Sie studierte 1964 bis 1968 Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie in Mainz und Freiburg. Als Assistentin der Dramaturgie arbeitete sie beim Schauspiel Frankfurt und war als Verlagslektorin und Übersetzerin tätig, u.a. übersetzte Demski das Buch “Anarchismus” von Daniel Guérin aus dem Französischen. Verheiratet war sie bis zu seinem Tode in 1974 mit Reiner Demski. Von 1969-1977 arbeitete sie für den Hessischen Rundfunk, u.a. bei der Sendung “Titel, Thesen, Temparamente. Seit 1977 wirkte sie als freie Schriftstellerin und wurde vielfach mit Preisen bedacht. Eva Demski war bis 1996 Mitglied im P.E.N.
Wie geht Freiheit?
Demski erinnert sich an ihre Jahre als Studierende und bringt viele schrille Fotos von Ute Dietz in ihr Album zum Thema als Dokumentation ein. Dieses “Album” ist keine wissenschaftliche Abhandlung, es kommt sprachlich locker daher, ohne Anspruch auf Vollkommenheit. Die Autorin stellt verschiedene Figuren aus der Szene des Anarchismus der Moderne vor. Und sie stellt Fragen: Wie geht Freiheit? Zitiert Erich Mühsam: “Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt, mich fremdem Zwang zu fügen.” Es wird unterschieden zwischen dem weltanschaulichen Anarchismus und den Bombenwerfern. Im ersten Kapitel von insgesamt 16 folgt ein name dropping bekannter Größen: Bakunim, Fürst Kropotkin, der Philosoph Leopold Kohr, Clara Zetkin, u.a.
Was ist eine Anarchistin?

In den einzelnen Kapiteln widmet sich Eva Demski allgemeinen Betrachtungen wie: “Die meisten von uns halten sich ohne System nicht für überlebensfähig” Dabei wird die Harvard-Professorin Shoshona Zuboff mit dem Begriff “Überwachungskapitalismus” zitiert. Dann fragt Demski: Was ist eine Anarchistin, ein Anarchist? – und kommt auf Pippi Langstrumpf.
Weiter widmet sie sich einzelnen Protagonisten, z.B. der russischen Jüdin Emma Goldman und ihrem quirligen Lebenslauf mit freier Liebe und offenen Beziehungen samt ihrem politischen Aktivismus, sowie Emmas Herz für die frühe LGBT-Community in den USA. Die Antagonisten und “bösen Kapitalisten” als Angehörige einer Klasse “jener kühlen, calvinistischen Kapitalhörigkeit” wie die Industriellen Frick, Carnegie und Rockefeller werden mit ihrem Stiftungswesen vorgeführt.
Ambiguität des Systems
Die Ambiguität unseres Systems wird offengelegt: “Woher das Geld für die wunderbaren Konzertsäle, Sammlungen und Bibliotheken kam, und wie viel Blut und Schweiß daran klebt, interessiert niemanden mehr.” Emma Goldmann liebte die Oper, den Kitsch – und war oft im Gefängnis. Auf Emmas Grabstein steht gleichsam als Credo: …dass Freiheit nicht zu einem Volk herabkäme, das Volk müsse sich selbst zu ihr erheben!” Im Kapitel “Auf Gleisen, auf Reisen” erzählt Demski dann von den Hobos in den USA, die sich auf die Güterwagen wagten und gratis quer durchs große Land als Wanderarbeiter reisten – Männer wie Frauen.
Anarchy in Switzerland und Kreuzberg

Nett ist auch Demskis Schwenk in die Schweiz zu den anarchistischen Uhrmachern: Edelarbeiter, die genügend innere Freiheit besaßen, anarchische Gedanken zu hegen. Sie wagt damit einen Blick auf die “Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung”. Ich erinnere mich noch, wie es bei den Punks in den 1980ern hieß: “Züri brennt”. Und man dachte: Na klar, es muss eine entsprechende Szene geben in der so aufgeräumten Schweiz, schließlich war auch Lenin dort in Klausur. Im Kapitel “Besondere Zeiten” kommt diese zur Sprache.
Seitenhiebe verteilt Demski gegen Klaus Schwab und die heutigen elitären Weltspitzenfunktionäre, die auf Volkes Kosten unter Ausschluss desselben ihren Weltwirtschaftsgipfel in Davos veranstalten. Wobei diese Eliten gemäss Demski sich und ihre Gedanken der neuen Weltordnung feiern würden; sie würden zwar libertär klingen, seien aber in ihrer Konsequenz totalitär.

Dann folgt ein Schwank über Edel-Punks in Berlins Kreuzberg. Hier klärt Demski ihren persönlichen Bezug zur Szene: Ein Kneipier namens Conny, mit dem die Autorin befreundet ist, wird gehypt. Besonders die Idee des Budikers, die Wände eines Anarcho-Ladens namens “Vollmond” mit goldener Rettungsfolie zu überkleiden, stellt einen Wert an sich da. So wird das Tun zu anarchistischem Gehabe stilisiert: “Anarchisten lieben und ehren die Überbleibsel des Lebens: Vergessene, verbrauchte, übrig gelassene, ausgesetzte und verachtete Dinge. Mit dem kindlichen Mitleid, das aus ihrer ins Erwachsenenalter geretteten magischen Phase übriggeblieben ist, vermögen sie das Kostbare in einer alten Bratpfanne oder einem zerfetzten Vorhang zu erkennen.”
Abgesang auf aristokratische Anarchos
Eine weitere Episode im Familienalbum behandelt die aristokratischen Edelpunks und Möchtegern-Anarchisten Karl Lagerfeld, Udo Lindenberg und Marcel Reich-Ranicky, die mit ihrem eigenartigen Stilbruch in Tonfall, Tempo, Duktus und Fluktus lange in der Welt der Mode, der Musik und der Literatur fast autokratisch herrschten. Demski bezeichnet solche Stil-Ikonen als Anarchos und begründet das mit deren “Simulation vorrevolutionärer Pracht”. Natürlich darf in einem weiteren Teil des Albums der Streetartkünstler Banksy nicht fehlen, der die absurden Gesetze des Kunstmarktes und des Straßendschungels aus den Angeln hebt, um Gutes zu tun.
Demski hangelt sich durch die Glitzerwelten, und es wird noch abstruser: Elon Musk, Jeff Bezos und Peter Thiel wären wohl auch Anarchos. Leider vergisst die Autorin Bands wie “Die Ärzte”, “Einstürzende Neubauten”, “Nina Hagen & Band”, “The Sex Pistols”, “The Clash und The Crass” sowie Menschen mit Tiefgang wie Martin Buber oder Gershon Scholem, die ein philosophisches Anarcho-Prinzip verkörperten.
Reale Anarcho-Projekte ausgeklammert
Zum Schluss erfolgt ein Lamento, Absage an die Metaphysik des Denkens – ein Plädoyer für das Buch an sich. Reale anarchistische Experimente wie “Republik Freies Wendland”, Kopenhagens “Christiana” oder den temporären autonomen Mini-Kurdenstaat “Rojava” mit sozialistischem Gemeinschaftseigentum auf syrischem Gebiet beschweigt sie. Das ist für die Literatin nicht burlesk genug, zu real vielleicht literarisch wohl zuwenig wertvoll.
Insgesamt kommt das Album erzählerisch-unterhaltsam daher. Fein ist auch der Großdruck für schwache Augen und die ausdrucksstarken Fotos. Aber tiefgeistige Lektüre darf nicht erwartet werden. Meine Buch-Zusammenfassung: Ⓐnarchismus für Ⓐnfänger einer Ⓐlternden Ⓐutorin, die halt nochmals ein Buch machen wollte… ♦
Eva Demski: Mein anarchistisches Album, 220 Seiten, Suhrkamp/Insel Verlag, 978-3-458-17843-9
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