Jennifer Allan: Das Lied des Nebelhorns

Monströse Klangwelten des Industriezeitalters

von Jakob Krajewsky

Die Au­torin Jen­ni­fer Lucy Al­lan legt nach 10-jäh­ri­ger Ar­beit als Dis­ser­ta­ti­on eine Kul­tur­ge­schich­te des Ne­bel­horns vor. Al­lan stammt aus Nord­eng­land und zählt zur Ge­ne­ra­ti­on Y; Die Mu­sik­jour­na­lis­tin schrieb über Un­der­ground und ex­pe­ri­men­tel­le Mu­sik für The Guar­di­an, The Quie­tus und The Wire. Sie war auch für das BBC Ra­dio 4 als Mo­de­ra­to­rin ak­tiv, au­ßer­dem be­treut sie das Ar­chiv-Plat­ten­la­bel Arc Light Editions.

Das al­les klingt bei ih­rem Schrei­ben mit an. Die Ob­ses­si­on für das un­ge­wöhn­li­che, aus­ge­stor­be­ne Klang­werk­zeug, das Ne­bel­horn, ent­spricht ih­rer Tech­nik­fas­zi­na­ti­on und den Be­geg­nun­gen mit Klän­gen ex­tre­mer Musikbands.

Dekonstruktion eines Mythos

Das Lied des Nebelhorns - Eine Klang- und Kulturgeschichte - Jennifer Lucy AllanAls wäre ich ein Geist, dem Ne­bel zu­ge­hö­rig, und der Ne­bel war der Geist des Mee­res,” heißt es bei Eu­ge­ne O’Neill. Ganz am An­fang de­kon­stru­iert Al­lan den My­thos, wie das Ne­bel­horn in die Welt kam. Auf je­den Fall ent­stand es als ein Pro­dukt des In­dus­trie­zeit­al­ters um die 1850er her­um und war nicht nur in Groß­bri­tan­ni­en und Nord­ame­ri­ka le­bens­wich­tig. Das Si­gnal dien­te der Na­vi­ga­ti­ons­hil­fe auf Schif­fen und an den Küs­ten. Es brüll­te mit sei­nem mo­nu­men­ta­len Sound ge­gen die Klang­wucht der Mee­re an als Schutz vor Zu­sam­men­stö­ßen auf­grund des dich­ten Ne­bels. Aus dem Ne­bel­horn dringt “ein akus­ti­sches Wahn­bild der in­dus­tri­el­len Re­vo­lu­ti­on, das vom Prus­ten und Ras­seln von Dampf und Kol­ben, von Hit­ze und Fett und von ma­schi­nel­len Lun­gen her­auf­be­schwo­ren wird” (S. 119).

Starke Sounds und nebulöse Welten

In­ter­es­san­te Quer­ver­wei­se zum Afro-Fu­tu­rism des Duos Drex­ci­ya, über Dub bis zu Doom Me­tal und Acid House, zu den Frosch­kon­zer­ten im Sti­le von Exo­ti­ca, ei­ner Spiel­art des Jazz, bis zur Mi­ni­mal Mu­sic von Ter­ry Ri­ley, La Mon­te Young, Ste­ve Reich und Phil­ip Glass blie­ben bis­her un­er­hört. “Mu­si­ka­li­sche Gen­res und welt­be­we­gen­de Er­fin­dun­gen […] sind so gut wie nie das Werk ei­nes ein­zel­nen Ge­nies,” re­sü­miert Al­lan. Den­noch gibt es ein Pa­tent für die ge­wal­ti­gen Ma­schi­nen. Kon­zer­te mit Ne­bel­hör­nern rüh­ren das Pu­bli­kum an an­glo­pho­nen Küs­ten­or­ten oft zu Trä­nen. In der San Fran­cis­co Bay Area sind noch ei­ni­ge der Mons­ter aktiv.

Nebel San Francisco Bay Area - Glarean Magazin
Star­ke Sounds in ne­bu­lö­sen Wel­ten: Die San Fran­cis­co Bay Area im Nebel

Auf der an­de­ren Sei­te steht der Ne­bel; er dämpft Ge­räu­sche, macht un­sicht­bar, schärft Ge­ruchs- und Tast­sinn und ze­le­briert Stim­mun­gen, z.B. in Ella Fitz­ge­ralds Song “A Fog­gy Day”. Es ist sym­bo­lisch und le­bens­be­droh­lich – na­tür­lich auch in Ste­phen Kings Hor­ror­no­vel “The Fog” oder im Film “Ne­bel des Grau­ens” von John Car­pen­ter. Wie Smog in Lon­don ge­hört in San Fran­cis­co Ne­bel ein­fach dazu. So wird H. Gil­liam zi­tiert, “dass pro Stun­de bis zu ei­ner Mil­li­on Ton­nen Was­ser in Form von Dunst und Ne­bel durch die Meer­enge Gol­den Gate wabert.”

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Al­lan de­fi­niert ver­schie­de­ne Ne­bel­for­men und ver­sinkt im Volks­glau­ben zwi­schen den Nie­der­lan­den, Isle of Man, Chi­le, Peru so­wie im Po­pol Vuh, der Schöp­fungs­ge­schich­te der Ma­yas. Sie sucht Tier­ver­glei­che zu Ele­fan­ten und Bul­len im Gil­ga­mesch Epos und in der grie­chi­schen und ägyp­ti­schen My­tho­lo­gie, die das hef­ti­ge Brül­len des Horns sym­bo­li­sie­ren. Eben­so er­wähnt die Au­torin Künst­le­rin­nen wie Eli­as­son, Gorm­ley und Na­ka­ya, die für ihre Ne­be­l­in­stal­la­tio­nen be­kannt ge­wor­den sind.

Naturwissenschaften, Schauergeschichten, Seemannsmythen

Jennifer Lucy Allan - Glarean Magazin
Die Mu­sik-Wis­sen­schaft­le­rin Jen­ni­fer Lucy Allan

Jen­ni­fer Lucy Al­lan macht ein we­nig selbst­ver­liebt ihre Re­cher­che­ar­beit und For­schungs­rei­sen trans­pa­rent, be­rich­tet frei­mü­tig über die Ar­chiv­ar­beit, spricht über Öko­lo­gie und einst­mals ko­lo­nia­les Han­dels­ge­sche­hen. “Das Ne­bel­horn legt los. Nicht nur mit den Oh­ren höre ich es, son­dern mit mei­nem kom­plet­ten Kör­per – Ma­gen, Haut, Kno­chen und der Schä­del ge­ra­ten in Schwin­gun­gen, wenn das Ne­bel­horn er­klingt” (S. 105). Ne­bel­bän­ke kön­nen im Krieg be­wah­ren, es gibt Qual­len im Asow­schen Meer, Schiffs­un­glü­cke pas­sie­ren. An­de­re Warn­si­gna­le wie Leucht­turm­glo­cken, Tief­see­glo­cken, der Klang der Si­re­nen, Spreng­stoff wer­den erwähnt.

Ein „monströses, obszönes und melancholisches Ding“: Küsten-Nebelhörner
Ein „mons­trö­ses, obs­zö­nes und me­lan­cho­li­sches Ding“: Küsten-Nebelhörner

As­so­zia­tiv und viel­schich­tig wer­den hier auch na­tur­wis­sen­schaft­li­che Er­kennt­nis­se ein­ge­bracht; Au­to­ma­ti­sie­rung in der See­fahrt, Schau­er­ge­schich­ten und See­manns­my­then wech­seln sich in poe­ti­schem Rei­gen ab: Strand­räu­ber nutz­ten ge­schickt die Ver­ne­be­lung an Sand­bän­ken, um Schif­fe ir­re­zu­füh­ren. Das so ge­ne­rier­te Strand­gut an Land bleibt dann im Be­sitz des Finders.
Das Buch ist ein wah­res Füll­horn: Vir­gi­nia Woolf, Ger­tru­de Ather­ton, Ray Brad­bu­ry, Nigel Knea­le, Anne Carson und Ing­mar Berg­mann tre­ten auf. Al­lan be­rich­tet von Sym­pho­nien der Si­re­nen, skur­ri­len In­dus­trie­kom­po­si­tio­nen von Ar­se­ni Awraa­mow 1927 im so­wje­ti­schen Baku und von “Fan­ta­sy for Horns” und die “Har­bour Sym­pho­ny”, bei­de von Hil­de­gard Wes­ter­kamp als von “Klän­gen in der Klang­land­schaft.” Letz­te­re wur­de 1986 zur Expo in Van­cou­ver mit mehr als 150 Schif­fen auf­ge­führt. Ein of­fi­zi­el­ler Ab­ge­sang auf die Ne­bel­hör­ner bil­det das “Fog­horn Re­qui­em” des Kom­po­nis­ten Or­lan­do Gough, ein Mu­sik­stück für fünf­zig Schif­fe am Tyne in New­cast­le. Es war eine Auf­trags­ar­beit des Na­tio­nal Trust und des South Ty­ne­si­de Coun­cil in 1995.

Monströs, obszön, melancholisch

Hochleistungs-Nebelhorn mit Kompressor (nach Holmes) um 1870 - Glarean Magazin
Holmes’s Fog-Horn Ap­pa­ra­tus: Hoch­leis­tungs-Ne­bel­horn mit Kom­pres­sor um 1870

Die vier Tei­le des Bu­ches (At­ta­cke, Ver­fall, Nach­hall, Be­frei­ung) mit 20 Un­ter­ka­pi­teln um­säumt von Pro­log und Epi­log bie­ten ein ge­wal­ti­ges und manch­mal ver­wir­ren­des Crossing-Over von Tech­nik­ge­schich­te, Kul­tur, Mu­sik und Sound, Li­te­ra­tur, In­dus­trie samt Land­schaft, or­ches­triert mit dem Ma­ri­ti­men. Al­les das ist eng mit dem mensch­li­chen Stre­ben ver­bun­den. Vie­le über­sicht­li­che Zi­ta­te samt Fuß­no­ten run­den ab. In­dex und Bi­blio­gra­phie feh­len hin­ge­gen gänz­lich. Es ist hier ja auch buch­stäb­lich mehr die em­pi­ri­sche Feld­for­schung von Interesse.
Ein­gän­gig ist da­bei die weib­li­che Per­spek­ti­ve in män­ner­do­mi­nier­ten Sphä­ren mit Leucht­tür­men, in See­manns­her­ber­gen, Pubs und auf Schif­fen. Schön wä­ren ein paar Fo­tos mehr ge­we­sen, und eine Kar­te Eng­lands oder Schott­lands mit Stand­or­ten, au­ßer­dem Bil­der mit dem Ne­bel­horn samt Am­bi­en­te. Wir le­ben ja schließ­lich auch in ei­ner vi­su­el­len Welt.
Eine fä­hi­ge Über­set­zung in gut ver­fass­tem Deutsch wird aus dem Eng­li­schen von Ru­dolf Mast, Lek­tor, Se­gel­leh­rer und -ma­cher so­wie Thea­ter­wis­sen­schaft­ler, vorgelegt.

Die Haupt­fi­gur, das Ne­bel­horn, bleibt in den grif­fi­gen Wor­ten der Ver­fas­se­rin wahr­haft ein “mons­trö­ses, obs­zö­nes und me­lan­cho­li­sches Ding.” Das Lied des Ne­bel­horns er­klingt in ei­ner di­gi­ta­li­sier­ten Welt mit­tels Sa­tel­li­ten und GPS für die Na­vi­ga­ti­on auf See nur noch sel­ten für Tou­ris­ten an den Küs­ten. In na­tu­ra er­tönt es mäch­tig, ge­wal­tig, ex­zes­siv, schrill und schräg wie eine fixe Idee in die­sem hier vor­lie­gen­den Band mit die­sem un­ge­wöhn­li­chen Thema. ♦

Jen­ni­fer Lucy Al­lan: Das Lied des Ne­bel­horns – Eine Klang- und Kul­tur­ge­schich­te, 336 Sei­ten, Mare Ver­lag, ISBN 978-3-86648-689-8

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Mu­sik auch über Arno Sto­cker: Der Klavierflüsterer

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