Peter Biro: Die wundersame Apothekerverdopplung

Die wundersame Apothekerverdopplung

Peter Biro

Nach wie vor rin­gen die Sach­ver­stän­di­gen um eine Erklä­rung für die selt­same Natur­er­schei­nung, die in der unan­sehn­li­chen schot­ti­schen Klein­stadt Plock­ton an der Küste der Graf­schaft Broomshire ihren Anfang genom­men hat. Seit­dem ver­brei­tet sich das selt­same Phä­no­men der plötz­li­chen Apo­the­ker­ver­dopp­lung wie ein Lauf­feuer von Nord nach Süd über die bri­ti­schen Inseln. Zur­zeit wird im Wochen­rhyth­mus über neue auf­ge­tre­tene Ver­dopp­lungs­fälle berich­tet, wonach aus jeweils einem Apo­the­ker urplötz­lich zwei Indi­vi­duen ent­stan­den sind, die völ­lig iden­tisch aus­se­hen und sich ebenso verhalten.
Die ent­stan­de­nen Dupli­kate ähneln gewis­ser­mas­sen ein­ei­igen Zwil­lin­gen, nur mit dem Unter­schied, dass sie spie­gel­bild­lich ver­kehrt sind; einer ist ein Rechts­hän­der, der andere ein Links­hän­der. Wo vor­han­den, ist auch der jewei­lige Schei­tel der Phar­ma­zeu­ten spie­gel­bild­lich umge­kehrt gezo­gen. Ein wei­te­res, beson­de­res Cha­rak­te­ris­ti­kum die­ser Erschei­nung ist, dass sie aus­schliess­lich bei paki­sta­nisch-stäm­mi­gen Apo­the­kern auf­tritt, und dar­un­ter auch nur sol­che betrifft, die min­des­tens seit zehn Jah­ren ihren Beruf ausüben.

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Ob das Ganze etwas mit irgend­wel­chen phar­ma­zeu­ti­schen Sub­stan­zen zu tun hat, mit denen die Betrof­fe­nen han­tier­ten, oder gar über­na­tür­li­che Mecha­nis­men im Spiel sind, ist reine Spe­ku­la­tion. Selbst der all­wis­sende Pfar­rer der Gemeinde, der für abson­der­li­che Epi­pha­nien im Zusam­men­hang mit dem benach­bar­ten Loch wohl­be­kannt ist, weiss dies­be­züg­lich keine pas­sende Erklä­rung, zumal die wun­der­same Lei­bes­ver­meh­rung bis­her aus­schliess­lich bei mos­le­mi­schen Apo­the­kern beob­ach­tet wurde.
Am bes­ten kennt man noch den ers­ten Fall, der sich – wie aus hei­te­rem Him­mel – im ein­gangs erwähn­ten Plock­ton ereig­net hatte. Er betraf Ghulam Mus­sa­far, den 58-jäh­ri­gen Apo­the­ker des klei­nen, beschau­li­chen Ortes. Die­ser ging eines Tages auf Geheiss sei­ner Frau in den Kel­ler hin­un­ter, um ein­ge­mach­ten Oran­gen­ge­lee zu holen. Kurze Zeit spä­ter kam er in zwei­fa­cher Aus­füh­rung wie­der an die Ober­flä­che – in bei­den Vari­an­ten jeweils mit einem Mar­me­la­de­glas in der Hand.
Der uner­war­tete Anblick der dop­pel­ten Gat­ten-Erschei­nung liess Fatima Mus­sa­far, die Her­rin des Hau­ses, zuerst an ihrem Ver­stand zwei­feln. Aber nach­dem sie bei­den Män­nern flüch­tig in die Augen sah, sank sie kur­zer­hand bewusst­los in sich zusam­men. Dar­auf­hin rann­ten beide Apo­the­ker in den angren­zen­den Lager­raum der Apo­theke, um Riech­salz zu holen, und der zu Tode erschro­cke­nen Ehe­frau wie­der auf die Beine zu hel­fen. Dies war die ein­zige ein­träch­tige Zusam­men­ar­beit der bei­den Apo­the­ker­va­ri­an­ten, bevor sie sich in die Haare gerieten.
Fatima wachte aus ihrer kurz­fris­ti­gen Ohn­macht auf und über­zeugte sich hand­greif­lich über die Rea­li­tät der phan­tas­ti­schen Erschei­nung. Dabei kam sie zur Schluss­fol­ge­rung, dass sie sich offen­sicht­lich in einer biga­mis­ti­schen Bezie­hung befand, was in ihrem Kul­tur­kreis erst recht nicht tole­riert würde. Von der Aus­sicht auf Äch­tung durch ihre stren­gen Eltern und oben­drein vom soeben Erleb­ten gera­dezu über­wäl­tigt, lief die nur mit ihrem Mor­gen­rock beklei­dete Frau in die high­län­di­sche Kälte hin­aus, schnur­stracks zu ihrer Freun­din, der Ärz­tin des Ortes, um sich Rat und Zuspruch zu holen.

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Die wun­der­same Apo­the­ker­ver­dopp­lung: “Ob das Ganze etwas mit irgend­wel­chen phar­ma­zeu­ti­schen Sub­stan­zen zu tun hat?”

Es war besagte prak­ti­sche Ärz­tin, Dr. Lilian McAu­liffe, die, als erste wis­sen­schaft­lich geschulte Per­son mit der neu­ar­ti­gen Apo­the­ker­ver­dopp­lung kon­fron­tiert wurde und dar­über die Öffent­lich­keit infor­mierte. Ihr knap­per und wis­sen­schaft­lich eher unsys­te­ma­ti­scher Bericht, den sie zuhan­den des Lokal­re­por­ters Henry Bige­low vom Kyle of Lochalsh Trari­trara ver­fer­tigte, beschrieb, in der bekannt spar­sa­men schot­ti­schen Art, den Ablauf der Ereig­nisse mit aus­ge­spro­chen kur­zen Sät­zen. Dem­zu­folge ent­stand die Ver­dopp­lung des Apo­the­kers Ghulam Mus­sa­far inner­halb weni­ger Augen­bli­cke, als die­ser sich kurz im Kel­ler des Hau­ses auf­hielt um die erwähnte Mar­me­lade zu holen. Beim Griff nach dem Ein­mach­glas habe es einen kur­zen Knall gege­ben, gefolgt von einem grel­len bläu­li­chen Licht­blitz. Danach sei Stille ein­ge­tre­ten, jedoch sei ein ste­chen­der Geruch die Kel­ler­treppe empor­ge­stie­gen, der ent­fernt an ver­brannte Woll­so­cken erin­nerte. Anschlies­send waren zwei völ­lig iden­ti­sche Kopien des zwar ver­wirrt aus­se­hen­den, aber ansons­ten unver­sehr­ten Apo­the­kers in Erschei­nung getre­ten, beide Kopien gleich geklei­det und sich auch sonst gleich­ar­tig verhaltend.

Nach einer kur­zen, ziel­ge­rich­te­ten Zusam­men­ar­beit der bei­den Mus­sa­raf­ko­pien zur Wie­der­be­le­bung der in Ohn­macht gefal­le­nen, gemein­sa­men Gat­tin, begann eine Aus­ein­an­der­set­zung um die Rechte an der Iden­ti­tät der ursprüng­li­chen Per­son, gefolgt von Strei­tig­kei­ten um den Besitz von Haus, Hof, Gar­ten, dem geleas­ten Aston Mar­tin und der Apo­theke. Beide Mus­sa­rafs bestan­den dar­auf, der recht­mäs­sige Apo­the­ker des Ortes zu sein und über die fach­li­chen Kennt­nisse zu ver­fü­gen, die zur Aus­übung des phar­ma­zeu­ti­schen Berufs erfor­der­lich waren. Eiligst kram­ten sie in den Schub­la­den des Büro­tischs nach der Iden­ti­täts­karte sowie offi­zi­el­len Nach­wei­sen und Diplo­men, die sie sich gegen­sei­tig unter die Nase hielten.
Auf­grund der völ­li­gen Über­ein­stim­mung in allen Belan­gen liess sich auch auf­grund der vor­ge­leg­ten Doku­mente kei­ner­lei Eini­gung erzie­len, wer nun von ihnen der “rich­tige” Ghulam Mus­sa­raf wäre. Beide bestan­den vehe­ment dar­auf, der recht­mäs­sige Eigen­tü­mer der Per­sön­lich­keits­rechte zu sein und beschul­dig­ten den jeweils ande­ren, nur eine Kopie zu ver­kör­pern, die augen­blick­lich zu ver­schwin­den habe. Ins­be­son­dere konn­ten sich die zwei Streit­hähne nicht um das Vor­recht eini­gen, wer von ihnen nun bei der Dame des Hau­ses im Dop­pel­bett näch­ti­gen dürfte. Fatima wie­derum lehnte es ent­schie­den ab, in der Mitte zwi­schen den bei­den Gat­ten zu lie­gen. Allein schon ihres Rückens wegen könnte sie es nicht auf der Besu­cher­ritze aus­hal­ten, vom zu erwar­ten­den dop­pel­ten Schnarch­kon­zert ganz zu schweigen.
Unnö­tig zu sagen, dass die zwei Kopien des Apo­the­kers keine defi­ni­tive Eini­gung dar­über fin­den konn­ten, wer von ihnen nun der recht­mäs­sige Besit­zer und Bewoh­ner des Hau­ses und des darin befind­li­chen Inven­tars war. Als sie ein­se­hen muss­ten, dass kei­ner von ihnen nach­ge­ben würde, fan­den sie zumin­dest einen zeit­wei­li­gen Aus­weg. Als pro­vi­so­ri­sches modus vivendi ver­ein­bar­ten sie, sich bei der Arbeit und im pri­va­ten Bereich im Wochen­tur­nus abzu­wech­seln. Wäh­rend der eine, sagen wir Mus­sa­raf A, sich in der Apo­theke auf­hielt und die Geschäfte führte, ver­blieb der andere im Haus und wid­mete sich dem Pri­vat­le­ben und der Pflege der ehe­li­chen Bezie­hung. In der dar­auf­fol­gen­den Woche über­nahm Mus­sa­raf B den Laden und sein alter ego besorgte die häus­li­chen Pflich­ten und Ange­le­gen­hei­ten. Letz­te­res geschah ins­be­son­dere aus wohl­ver­stan­de­ner Rück­sicht gegen­über der sen­si­blen Fatima, die auf diese Weise eini­ger­mas­sen beru­higt zu ihrem geord­ne­ten Lebens­um­stän­den zurück­fin­den konnte.
Mit der Zeit ergab es sich – nicht ganz zur Unzu­frie­den­heit der nerv­lich und auch sonst etwas über­stra­pa­zier­ten Gat­tin – dass Haus­halt und Geschäfts­füh­rung unge­fähr dop­pelt so schnell und effek­tiv erle­digt wur­den wie vor der Ein­füh­rung des uner­war­te­ten ménage a trois. Auch das Lie­bes­le­ben der Apo­the­ke­rin­nen­frau ver­bes­serte sich um den Fak­tor 2, so dass die Dame des Hau­ses sich recht zügig mit der neuen Situa­tion anfreun­dete. Zur­zeit ist es aller­dings noch unklar, ob es bei den drei Mus­sa­rafs wei­ter­hin so har­mo­nisch zugeht.

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Die sich ein­stel­lende Rou­tine beru­higte einst­wei­len die Gemü­ter, und bis jetzt (toi-toi-toi!) hört man kein Geze­ter aus dem klei­nen Haus am Orts­rand von Plock­ton. Glück­li­cher­weise befin­den sich die Kin­der der Fami­lie seit dem Auf­tre­ten die­ser Ereig­nisse bei ihren Gross­el­tern in Karat­schi, so dass ihnen der Schock der väter­li­chen Ver­dopp­lung vor­erst erspart bleibt. Wie es mit den dop­pel­ten Ghul­ams inzwi­schen wei­ter­ging, ent­zieht sich der all­ge­mei­nen Kennt­nis, aber ähn­lich gela­gerte Fälle wie­der­hol­ten sich rund ein Dut­zend Mal in Schott­land und im nörd­li­chen Eng­land, alle­samt aus­schliess­lich paki­sta­nisch-stäm­mige Apo­the­ker betref­fend. Die ein­zige Gemein­sam­keit, wel­che von fin­di­gen Sach­ver­stän­di­gen als irgend­wie ursäch­lich für die mys­te­riö­sen Apo­the­ker­ver­dopp­lun­gen ver­däch­tigt wird, war der Umstand, dass alle diese Phar­ma­zeu­ten nach alten Rezep­tu­ren mit selbst­ge­mach­ten Kräu­ter­pas­ten für ori­en­ta­li­sche Haut­aus­schläge han­tiert hat­ten. Das scheint eine ehr­wür­dige Tra­di­tion die­ses Berufs­stan­des vom asia­ti­schen Sub­kon­ti­nent zu sein, aller­dings sind kei­ner­lei ähn­lich gela­ger­ten Fälle aus Indien oder Paki­stan bekannt gewor­den. Man­che Bevöl­ke­rungs­sta­tis­ti­ker haben aller­dings auf auf­fäl­lig häu­fi­gere Mehr­lings­ge­bur­ten bei Fami­li­en­mit­glie­dern die­ses Berufs­stan­des hingewiesen.

Nun befas­sen sich nam­hafte Che­mi­ker, Bio­lo­gen und Zwil­lings­for­scher mit dem selt­sa­men Phä­no­men und suchen nach einer plau­si­blen Erklä­rung. Hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand wer­den Ver­mu­tun­gen über unge­ahnte Inter­ak­tio­nen zwi­schen alt­in­di­schen Tink­tu­ren mit Kräu­ter­es­sen­zen von der Atlan­tik­küste ange­stellt. Aller­dings gibt es bis­her noch keine über­zeu­gen­den Hin­weise. Natür­lich hat sich die Bou­le­vard­presse der Sache ange­nom­men und schlach­tet die sen­sa­tio­nel­len Ereig­nisse mit markt­schreie­ri­schen Schlag­zei­len aus. Wochen­lang bela­ger­ten meh­rere in- und aus­län­di­sche Fern­seh­teams das kleine Haus am Orts­rand von Plock­ton, um wenigs­tens ein Bild zu erha­schen, auf dem beide Apo­the­ker gleich­zei­tig zu sehen sind. Aller­dings haben sie damit kei­nen Erfolg gehabt und konn­ten immer nur den einen der bei­den Apo­the­ker hin­ter dem Schau­fens­ter oder auf dem Weg erspä­hen, wenn die­ser unter­wegs war, um Besor­gun­gen zu erle­di­gen. Auf kei­nem der Bil­der oder Film­se­quen­zen konnte man erken­nen, ob es sich um Ghulam Mus­sa­raf A oder B han­delte. Man­che ent­täusch­ten Bericht­erstat­ter reis­ten nach und nach wie­der ab und einige zogen die dop­pelte Aus­füh­rung des Plock­to­ner Apo­the­kers sogar in Zwei­fel. Dann hiess es, dass es sich ledig­lich um einen PR-Stunt gehan­delt habe, um dem ver­schla­fe­nen Ort zu einer gewis­sen Bekannt­heit, und dem Tou­ris­mus­be­trieb zu einem Auf­schwung zu ver­hel­fen. Aller­dings spricht das spo­ra­di­sche Auf­tre­ten von Apo­the­ker­ver­dopp­lun­gen andern­orts gegen diese Hypo­these. Immer­hin ver­zeich­nete die ein­zige Gast­stätte des Ortes einen sprung­haf­ten Anstieg des Umsat­zes, das ein­zige zu ver­mie­tende Frem­den­zim­mer war von da an kon­ti­nu­ier­lich belegt, und der umtrie­bige Bür­ger­meis­ter gab umge­hend eine nah gele­gene Schafs­weide als Auto­bus­park­platz frei.
Nun ist abzu­war­ten, wie sich die Sach­lage ent­wi­ckelt, und ob, wann und wo es zu wei­te­ren Apo­the­ker­ver­dopp­lun­gen kom­men wird, bezie­hungs­weise was die schluss­end­li­che Erklä­rung für die­ses unge­wöhn­li­che Phä­no­men ist. Man darf gespannt bleiben. ♦

Diese Geschichte widme ich mei­nem seli­gen Vater Ladis­laus Biro (1915-2010), der zeit­le­bens ein ein­zel­ner Apo­the­ker war, und dem es nie gelang sich zu ver­dop­peln. Im Gegenteil.

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN von Peter Biro auch die Satire Schreib­blo­ckade


Ein Kommentar

  1. Der beson­dere Reiz der Geschichte liegt in der glän­zen­den Mischung von aus­ufern­der Fan­ta­sie in wis­sen­schaft­li­cher Ver­klei­dung und ihrer uner­staun­ten Akzep­tanz als Teil des All­tags durch die han­deln­den Per­so­nen. Intel­li­gente Unterhaltung!

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