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Reise nach innen
von Alexandra Lavizzari
Peter Stamm setzt mit dem neuen Roman “Das Archiv der Gefühle” seine Reise nach innen fort und zeigt uns unterwegs auf seine einmalig luzide Art, wie dünn und brüchig die Trennwand zwischen Wirklickkeit, Sehnsucht und Erinnerung sein kann. Stamm lässt seinen Icherzähler, einen eigenbrötlerischen Archivar, immer wieder zwischen diesen Ebenen oszillieren und reiht dabei dessen Wunschdenken nahtlos an Fakten und die erinnerten, oft idyllischen Ereignisse der Vergangenheit an eine gegenwärtige, minutiös protokollierte Vereinsamung zu Zeiten eines bloß angedeuteten Lockdowns.
Sie heißt Frankziska, die große Jugendliebe des erzählenden Archivars, und sie hat sich, lange nachdem sie einander aus den Augen verloren haben, über die Jahre so tief in seine Gedanken und Gefühle eingenistet, dass er sie überall mit sich herumträgt, wo immer und mit wem er gerade ist. Meist aber ist er allein und führt, seit ihm gekündigt wurde, spazierend und im geerbten Elternhaus weiter vor sich hin archivierend ein freudloses und eintöniges Dasein.
Aus Franziska ist inzwischen Fabienne der Chanson-Star geworden, und als solche tingelt sie durch die Schweiz und füllt die Klatschspalten der Boulevardpresse mit ihren Konzerten und Liebschaften. Der Ich-Erzähler verfolgt von seiner Klause aus ihre Karriere und quält sich dabei mit der Frage, warum das Leben sie hat auseinanderdriften lassen. Liebte sie ihn denn nicht? Haben sie einfach aus Unachtsamkeit aneinander vorbeigeliebt? Oder hatte es an ihm gelegen? “Vielleicht war ich deshalb so überwältigt gewesen von meinen Gefühlen für Franziska, die aus dem Körper zu kommen schienen, nicht aus dem Kopf. Weil ich sie nicht verstand… Das mag der Grund gewesen sein, weshalb ich alles tat, um nicht zum Opfer dieser Gefühle zu werden.”
Ein verpasstes Leben

Über Jahre lebt der Einzelgänger einigermaßen zufrieden zwischen Fantasievorstellungen von der Geliebten und dem Lesen, Schnippeln, Kleben und Codieren von Zeitungsartikeln. Auch über Franziska/Fabienne führt er eine Akte, und somit weiß er zu jeder Zeit über ihr Leben Bescheid. Aber die gegenwärtige Fabienne interessiert ihn weniger als seine Jugendliebe Franziska, und entsprechend sind die schönsten Passagen dieser Beziehung, die keine ist, letztlich jene, in denen ihn die Franziska von damals in fast märchenhaft gezeichneten Szenen ins Wasser lockt und dann, kaum hat er sie berührt, wie eine unfassbare Nymphe entschlüpft.
Solange Franziska in seinem Kopf wohnt, kann der Archivar mit seinen Gefühlen umgehen und auch dem obsessiven Ordnen von Fakten einen Sinn abgewinnen. Als die Umstände plötzlich ein Wiedersehen ermöglichen und er Franziska nach einem Telefongespräch schließlich in ihrer Luxusvilla mit Pool und allem Drum und Dran besuchen kann, regen sich in ihm jedoch Zweifel: “Mein ganzes Leben kommt mir plötzlich elend vor, es scheint mir, als hätte ich gar nie wirklich gelebt, als hätte ich immer nur anderen beim Leben zugeschaut und gewartet, dass etwas geschieht. Und nichts geschah.”
Das Archiv
Das Gerüst dieses eindrücklichen und tiefgründigen Textes bildet indessen nicht die Liebesgeschichte, sondern das Archiv. Zu Beginn ist sich der Ich-Erzähler noch über dessen Zweck sicher: Das Archiv ist ein Abbild der Welt und dazu da, um in ihr Ordnung zu schaffen. Das beruhigt ihn, wenn es ihm auch in Momenten der Verweiflung wie ein Verlies vorkommt, in das er sich selbst gesperrt hat.
Allmählich kommt er sich jedoch selbst auf die Schliche und erkennt, dass das Archiv eigentlich nur ein Abbild seiner eigenen Welt ist, die er selbst gestalten und nach Gutdünken verändern kann. Sodann beginnt er es zu vernachlässigen, und es entstehen Lücken, in denen er nach dem ersten Schrecken eine Art Befreiung wittert.
Am Schluss ist er soweit, den ganzen Papierberg zu entsorgen und aus der entstandenen Leere einen Neuanfang mit Franziska zu wagen. Eine ungewisse Zukunft erwartet das Paar, doch sie sind bereit, zusammen anzupacken, was vom Leben übrig bleibt. Auf den letzten Seiten des Romans betrachten sie die Schweizer Alpen im Morgengrauen, Franziska zählt die Gipfel auf: Den Tödi, das Schärhorn, der kleine Mythen – und beendet die Geschichte mit einem atemberaubend schönen Satz, für den allein es sich lohnt, sich diesen leisen und doch wuchtigen literarischen Text zu Gemüte zu führen. ♦
Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle, Roman, 188 Seiten, S. Fischer Verlag, ISBN 978-3103974027
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