Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle (Roman)

Reise nach innen

von Alexandra Lavizzari

Peter Stamm setzt mit dem neuen Roman “Das Archiv der Gefühle” seine Reise nach innen fort und zeigt uns unter­wegs auf seine ein­ma­lig luzide Art, wie dünn und brü­chig die Trenn­wand zwi­schen Wirk­lick­keit, Sehn­sucht und Erin­ne­rung sein kann. Stamm lässt sei­nen Ich­er­zäh­ler, einen eigen­bröt­le­ri­schen Archi­var, immer wie­der zwi­schen die­sen Ebe­nen oszil­lie­ren und reiht dabei des­sen Wunsch­den­ken naht­los an Fak­ten und die erin­ner­ten, oft idyl­li­schen Ereig­nisse der Ver­gan­gen­heit an eine gegen­wär­tige, minu­tiös pro­to­kol­lierte Ver­ein­sa­mung zu Zei­ten eines bloß ange­deu­te­ten Lockdowns.

Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle - Roman - S. Fischer VerlagSie heißt Frank­ziska, die große Jugend­liebe des erzäh­len­den Archi­vars, und sie hat sich, lange nach­dem sie ein­an­der aus den Augen ver­lo­ren haben, über die Jahre so tief in seine Gedan­ken und Gefühle ein­ge­nis­tet, dass er sie über­all mit sich her­um­trägt, wo immer und mit wem er gerade ist. Meist aber ist er allein und führt, seit ihm gekün­digt wurde, spa­zie­rend und im geerb­ten Eltern­haus wei­ter vor sich hin archi­vie­rend ein freud­lo­ses und ein­tö­ni­ges Dasein.

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Aus Fran­ziska ist inzwi­schen Fabi­enne der Chan­son-Star gewor­den, und als sol­che tin­gelt sie durch die Schweiz und füllt die Klatsch­spal­ten der Bou­le­vard­presse mit ihren Kon­zer­ten und Lieb­schaf­ten. Der Ich-Erzäh­ler ver­folgt von sei­ner Klause aus ihre Kar­riere und quält sich dabei mit der Frage, warum das Leben sie hat aus­ein­an­der­drif­ten las­sen. Liebte sie ihn denn nicht? Haben sie ein­fach aus Unacht­sam­keit anein­an­der vor­bei­ge­liebt? Oder hatte es an ihm gele­gen? “Viel­leicht war ich des­halb so über­wäl­tigt gewe­sen von mei­nen Gefüh­len für Fran­ziska, die aus dem Kör­per zu kom­men schie­nen, nicht aus dem Kopf. Weil ich sie nicht ver­stand… Das mag der Grund gewe­sen sein, wes­halb ich alles tat, um nicht zum Opfer die­ser Gefühle zu werden.”

Ein verpasstes Leben

Peter Stamm (2) - Glarean Magazin
“Ein lei­ser, aber lite­ra­risch wuch­ti­ger Text”: Peter Stamm (*1963)

Über Jahre lebt der Ein­zel­gän­ger eini­ger­ma­ßen zufrie­den zwi­schen Fan­ta­sie­vor­stel­lun­gen von der Gelieb­ten und dem Lesen, Schnip­peln, Kle­ben und Codie­ren von Zei­tungs­ar­ti­keln. Auch über Franziska/Fabienne führt er eine Akte, und somit weiß er zu jeder Zeit über ihr Leben Bescheid. Aber die gegen­wär­tige Fabi­enne inter­es­siert ihn weni­ger als seine Jugend­liebe Fran­ziska, und ent­spre­chend sind die schöns­ten Pas­sa­gen die­ser Bezie­hung, die keine ist, letzt­lich jene, in denen ihn die Fran­ziska von damals in fast mär­chen­haft gezeich­ne­ten Sze­nen ins Was­ser lockt und dann, kaum hat er sie berührt, wie eine unfass­bare Nym­phe entschlüpft.

Solange Fran­ziska in sei­nem Kopf wohnt, kann der Archi­var mit sei­nen Gefüh­len umge­hen und auch dem obses­si­ven Ord­nen von Fak­ten einen Sinn abge­win­nen. Als die Umstände plötz­lich ein Wie­der­se­hen ermög­li­chen und er Fran­ziska nach einem Tele­fon­ge­spräch schließ­lich in ihrer Luxus­villa mit Pool und allem Drum und Dran besu­chen kann, regen sich in ihm jedoch Zwei­fel: “Mein gan­zes Leben kommt mir plötz­lich elend vor, es scheint mir, als hätte ich gar nie wirk­lich gelebt, als hätte ich immer nur ande­ren beim Leben zuge­schaut und gewar­tet, dass etwas geschieht. Und nichts geschah.”

Das Archiv

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Das Gerüst die­ses ein­drück­li­chen und tief­grün­di­gen Tex­tes bil­det indes­sen nicht die Lie­bes­ge­schichte, son­dern das Archiv. Zu Beginn ist sich der Ich-Erzäh­ler noch über des­sen Zweck sicher: Das Archiv ist ein Abbild der Welt und dazu da, um in ihr Ord­nung zu schaf­fen. Das beru­higt ihn, wenn es ihm auch in Momen­ten der Verweif­lung wie ein Ver­lies vor­kommt, in das er sich selbst gesperrt hat.
All­mäh­lich kommt er sich jedoch selbst auf die Schli­che und erkennt, dass das Archiv eigent­lich nur ein Abbild sei­ner eige­nen Welt ist, die er selbst gestal­ten und nach Gut­dün­ken ver­än­dern kann. Sodann beginnt er es zu ver­nach­läs­si­gen, und es ent­ste­hen Lücken, in denen er nach dem ers­ten Schre­cken eine Art Befrei­ung wittert.

Am Schluss ist er soweit, den gan­zen Papier­berg zu ent­sor­gen und aus der ent­stan­de­nen Leere einen Neu­an­fang mit Fran­ziska zu wagen. Eine unge­wisse Zukunft erwar­tet das Paar, doch sie sind bereit, zusam­men anzu­pa­cken, was vom Leben übrig bleibt. Auf den letz­ten Sei­ten des Romans betrach­ten sie die Schwei­zer Alpen im Mor­gen­grauen, Fran­ziska zählt die Gip­fel auf: Den Tödi, das Schär­horn, der kleine Mythen – und been­det die Geschichte mit einem atem­be­rau­bend schö­nen Satz, für den allein es sich lohnt, sich die­sen lei­sen und doch wuch­ti­gen lite­ra­ri­schen Text zu Gemüte zu führen. ♦

Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle, Roman, 188 Sei­ten, S. Fischer Ver­lag, ISBN 978-3103974027

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Neue Roman-Lite­ra­tur auch über Ursula Has­ler: Die schiere Wahrheit

… sowie über die neuen Erzäh­lun­gen von Tomas Gon­za­les: Die sta­che­lige Schön­heit der Welt

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