Peter Biro: Der Exodus der Schachfiguren (Humoreske)

Der Exodus der Schachfiguren

Peter Biro

Nach lan­gem Über­le­gen und scharf­sich­ti­gem Ana­ly­sie­ren der Situa­tion, in der sich die Ein­woh­ner sei­nes Klein­staa­tes befan­den, ver­kün­dete sei­nem Volk der schwarze König Bohe­mund IV, im Volks­mund auch King Black genannt, dass der Aus­zug vom ange­stamm­ten Schach­brett eine Not­wen­dig­keit sei…

Nach lan­gem Über­le­gen und scharf­sich­ti­gem Ana­ly­sie­ren der Situa­tion, in der sich die Ein­woh­ner sei­nes Klein­staa­tes befan­den, ver­kün­dete sei­nem Volk der schwarze König Bohe­mund IV, im Volks­mund auch King Black genannt, dass der Aus­zug vom ange­stamm­ten Schach­brett eine Not­wen­dig­keit sei. Der beson­ders nach­denk­li­che King Black kam nach kur­zer Intro­spek­tion zum Schluss, dass diese Maß­nahme unum­gäng­lich und somit eigent­lich bereits eine beschlos­sene Sache sei. Die Ent­schei­dung war ihm gar nicht leicht­ge­fal­len, aber der heim­li­che Abgang vom Schach­brett sei nun mal die ein­zige Mög­lich­keit, aus der qua­dra­ti­schen Enge des Spiel­felds aus­zu­bre­chen und die seit lan­gem ersehnte Frei­heit zu erlangen.

Lange Abende an verrauchten Spieltischen

Schach-Satire - Exodus der Schachfiguren - Peter Biro - Glarean Magazin
Gelingt den 32 Schach­fi­gu­ren die Flucht run­ter vom Brett in die Freiheit?

Mit dra­ma­ti­schen Wor­ten erläu­terte er sei­nen in vier Rei­hen auf­ge­stell­ten schwar­zen und wei­ßen Lands­leu­ten die tra­gi­sche Lei­dens­ge­schichte sei­nes unter­drück­ten Vol­kes. Er sparte nicht mit bild­rei­chen Schil­de­run­gen der elend lan­gen Abende an ver­rauch­ten Spiel­ti­schen, an denen er und seine Kame­ra­den sich von wah­ren oder ver­meint­li­chen Geis­tes­grö­ßen her­um­schie­ben las­sen muss­ten und zu grau­sa­men Gla­dia­to­ren­kämp­fen gezwun­gen wur­den. Bei die­sen Wett­kämp­fen wur­den jedes Mal etli­che sei­ner Unter­ta­nen vom Brett gefegt und bis auf wei­te­res in den Figu­ren­kas­ten gesperrt. Je nach Ver­mö­gen der Spie­ler blieb bes­ten­falls nur der sieg­rei­che König mit eini­gen weni­gen Getreuen als Über­le­bende des jewei­li­gen Spiels übrig. Mit ande­ren Wor­ten, viele sei­ner Lands­leute wur­den Opfer eines all­abend­lich statt­fin­den­den Massakers.

Melania von Ohrensausen

Schach-Humoreske - Melania von Ohrensausen - Glarean Magazin
“Guter Klei­der­ge­schmack war Mela­nias Sache nicht”

Die­ses wehr­lose Aus­ge­lie­fert­sein musste um jeden Preis been­det wer­den, und gerade jetzt sei dafür die Zeit gekom­men. Seine Part­ne­rin, die schwarze Köni­gin Mela­nia Car­lotta III (eine gebo­rene Her­zo­gin von Ohren­sausen und Schlyck) war zunächst ebenso wenig begeis­tert vom plötz­li­chen Frei­heits­drang ihres Gat­ten wie ihre weiße Gegen­spie­le­rin, wel­che bekannt­lich die heim­li­che Geliebte King Blacks war.
Oben­drein wusste Mela­nia von Ohren­sausen nicht so recht, was im Falle einer Flucht anzu­zie­hen wäre. Im Gegen­satz zu ihrer wei­ßen Gegen­spie­le­rin haderte sie stän­dig mit der Gar­de­robe – denn guter Klei­der­ge­schmack war nun mal ihre Sache nicht. Aber ein fina­les Macht­wort des vier­ten Bohe­munds tat seine Wir­kung, und sie fügte sich nicht nur gehor­sam in ihr Schick­sal, sie begann sogar die Idee der Befrei­ung bei den ande­ren Figu­ren zu propagieren.

Gemeinsame Flucht…

Damit war bald die Mehr­heit des Klans, nament­lich die schwar­zen Gefolgs­leute mit der vom Herr­scher ver­ord­ne­ten Aktion ein­ver­stan­den. Nur sein lin­ker Läu­fer blieb irgend­wie unbe­ein­druckt, denn die­ser hatte bei einem frü­her aus­ge­tra­ge­nen Kampf sei­nen kom­ple­men­tär­far­bi­gen Kopf ver­lo­ren. Jene als Haupt fun­gie­rende weiße Kugel ruhte nun unbe­nutzt in der Figu­ren­schach­tel und war­tete dar­auf, von einer barm­her­zi­gen Hand wie­der auf den zylin­drisch schlan­ken Torso auf­ge­leimt zu wer­den. Aber so kopf­los wie er nun mal war, konnte der behin­derte Läu­fer nicht an den hit­zi­gen Debat­ten um Ver­bleib oder Gehen teil­neh­men, und blieb weit­ge­hend über die sich ent­fal­ten­den Ereig­nisse im Dun­keln – eben in jener der klei­nen, mit Samt aus­ge­leg­ten Holz­kiste am Rande des Spielbretts.

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Ein weit grö­ße­res Pro­blem als der rat­lose, linke Läu­fer war es, den geg­ne­ri­schen Klan, das heißt die weiße Mann­schaft, von der Not­wen­dig­keit einer gemein­sa­men Flucht zu über­zeu­gen. Ihr Anfüh­rer, der weiße König Wen­zes­laus II, im Volks­mund auch Ol` King White genannt, war für seine eher zau­dernde Hal­tung bekannt, so dass beim Ver­such ihn zu über­re­den mit vehe­men­tem Wider­spruch zu rech­nen war. Aber der schwarz­bär­tige Bohe­mund hatte dafür noch einen Trumpf in der Hand: er ver­an­lasste seine Geliebte, die weiße Köni­gin Bianca Lipo­succta IX (gebo­rene Fürs­tin von Schlag­obers de Saan), ihrem Gat­ten die Not­wen­dig­keit einer bal­di­gen Flucht sub­til einzuflüstern.
Gemäß kol­por­tier­ter Gerüchte aus den Rei­hen der schwatz­haf­ten Höf­linge, gab diese ihr Bes­tes (was immer das auch gewe­sen sein mag), um ihren weiß­bär­ti­gen Gemahl zu über­zeu­gen, sei­nen anfäng­li­chen Wider­stand gegen einen Exodus der Figu­ren auf­zu­ge­ben. Trotz gutem Zure­den und eini­ger hier nicht wei­ter zu erläu­tern­der Tricks und Kniffe der geschickt agie­ren­den Bianca von Schlag­obers de Saan bestand Ol` King White, alias Wen­zes­laus II, wenigs­tens auf einen rit­ter­li­chen Zwei­kampf als Ent­schei­dungs­hilfe. Er ver­trat den Stand­punkt, dass eine Mei­nungs­ver­schie­den­heit zwi­schen gekrön­ten Häup­tern, grund­sätz­lich mit­tels eines Duells zu regeln ist, so wie es sich nach höfi­scher Art geziemt und vom ein­fa­chen Bau­ern­volk auch erwar­tet wird. Dies gilt sogar trotz der unwi­der­leg­ba­ren Tat­sa­che, dass nicht nur die ein­fa­chen Figu­ren, son­dern auch die roya­len Wür­den­trä­ger aus nichts ande­rem als aus gewöhn­li­chem Klein­holz gefer­tigt sind.

… in die große weite Welt

Das vom Ol` King White, dem zwei­ten der Wen­zels­laeuse gefor­derte Duell musste sich in Form eines Tur­niers, oder bes­ser gesagt eines rit­ter­li­chen Schlag­ab­tauschs inmit­ten des Schach­bretts abspie­len und von den Bes­ten der Bes­ten bei­der Volks­grup­pen aus­ge­foch­ten wer­den. Des­halb führ­ten beide Herr­scher je einen Turm, einen Sprin­ger und drei Bau­ern ins Feld, um eine end­gül­tige Ent­schei­dung in Sachen Flucht oder Ver­bleib zu erwirken.

Piezas de ajedrez de torre blanca y caballero negro - Glarean Magazin
“…bis der schwarze Sprin­ger dem wei­ßen Turm zum Opfer fiel.”

Die Kom­bat­tan­ten tra­fen sich sym­me­trisch ange­ord­net ent­lang der Kampf­li­nie zwi­schen D4\F4 und D5\F5, und began­nen sogleich auf­ein­an­der ein­zu­schla­gen. Als ers­tes kick­ten sich die vor­ge­schick­ten Bau­ern gegen­sei­tig vom Feld, dann umspran­gen sich die Rös­ser eine Weile ergeb­nis­los, bis der schwarze Sprin­ger dem wei­ßen Turm zum Opfer fiel, und die­ser wie­derum von sei­nem schwar­zen Gegen­über gefällt wurde. Der übrig geblie­bene, sie­gei­che schwarze Turm stand tri­um­phie­rend auf E5 und winkte sei­ner jovial lächeln­den Köni­gin zu, um den Sieg der schwar­zen Par­tei und somit des eige­nen Anlie­gens zu signa­li­sie­ren. Auf diese Weise wurde ent­schie­den, dass wäh­rend der kom­men­den Nacht die gesamte Truppe unter der Füh­rung des schwar­zen Königs vom Spiel­brett tür­men und in die große, weite Welt auf­bre­chen würde.

Tablero de ajedrez bajo la lluvia nocturna - Revista Glarean
“…denn es war ein reg­ne­ri­scher Dienstagabend.”

Das Wet­ter war den Flüch­ten­den gewo­gen, denn es war ein mond­schein­lo­ser, reg­ne­ri­scher Diens­tag­abend. King Black rech­nete rich­ti­ger­weise damit, dass es dies­mal kein Schach­tur­nier geben und des­we­gen die Luft im unbe­wach­ten Spiel­zim­mer rein blei­ben würde. Eine der­art güns­tige Gele­gen­heit zum unbe­merk­ten Abschlei­chen durfte nicht ver­passt wer­den. Zwar hatte keine der 32 Figu­ren eine Ahnung davon, was auf sie da drau­ßen war­tete, aber alle hat­ten genug vom stän­di­gen Her­um­ex­er­zie­ren, das ewige Rum­ste­hen in Reih und Glied, das aggres­sive Vor­rü­cken gegen ihres­glei­chen, das sich gegen­sei­tig Bedro­hen müs­sen und vor allem vom anschlie­ßen­den Gemet­zel wäh­rend der all­wö­chent­li­chen Schachpartien.

Erste Vorbereitungen…

Bohe­mund, der bla­cke King gab das Zei­chen, mit den Vor­be­rei­tun­gen zu begin­nen. Die Figu­ren kon­trol­lier­ten ein letz­tes Mal die Filz­soh­len, auf denen sie leise davon­schlei­chen soll­ten. Neu­gie­rig und mit einer gewis­sen Por­tion Neid betrach­tete die dunkle Mela­nie ihre hell­häu­tige Kon­kur­ren­tin am gegen­über­lie­gen­den Brett­rand, die wie­der ein­mal ele­gan­ter als sie ange­zo­gen war. Bianca stand ker­zen­ge­rade in ihrem bes­ten Rei­se­kos­tüm, vom wei­ßen König und einem eben­sol­chen Berit­te­nen auf D8 ein­ge­rahmt. Die vier Rös­ser wie­her­ten bereits unge­dul­dig und spran­gen regel­kon­form in L-för­mi­gen Schritt­fol­gen tän­zelnd umher.
Der­weil hetz­ten die drei intak­ten Läu­fer dia­go­nal in der Gegend herum, um even­tu­elle Hin­der­nisse auf dem vor­ge­se­he­nen Flucht­weg aus­zu­kund­schaf­ten. Nur der kopf­lose linke Läu­fer der schwar­zen Par­tei hatte keine Ahnung davon, was da vor sich ging, und auch keine wei­te­ren Bedürf­nisse außer dem einen: wohl­ver­leimt end­lich wie­der mit sei­nem Haupt ver­ei­nigt zu wer­den. Er wurde behut­sam von sei­nem vor­an­ge­stell­ten Bau­ern an der Hand geführt, wäh­rend der abge­schla­gene Kopf natür­lich auch mit­kam, und zwar in der Obhut des rech­ten wei­ßen Turms, der gleich­zei­tig die Nach­hut anfüh­ren sollte.

Dame Brettspiel - 8x8 Startposition - Glarean Magazin
“24 flach­brüs­tige Damen des gleich­na­men Brettspiels”

Mehr pro forma und ohne große Hoff­nung auf Zustim­mung lud Bohe­mund die 24 Damen des gleich­na­mi­gen Brett­spiels ein, sich sei­nem Tross anzu­schlie­ßen. Aber wie erwar­tet wie­sen die ängst­li­chen Figür­chen auch nur den blo­ßen Gedan­ken an eine Flucht weit von sich, und der zutiefst bohe­mun­dete König Black bedau­erte bereits, sie über­haupt gefragt zu haben. Statt­des­sen sta­pel­ten sich die 24 flach­brüs­ti­gen Damen ängst­lich in vier Rei­hen in einer Ecke des Figu­ren­kas­tens und beob­ach­te­ten sor­gen­voll die Abmarsch­vor­be­rei­tun­gen der Schach­kol­le­gen bei­der­lei Couleur.

… und mitternächtlicher Abmarsch…

Schachuhr - Glarean Magazin
“Vol­ler Erwar­tung schau­ten alle auf die Stopp­uhr am Rande des Spielbretts”

Vol­ler Erwar­tung schau­ten alle auf die Stopp­uhr am Rande des Spiel­bretts, und als diese Mit­ter­nacht schlug, mar­schierte die erste Kolonne unter den auf­merk­sa­men Bli­cken Bohe­munds ab, der am Spiel­feld­rand ste­hend, der Pro­zes­sion auf­merk­sam zusah und jeder Figur ermu­ti­gend auf die kreis­runde Schul­ter klopfte. Die erste Gruppe, gewis­ser­ma­ßen die Vor­hut, bestand aus dem treuen lin­ken schwar­zen Turm, einem wei­ßen Läu­fer und fünf Bau­ern bei­der­lei Far­ben. Anschlie­ßend folgte die Haupt­macht unter der Füh­rung von König Wen­zes­laus und der bei­den Köni­gin­nen, die sich unent­wegt gegen­sei­tig beäug­ten und ihre Gar­de­ro­ben abschätz­ten. Im Zen­trum mar­schierte unmit­tel­bar dahin­ter die könig­li­che Leib­garde bestehend aus zwei Tür­men, flan­kiert von den zwei Sprin­gern Dex­ter und Linky, ihrer­seits gefolgt von neun gemisch­ten Bau­ern ein­schließ­lich des­je­ni­gen mit dem kopf­lo­sen Läu­fer an der Hand. Als letz­ter der Haupt­streit­macht gesellte sich Bohe­mund hinzu und winkte der etwas zurück­blei­ben­den Nach­hut, ihm bald­mög­lichst zu fol­gen. Diese ging anschlie­ßend unter der Füh­rung des rech­ten, wei­ßen Turms zusam­men mit den rest­li­chen Offi­zie­ren und Bau­ern, die große Mühe drauf ver­wen­de­ten, die Spu­ren des Aus­zugs zu verwischen.

… über den Vorhang…

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Vor­sich­tig seil­ten sich die Schach­fi­gu­ren eine nach der ande­ren an einer Falte des Vor­hangs, der direkt an den Spiel­tisch grenzte, zum Tep­pich­bo­den her­un­ter. Die ganze Aktion dau­erte unge­fähr eine halbe Stunde, bis alle sich in einer lan­gen Reihe zu Füßen des nächs­ten Tisch­beins zum Zähl­a­pell auf­stell­ten. Ledig­lich die zuoberst gesta­pel­ten Domino-Steine im benach­bar­ten Regal hat­ten etwas von der Aktion mit­be­kom­men und gaben die auf­re­gende Nach­richt vom Aus­zug der Kol­le­gen ihren zah­len­mä­ßig pas­sen­den Nach­barn wei­ter. So war es bald eine aus­ge­machte Sache unter den Bewoh­nern des Spiel­zim­mers, dass eine große Flucht­be­we­gung ange­lau­fen war.
Man war sich einig, dass wenn andern­tags das Feh­len der Schach­fi­gu­ren bemerkt würde, ein ziem­li­cher Auf­ruhr aus­bre­che. Der Besit­zer des Spiel­zim­mers und des­sen Inhalts, ein gewis­ser Herr Michael Faraon, sei­nes Zei­chens Aktuar des ört­li­chen Schach­klubs, sei bekann­ter­ma­ßen sehr jäh­zor­nig und nach­tra­gend. Das wusste man schon von frü­her, nach­dem Herr Faraon ein­mal eine Kreuz-Sie­ben mit Kaf­fee befleckt und damit unbrauch­bar gemacht hatte. Dar­auf­hin zer­riss er wut­ent­brannt die Karte und schleu­derte das ganze Pack nutz­lo­ser Kan­asta-Kar­ten in den Kamin. Sowohl die Domi­no­steine, als auch die dane­ben­lie­gen­den Poker­kar­ten hoff­ten instän­dig, dass der zu erwar­tende Wut­an­fall des Herrn Faraon sich nicht gegen sie rich­ten würde. Der Herz­kö­nig vom Kar­ten­sta­pel über­brachte den Abrü­cken­den die Abschieds­grüße der ver­sam­mel­ten Spiel­wa­ren und winkte sei­nen schei­den­den Kol­le­gen trau­rig hinterher.

… und das Treppenhaus …

Schach-Satire - Exodus der Schachfiguren - Zwei Läufer - Peter Biro - Glarean Magazin
“Zwei Läu­fer wur­den aus­ge­schickt, um die beste Abstiegs­mög­lich­keit auszukundschaften”.

Nach einem abschlie­ßen­den Zähl­a­pell blies Bohe­mund Black zum end­gül­ti­gen Abmarsch aus dem Spiel­zim­mer. In geord­ne­ter Reihe mar­schierte die Kolonne an Tisch und Stüh­len vor­bei, pas­sierte in einem stra­te­gisch geschickt ange­leg­ten Umge­hungs­ma­nö­ver das Kana­pee und ein nied­ri­ges Kar­ten­tisch­chen, und durch die nur leicht ange­lehnte Tür erreich­ten alle Figu­ren wohl­be­hal­ten das Trep­pen­haus. Zwei Läu­fer wur­den aus­ge­schickt, um die beste Abstiegs­mög­lich­keit aus­zu­kund­schaf­ten, und sie kehr­ten mit der Mel­dung zurück, dass man jede Stufe am bes­ten ent­lang der Tep­pich­kante her­un­ter­klet­tern könnte. Dies würde für die gesamte Truppe meh­rere Stun­den dauern.

… durch die Katzentür …

Ein drit­ter Läu­fer blieb etwas zurück und linste durch den Tür­spalt zurück, um even­tu­elle Ver­fol­ger recht­zei­tig aus­zu­ma­chen. Gesagt, getan, mit der Vor­hut voran kra­xel­ten alle Figu­ren in einer über­fi­gür­li­chen Anstren­gung die Treppe bis zum Flur hin­un­ter, was fast bis zum Mor­gen­grauen dau­erte. An meh­re­ren Stel­len führ­ten die bei­den Könige einen Zähl­a­pell durch, um die Mann­schaft auf Voll­stän­dig­keit und Fah­nen­flucht­fä­hig­keit zu prü­fen. Am Trep­pen­ab­satz ange­kom­men, wurde eine kleine Abschieds­ze­re­mo­nie mit Trom­pe­ten­klang und Ein­rol­len der Fah­nen abge­hal­ten, und anschlie­ßend ent­wich der gesamte Schach­fi­gu­ren­satz durch die Katzentür.

… in den Maulwurfsbau

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Den ers­ten Tag cam­pierte die Truppe im impro­vi­sier­ten Biwak eines Maul­wurfs­baus im Gar­ten des Faraon-Hau­ses, denn allen Geflüch­te­ten war klar, dass man sich bei Tages­licht bes­ser nicht bli­cken las­sen sollte. Ansons­ten könnte ein ver­rä­te­ri­sches Haus­tier die Deser­teure erken­nen, aus­bud­deln und Herrn Faraon Bericht erstat­ten. Das konnte böse enden, z.B. damit, dass man einem Straf­ba­tail­lon zuge­teilt würde, was wie­derum eine mehr­jäh­rige Fron­ar­beit beim Müh­le­spiel bedeu­tete oder gar schlim­me­res: zu Feu­er­holz degra­diert zu wer­den. In der Tat machte Faraons geti­gerte Haus­katze Anna­bella Schnurr­di­bus wie­der­holt Kon­troll­gänge durch Haus und Gar­ten, aber sie bemerkte die sich eng anein­an­der ducken­den Figu­ren im Maul­wurfs­hü­gel nicht. So blie­ben die Geflo­he­nen unent­deckt und konn­ten in der zwei­ten Nacht ihre Flucht fortsetzen.

Letzter diagonaler Erkundungsgang

Um einen impro­vi­sier­ten Kar­ten­kie­sel ver­sam­melt, beug­ten sich die bei­den Könige bei einer Lage­be­spre­chung über eine grob gezeich­nete Skizze der Umge­bung, wel­che die Läu­fer von ihrem letz­ten, dia­go­na­len Erkun­dungs­gang mit­ge­bracht hat­ten. In Gegen­wart von je einem wei­ßen und einem schwar­zen Turm sowie der drei Läu­fer stu­dier­ten King Black und Ol` King White die in Frage kom­men­den, wei­ter­füh­ren­den Flucht­rou­ten. Zwar ver­sperrte eine große Pfütze den ein­zig gang­ba­ren Weg zur Straße, aber der weiße Wort­füh­rer der Läu­fer meinte, man könnte sie durch­wa­ten, wenn die Sonne lang genug dar­auf geschie­nen und sie wenigs­tens teil­weise aus­ge­trock­net haben würde. Dann genüge es, wenn der Anfüh­rer der Truppe, also King Black, auf die seich­teste Stelle des ver­blei­ben­den Was­sers zei­gen würde, wo sich die Truppe in die Flu­ten wagen könnte.

Zurück zu den Anfängen

Elefant mit Turm – Fresko aus der mozarabischen Einsiedelei (ermita) San Baudelio de Berlanga - Glarean Magazin
“Als älteste aller Figu­ren mel­dete sich der weiße Turm zu Wort” (Spa­ni­sches Fresko mit Ele­fant und Turm)

Als älteste aller Figu­ren mel­dete sich der weiße Turm zu Wort und erin­nerte die Anwe­sen­den an jene Schrei­ner­werk­statt, aus der er und die ande­ren ursprüng­lich stamm­ten. Jenes Ate­lier gehörte einem gewis­sen Meis­ter Asta­losh, der die alter­tüm­li­che Dreh­bank betrieb, an der sei­ner­zeit sie alle – außer den Sprin­gern – in ihre zylin­dri­sche Form gedrech­selt wor­den waren. Dort, so behaup­tete der weiße Turm, könnte man sich unauf­fäl­lig unter die unfer­ti­gen Bau­teile und den her­um­lie­gen­den Holz­ab­fall aus der lau­fen­den Pro­duk­tion verstecken.
Da die Schrei­ner­werk­statt nur eine Tage­reise vom Maul­wurfs­hü­gel ent­fernt war, wurde beschlos­sen, dass sich die Figu­ren dort­hin über die fol­gen­den vier Nächte in getrennt vor­sto­ßen­den Grup­pen durch­schla­gen soll­ten. Jede Gruppe würde unter der Füh­rung eines gekrön­ten Haup­tes, also eines Königs oder einer Köni­gin ste­hen und aus jeweils einem Turm, einem Sprin­ger, einem Läu­fer und vier Bau­ern bestehen. Außer­dem wurde ver­ein­bart, dass falls eine Gruppe auf der Flucht von der gemein­ge­fähr­li­chen Schnurr­di­bus oder gar von Herrn Faraon per­sön­lich ertappt wer­den sollte, kein Wort über die ande­ren ver­lo­ren wer­den durfte; nicht ein­mal unter einem pein­li­chen Ver­hör mit­tels Schraub­zwinge oder Fuchsschwanzsäge.

Erfolgsgekrönter Exodus

Bis auf die letzte Gruppe, wel­che den kopf­lo­sen Läu­fer trans­por­tierte, erreich­ten alle Figu­ren plan­mä­ßig den schüt­zen­den Abfall­hau­fen neben der Schrei­ne­rei. Die letzte Gruppe war zwangs­läu­fig lang­sa­mer unter­wegs und wurde von einem streu­nen­den Hund auf­ge­hal­ten, der fast die gesamte Nach­bar­schaft wach kläffte, als er der unge­wöhn­li­chen Pro­zes­sion gewahr wurde. Aber bereits unter dem ers­ten, blen­den­den Strahl der Mor­gen­sonne erreich­ten auch die letz­ten Figu­ren den schüt­zen­den Holz­hau­fen und konn­ten sich im Säge­mehl von Asta­loshs Werk­statt end­lich von den Stra­pa­zen ihrer aben­teu­er­li­chen Flucht aus­ru­hen. So geschah es, dass dem wag­hal­si­gen Exodus der Schach­fi­gu­ren ein krö­nen­der Erfolg beschie­den war.

Epilog

Der Schrei­ner­meis­ter Asta­losh durch­suchte regel­mä­ßig den Abfall­hau­fen nach noch brauch­ba­rem Mate­rial, denn hie und da benö­tigte er Klein­teile für eine Ver­zie­rung oder Ergän­zung irgend­ei­nes Möbel­stücks. So stieß er auf die ver­streut her­um­lie­gen­den Schach­fi­gu­ren, die ihm irgend­wie bekannt vor­ka­men. Da er aber nicht alle auf ein­mal erblickte, dachte er nicht daran, diese wie­der einem Schach­spiel zuzu­füh­ren, zumal damit kaum mehr etwas zu ver­die­nen war. Statt­des­sen fand er für die nach und nach auf­ge­klaub­ten Figu­ren unter­schied­li­che Ver­wen­dun­gen, die dazu führ­ten, dass die Gruppe defi­ni­tiv aus­ein­an­der­ge­ris­sen wurde:

• Neun Bau­ern ende­ten als Schub­la­den-Griffe für die Schlaf­zim­mer­kom­mode eines jun­gen Braut­paa­res und wur­den zwangs­läu­fig Augen­zeu­gen von deren inten­si­ver Familienplanung.
• Die ver­blei­ben­den sie­ben Bau­ern wur­den als Kegel in einem Minia­tur­bow­ling-Spiel­kas­ten für Kin­der ver­baut und lan­de­ten auf dem Gaben­tisch eines stark kurz­sich­ti­gen Jüng­lings namens Hubert.
• Mit den vier Tür­men ver­län­gerte Herr Asta­losh die Beine eines klei­nen Bei­stell­ti­sches, wel­ches – welch eine Iro­nie des Schick­sals! – von Herrn Faraon für sein Spiel­zim­mer bestellt wurde. Nach Aus­lie­fe­rung des fer­ti­gen Klein­mö­bels und nach Ein­bruch der Nacht kam es im Spiel­zim­mer zu einer uner­war­te­ten Wie­der­se­hens­feier unter Betei­li­gung der Dame-Figu­ren, der Poker­kar­ten und der Domi­no­steine, wel­che die vier immo­bi­li­sier­ten Rück­keh­rer nach deren Erleb­nis­sen wäh­rend ihrer Flucht aus­frag­ten. Umge­kehrt berich­te­ten sie den boden­stän­di­gen Tür­men, dass Herr Faraon wäh­rend der ver­zwei­fel­ten Suche nach den ver­schwun­de­nen Schach­fi­gu­ren einen kur­zen und hef­ti­gen Wut­an­fall erlit­ten, das Schach­brett zer­bro­chen und die bei­den Stopp­uh­ren in den Müll gewor­fen hatte.
• Dex­ter, der rechts­ste­hende, weiße Sprin­ger endete als Ver­zie­run­gen im Rah­men eines Gar­de­ro­ben­spie­gels, wel­cher Jahre spä­ter zu einem Zahn­arzt­stuhl umge­ar­bei­tet wurde. In die­sem wie­derum wurde er zu einem Griff umfunk­tio­niert, wel­chen die Pati­en­ten kräf­tig drü­cken konn­ten, wenn der Schmerz unter der Behand­lung über­hand­nahm. Linky gelangte auf ver­schlun­ge­nen Umwe­gen nach Öster­reich und wurde als sym­bo­li­sches Deko­ra­ti­ons­ele­ment in einer Menü­ta­fel ver­baut, und zwar über dem Tre­sen des “Wei­ßen Rössl” am Wolfgangsee.
• Die zwei schwar­zen Sprin­ger (Nero und Miser­i­cor­dius) wur­den zu Regen­schirm­grif­fen umge­stal­tet. Als sol­che gin­gen sie mit ande­ren Haus­halts­ar­ti­keln in den Export. Nero endete im nor­we­gi­schen Sta­van­ger als unent­behr­li­ches Acces­soire eines Seil­tän­zers, der jeden Sonn­tag­nach­mit­tag mit einem Mat­jes­he­ring in der einen und dem Schirm in der ande­ren Hand zwi­schen den bei­den Tür­men der Kathe­drale balan­cierte. Der Schirm mit Miser­i­cor­dius wurde zum Son­nen­schutz einer malay­si­schen Leh­re­rin, die in einem abge­le­ge­nen Urwald­dorf ver­waiste Maka­ken zu Ste­no­ty­pis­ten und Flug­lot­sen ausbildete.
• Die drei intak­ten Läu­fer blie­ben zurück und ver­steck­ten sich unter einem Werk­zeug­schrank. Um ver­irr­ten Kame­ra­den bei­zu­ste­hen, gin­gen sie spo­ra­disch auf Erkun­dungs­mis­sio­nen, die sie dia­me­tral in sämt­li­che Ecken des Rau­mes unter­nah­men. Sie tra­fen aber keine Ver­irr­ten mehr aus dem alten Figu­ren­satz an. Ansons­ten blie­ben Sie jah­re­lang unter dem Gestell ver­steckt, bis eines Tages die Werk­statt abge­ris­sen und einem Wasch­sa­lon wei­chen musste. Wahr­schein­lich wur­den sie mit dem Schutt aus dem Abbruch ent­sorgt, jeden­falls hörte man seit­dem nichts mehr von ihnen.
• Der kopf­lose Läu­fer, den man unter gro­ßen Mühen mit­ge­schleppt hatte, wurde sehr bald nach sei­ner Ankunft durch Herrn Asta­losh als unbrauch­bar erkannt und ver­schred­dert. Kopf­los wie er war, endete er als Holz­pel­let in einer Heiz­an­lage. Sein Haupt machte indes Kar­riere als hübsch gema­serte, beson­ders leichte Mur­mel in der Kugel­samm­lung von Asta­losh Junior.
• Die bei­den Köni­gin­nen blie­ben wei­ter­hin schick­sal­haft zusam­men und hat­ten somit die Mög­lich­keit sich wei­ter­hin gegen­sei­tig anzu­kei­fen. Sie wur­den als Hand­griffe auf ein Paar hübsch deko­rier­ten Cock­tail­spie­ßen ange­bracht, auf die man Oli­ven oder Zitro­nen­schei­ben auf­zog. Der­ge­stalt kamen sie in ihrer neuen Eigen­schaft als Besteck in einer Karaoke-Bar zum Ein­satz. Aus Cock­tail­glä­sern ragend, mus­ter­ten sie sich wei­ter­hin gegen­sei­tig mit unfreund­li­chen Bli­cken und war­fen sich gele­gent­lich belei­di­gende Bemer­kun­gen betref­fend ihrer Gar­de­ro­ben zu.
• König Wen­zes­laus II alias Ol` King White endete als deko­ra­ti­ver Knauf am obe­ren Wen­de­punkt eines baro­cken Trep­pen­ge­län­ders, von wo er jahr­zehn­te­lang die auf- und abstei­gen­den Haus­gäste der vor­neh­men Villa beob­ach­ten und dar­aus seine ganz per­sön­li­chen Schlüsse zie­hen konnte. Seine Memoi­ren erschie­nen Jahre spä­ter unter dem Titel `Vom Thron zur Zier­fi­gur – Erin­ne­run­gen eines auf­ge­stell­ten Königs` bei Klap­pezu & Affetot 2009, Wien, Lon­don, Buxtehude.
• Bohe­mund IV, oder King Black, der initia­tive schwarze König, der die ganze Flucht­ak­tion geplant, befoh­len und ange­führt hatte, wurde an die Spitze einer Stan­dar­ten­stange mon­tiert, die bei Auf­mär­schen der Heils­ar­mee der Blas­ka­pelle vor­an­ge­tra­gen wurde. Auf diese Weise konnte er, stan­des­be­wusst wie er nun mal war, an fei­er­li­chen Zere­mo­nien lange Jahre an vor­ders­ter Stelle teil­neh­men und sich am Tsching­d­erassabum und dem gan­zen Tam­tam um ihn herum erfreuen. Dabei glaubte er fel­sen­fest, dass der Jubel der freu­dig am Stra­ßen­rand zuschau­en­den Men­schen ihm alleine galt und der ganze Auf­marsch ihm zu Ehren abge­hal­ten wurde.

Moral der G’schicht: Süß ist die Frei­heit selbst dann, wenn sie einem nur zu einem zeit­wei­li­gen und bana­len Wei­ter­le­ben verhilft! ♦


Peter Biro

Prof. Dr. Peter Biro - Arzt und Schriftsteller - Glarean MagazinGeb. 1956 in Gross­wardein (Rumä­nien), 1970 Emi­gra­tion nach Deutsch­land, Medi­zin­stu­dium in Frankfurt/Main, seit 1987 Anäs­the­sist am Uni­ver­si­täts­spi­tal Zürich und Dozent für Anäs­the­sio­lo­gie, schreibt kul­tur­his­to­ri­sche Essays und humo­ris­ti­sche Kurz­prosa, lebt in Feldmeilen/CH

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