Inhaltsverzeichnis
- 1 Der Exodus der Schachfiguren
- 1.1 Lange Abende an verrauchten Spieltischen
- 1.2 Melania von Ohrensausen
- 1.3 Gemeinsame Flucht…
- 1.4 … in die große weite Welt
- 1.5 Erste Vorbereitungen…
- 1.6 … und mitternächtlicher Abmarsch…
- 1.7 … über den Vorhang…
- 1.8 … und das Treppenhaus …
- 1.9 … durch die Katzentür …
- 1.10 … in den Maulwurfsbau
- 1.11 Letzter diagonaler Erkundungsgang
- 1.12 Zurück zu den Anfängen
- 1.13 Erfolgsgekrönter Exodus
- 1.14 Epilog
Der Exodus der Schachfiguren
Peter Biro
Nach langem Überlegen und scharfsichtigem Analysieren der Situation, in der sich die Einwohner seines Kleinstaates befanden, verkündete seinem Volk der schwarze König Bohemund IV, im Volksmund auch King Black genannt, dass der Auszug vom angestammten Schachbrett eine Notwendigkeit sei…
Nach langem Überlegen und scharfsichtigem Analysieren der Situation, in der sich die Einwohner seines Kleinstaates befanden, verkündete seinem Volk der schwarze König Bohemund IV, im Volksmund auch King Black genannt, dass der Auszug vom angestammten Schachbrett eine Notwendigkeit sei. Der besonders nachdenkliche King Black kam nach kurzer Introspektion zum Schluss, dass diese Maßnahme unumgänglich und somit eigentlich bereits eine beschlossene Sache sei. Die Entscheidung war ihm gar nicht leichtgefallen, aber der heimliche Abgang vom Schachbrett sei nun mal die einzige Möglichkeit, aus der quadratischen Enge des Spielfelds auszubrechen und die seit langem ersehnte Freiheit zu erlangen.
Lange Abende an verrauchten Spieltischen

Mit dramatischen Worten erläuterte er seinen in vier Reihen aufgestellten schwarzen und weißen Landsleuten die tragische Leidensgeschichte seines unterdrückten Volkes. Er sparte nicht mit bildreichen Schilderungen der elend langen Abende an verrauchten Spieltischen, an denen er und seine Kameraden sich von wahren oder vermeintlichen Geistesgrößen herumschieben lassen mussten und zu grausamen Gladiatorenkämpfen gezwungen wurden. Bei diesen Wettkämpfen wurden jedes Mal etliche seiner Untertanen vom Brett gefegt und bis auf weiteres in den Figurenkasten gesperrt. Je nach Vermögen der Spieler blieb bestenfalls nur der siegreiche König mit einigen wenigen Getreuen als Überlebende des jeweiligen Spiels übrig. Mit anderen Worten, viele seiner Landsleute wurden Opfer eines allabendlich stattfindenden Massakers.
Melania von Ohrensausen

Dieses wehrlose Ausgeliefertsein musste um jeden Preis beendet werden, und gerade jetzt sei dafür die Zeit gekommen. Seine Partnerin, die schwarze Königin Melania Carlotta III (eine geborene Herzogin von Ohrensausen und Schlyck) war zunächst ebenso wenig begeistert vom plötzlichen Freiheitsdrang ihres Gatten wie ihre weiße Gegenspielerin, welche bekanntlich die heimliche Geliebte King Blacks war.
Obendrein wusste Melania von Ohrensausen nicht so recht, was im Falle einer Flucht anzuziehen wäre. Im Gegensatz zu ihrer weißen Gegenspielerin haderte sie ständig mit der Garderobe – denn guter Kleidergeschmack war nun mal ihre Sache nicht. Aber ein finales Machtwort des vierten Bohemunds tat seine Wirkung, und sie fügte sich nicht nur gehorsam in ihr Schicksal, sie begann sogar die Idee der Befreiung bei den anderen Figuren zu propagieren.
Gemeinsame Flucht…
Damit war bald die Mehrheit des Klans, namentlich die schwarzen Gefolgsleute mit der vom Herrscher verordneten Aktion einverstanden. Nur sein linker Läufer blieb irgendwie unbeeindruckt, denn dieser hatte bei einem früher ausgetragenen Kampf seinen komplementärfarbigen Kopf verloren. Jene als Haupt fungierende weiße Kugel ruhte nun unbenutzt in der Figurenschachtel und wartete darauf, von einer barmherzigen Hand wieder auf den zylindrisch schlanken Torso aufgeleimt zu werden. Aber so kopflos wie er nun mal war, konnte der behinderte Läufer nicht an den hitzigen Debatten um Verbleib oder Gehen teilnehmen, und blieb weitgehend über die sich entfaltenden Ereignisse im Dunkeln – eben in jener der kleinen, mit Samt ausgelegten Holzkiste am Rande des Spielbretts.
Ein weit größeres Problem als der ratlose, linke Läufer war es, den gegnerischen Klan, das heißt die weiße Mannschaft, von der Notwendigkeit einer gemeinsamen Flucht zu überzeugen. Ihr Anführer, der weiße König Wenzeslaus II, im Volksmund auch Ol` King White genannt, war für seine eher zaudernde Haltung bekannt, so dass beim Versuch ihn zu überreden mit vehementem Widerspruch zu rechnen war. Aber der schwarzbärtige Bohemund hatte dafür noch einen Trumpf in der Hand: er veranlasste seine Geliebte, die weiße Königin Bianca Liposuccta IX (geborene Fürstin von Schlagobers de Saan), ihrem Gatten die Notwendigkeit einer baldigen Flucht subtil einzuflüstern.
Gemäß kolportierter Gerüchte aus den Reihen der schwatzhaften Höflinge, gab diese ihr Bestes (was immer das auch gewesen sein mag), um ihren weißbärtigen Gemahl zu überzeugen, seinen anfänglichen Widerstand gegen einen Exodus der Figuren aufzugeben. Trotz gutem Zureden und einiger hier nicht weiter zu erläuternder Tricks und Kniffe der geschickt agierenden Bianca von Schlagobers de Saan bestand Ol` King White, alias Wenzeslaus II, wenigstens auf einen ritterlichen Zweikampf als Entscheidungshilfe. Er vertrat den Standpunkt, dass eine Meinungsverschiedenheit zwischen gekrönten Häuptern, grundsätzlich mittels eines Duells zu regeln ist, so wie es sich nach höfischer Art geziemt und vom einfachen Bauernvolk auch erwartet wird. Dies gilt sogar trotz der unwiderlegbaren Tatsache, dass nicht nur die einfachen Figuren, sondern auch die royalen Würdenträger aus nichts anderem als aus gewöhnlichem Kleinholz gefertigt sind.
… in die große weite Welt
Das vom Ol` King White, dem zweiten der Wenzelslaeuse geforderte Duell musste sich in Form eines Turniers, oder besser gesagt eines ritterlichen Schlagabtauschs inmitten des Schachbretts abspielen und von den Besten der Besten beider Volksgruppen ausgefochten werden. Deshalb führten beide Herrscher je einen Turm, einen Springer und drei Bauern ins Feld, um eine endgültige Entscheidung in Sachen Flucht oder Verbleib zu erwirken.

Die Kombattanten trafen sich symmetrisch angeordnet entlang der Kampflinie zwischen D4\F4 und D5\F5, und begannen sogleich aufeinander einzuschlagen. Als erstes kickten sich die vorgeschickten Bauern gegenseitig vom Feld, dann umsprangen sich die Rösser eine Weile ergebnislos, bis der schwarze Springer dem weißen Turm zum Opfer fiel, und dieser wiederum von seinem schwarzen Gegenüber gefällt wurde. Der übrig gebliebene, siegeiche schwarze Turm stand triumphierend auf E5 und winkte seiner jovial lächelnden Königin zu, um den Sieg der schwarzen Partei und somit des eigenen Anliegens zu signalisieren. Auf diese Weise wurde entschieden, dass während der kommenden Nacht die gesamte Truppe unter der Führung des schwarzen Königs vom Spielbrett türmen und in die große, weite Welt aufbrechen würde.

Das Wetter war den Flüchtenden gewogen, denn es war ein mondscheinloser, regnerischer Dienstagabend. King Black rechnete richtigerweise damit, dass es diesmal kein Schachturnier geben und deswegen die Luft im unbewachten Spielzimmer rein bleiben würde. Eine derart günstige Gelegenheit zum unbemerkten Abschleichen durfte nicht verpasst werden. Zwar hatte keine der 32 Figuren eine Ahnung davon, was auf sie da draußen wartete, aber alle hatten genug vom ständigen Herumexerzieren, das ewige Rumstehen in Reih und Glied, das aggressive Vorrücken gegen ihresgleichen, das sich gegenseitig Bedrohen müssen und vor allem vom anschließenden Gemetzel während der allwöchentlichen Schachpartien.
Erste Vorbereitungen…
Bohemund, der blacke King gab das Zeichen, mit den Vorbereitungen zu beginnen. Die Figuren kontrollierten ein letztes Mal die Filzsohlen, auf denen sie leise davonschleichen sollten. Neugierig und mit einer gewissen Portion Neid betrachtete die dunkle Melanie ihre hellhäutige Konkurrentin am gegenüberliegenden Brettrand, die wieder einmal eleganter als sie angezogen war. Bianca stand kerzengerade in ihrem besten Reisekostüm, vom weißen König und einem ebensolchen Berittenen auf D8 eingerahmt. Die vier Rösser wieherten bereits ungeduldig und sprangen regelkonform in L-förmigen Schrittfolgen tänzelnd umher.
Derweil hetzten die drei intakten Läufer diagonal in der Gegend herum, um eventuelle Hindernisse auf dem vorgesehenen Fluchtweg auszukundschaften. Nur der kopflose linke Läufer der schwarzen Partei hatte keine Ahnung davon, was da vor sich ging, und auch keine weiteren Bedürfnisse außer dem einen: wohlverleimt endlich wieder mit seinem Haupt vereinigt zu werden. Er wurde behutsam von seinem vorangestellten Bauern an der Hand geführt, während der abgeschlagene Kopf natürlich auch mitkam, und zwar in der Obhut des rechten weißen Turms, der gleichzeitig die Nachhut anführen sollte.

Mehr pro forma und ohne große Hoffnung auf Zustimmung lud Bohemund die 24 Damen des gleichnamigen Brettspiels ein, sich seinem Tross anzuschließen. Aber wie erwartet wiesen die ängstlichen Figürchen auch nur den bloßen Gedanken an eine Flucht weit von sich, und der zutiefst bohemundete König Black bedauerte bereits, sie überhaupt gefragt zu haben. Stattdessen stapelten sich die 24 flachbrüstigen Damen ängstlich in vier Reihen in einer Ecke des Figurenkastens und beobachteten sorgenvoll die Abmarschvorbereitungen der Schachkollegen beiderlei Couleur.
… und mitternächtlicher Abmarsch…

Voller Erwartung schauten alle auf die Stoppuhr am Rande des Spielbretts, und als diese Mitternacht schlug, marschierte die erste Kolonne unter den aufmerksamen Blicken Bohemunds ab, der am Spielfeldrand stehend, der Prozession aufmerksam zusah und jeder Figur ermutigend auf die kreisrunde Schulter klopfte. Die erste Gruppe, gewissermaßen die Vorhut, bestand aus dem treuen linken schwarzen Turm, einem weißen Läufer und fünf Bauern beiderlei Farben. Anschließend folgte die Hauptmacht unter der Führung von König Wenzeslaus und der beiden Königinnen, die sich unentwegt gegenseitig beäugten und ihre Garderoben abschätzten. Im Zentrum marschierte unmittelbar dahinter die königliche Leibgarde bestehend aus zwei Türmen, flankiert von den zwei Springern Dexter und Linky, ihrerseits gefolgt von neun gemischten Bauern einschließlich desjenigen mit dem kopflosen Läufer an der Hand. Als letzter der Hauptstreitmacht gesellte sich Bohemund hinzu und winkte der etwas zurückbleibenden Nachhut, ihm baldmöglichst zu folgen. Diese ging anschließend unter der Führung des rechten, weißen Turms zusammen mit den restlichen Offizieren und Bauern, die große Mühe drauf verwendeten, die Spuren des Auszugs zu verwischen.
… über den Vorhang…
Vorsichtig seilten sich die Schachfiguren eine nach der anderen an einer Falte des Vorhangs, der direkt an den Spieltisch grenzte, zum Teppichboden herunter. Die ganze Aktion dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis alle sich in einer langen Reihe zu Füßen des nächsten Tischbeins zum Zählapell aufstellten. Lediglich die zuoberst gestapelten Domino-Steine im benachbarten Regal hatten etwas von der Aktion mitbekommen und gaben die aufregende Nachricht vom Auszug der Kollegen ihren zahlenmäßig passenden Nachbarn weiter. So war es bald eine ausgemachte Sache unter den Bewohnern des Spielzimmers, dass eine große Fluchtbewegung angelaufen war.
Man war sich einig, dass wenn anderntags das Fehlen der Schachfiguren bemerkt würde, ein ziemlicher Aufruhr ausbreche. Der Besitzer des Spielzimmers und dessen Inhalts, ein gewisser Herr Michael Faraon, seines Zeichens Aktuar des örtlichen Schachklubs, sei bekanntermaßen sehr jähzornig und nachtragend. Das wusste man schon von früher, nachdem Herr Faraon einmal eine Kreuz-Sieben mit Kaffee befleckt und damit unbrauchbar gemacht hatte. Daraufhin zerriss er wutentbrannt die Karte und schleuderte das ganze Pack nutzloser Kanasta-Karten in den Kamin. Sowohl die Dominosteine, als auch die danebenliegenden Pokerkarten hofften inständig, dass der zu erwartende Wutanfall des Herrn Faraon sich nicht gegen sie richten würde. Der Herzkönig vom Kartenstapel überbrachte den Abrückenden die Abschiedsgrüße der versammelten Spielwaren und winkte seinen scheidenden Kollegen traurig hinterher.
… und das Treppenhaus …

Nach einem abschließenden Zählapell blies Bohemund Black zum endgültigen Abmarsch aus dem Spielzimmer. In geordneter Reihe marschierte die Kolonne an Tisch und Stühlen vorbei, passierte in einem strategisch geschickt angelegten Umgehungsmanöver das Kanapee und ein niedriges Kartentischchen, und durch die nur leicht angelehnte Tür erreichten alle Figuren wohlbehalten das Treppenhaus. Zwei Läufer wurden ausgeschickt, um die beste Abstiegsmöglichkeit auszukundschaften, und sie kehrten mit der Meldung zurück, dass man jede Stufe am besten entlang der Teppichkante herunterklettern könnte. Dies würde für die gesamte Truppe mehrere Stunden dauern.
… durch die Katzentür …
Ein dritter Läufer blieb etwas zurück und linste durch den Türspalt zurück, um eventuelle Verfolger rechtzeitig auszumachen. Gesagt, getan, mit der Vorhut voran kraxelten alle Figuren in einer überfigürlichen Anstrengung die Treppe bis zum Flur hinunter, was fast bis zum Morgengrauen dauerte. An mehreren Stellen führten die beiden Könige einen Zählapell durch, um die Mannschaft auf Vollständigkeit und Fahnenfluchtfähigkeit zu prüfen. Am Treppenabsatz angekommen, wurde eine kleine Abschiedszeremonie mit Trompetenklang und Einrollen der Fahnen abgehalten, und anschließend entwich der gesamte Schachfigurensatz durch die Katzentür.
… in den Maulwurfsbau
Den ersten Tag campierte die Truppe im improvisierten Biwak eines Maulwurfsbaus im Garten des Faraon-Hauses, denn allen Geflüchteten war klar, dass man sich bei Tageslicht besser nicht blicken lassen sollte. Ansonsten könnte ein verräterisches Haustier die Deserteure erkennen, ausbuddeln und Herrn Faraon Bericht erstatten. Das konnte böse enden, z.B. damit, dass man einem Strafbataillon zugeteilt würde, was wiederum eine mehrjährige Fronarbeit beim Mühlespiel bedeutete oder gar schlimmeres: zu Feuerholz degradiert zu werden. In der Tat machte Faraons getigerte Hauskatze Annabella Schnurrdibus wiederholt Kontrollgänge durch Haus und Garten, aber sie bemerkte die sich eng aneinander duckenden Figuren im Maulwurfshügel nicht. So blieben die Geflohenen unentdeckt und konnten in der zweiten Nacht ihre Flucht fortsetzen.
Letzter diagonaler Erkundungsgang
Um einen improvisierten Kartenkiesel versammelt, beugten sich die beiden Könige bei einer Lagebesprechung über eine grob gezeichnete Skizze der Umgebung, welche die Läufer von ihrem letzten, diagonalen Erkundungsgang mitgebracht hatten. In Gegenwart von je einem weißen und einem schwarzen Turm sowie der drei Läufer studierten King Black und Ol` King White die in Frage kommenden, weiterführenden Fluchtrouten. Zwar versperrte eine große Pfütze den einzig gangbaren Weg zur Straße, aber der weiße Wortführer der Läufer meinte, man könnte sie durchwaten, wenn die Sonne lang genug darauf geschienen und sie wenigstens teilweise ausgetrocknet haben würde. Dann genüge es, wenn der Anführer der Truppe, also King Black, auf die seichteste Stelle des verbleibenden Wassers zeigen würde, wo sich die Truppe in die Fluten wagen könnte.
Zurück zu den Anfängen

Als älteste aller Figuren meldete sich der weiße Turm zu Wort und erinnerte die Anwesenden an jene Schreinerwerkstatt, aus der er und die anderen ursprünglich stammten. Jenes Atelier gehörte einem gewissen Meister Astalosh, der die altertümliche Drehbank betrieb, an der seinerzeit sie alle – außer den Springern – in ihre zylindrische Form gedrechselt worden waren. Dort, so behauptete der weiße Turm, könnte man sich unauffällig unter die unfertigen Bauteile und den herumliegenden Holzabfall aus der laufenden Produktion verstecken.
Da die Schreinerwerkstatt nur eine Tagereise vom Maulwurfshügel entfernt war, wurde beschlossen, dass sich die Figuren dorthin über die folgenden vier Nächte in getrennt vorstoßenden Gruppen durchschlagen sollten. Jede Gruppe würde unter der Führung eines gekrönten Hauptes, also eines Königs oder einer Königin stehen und aus jeweils einem Turm, einem Springer, einem Läufer und vier Bauern bestehen. Außerdem wurde vereinbart, dass falls eine Gruppe auf der Flucht von der gemeingefährlichen Schnurrdibus oder gar von Herrn Faraon persönlich ertappt werden sollte, kein Wort über die anderen verloren werden durfte; nicht einmal unter einem peinlichen Verhör mittels Schraubzwinge oder Fuchsschwanzsäge.
Erfolgsgekrönter Exodus
Bis auf die letzte Gruppe, welche den kopflosen Läufer transportierte, erreichten alle Figuren planmäßig den schützenden Abfallhaufen neben der Schreinerei. Die letzte Gruppe war zwangsläufig langsamer unterwegs und wurde von einem streunenden Hund aufgehalten, der fast die gesamte Nachbarschaft wach kläffte, als er der ungewöhnlichen Prozession gewahr wurde. Aber bereits unter dem ersten, blendenden Strahl der Morgensonne erreichten auch die letzten Figuren den schützenden Holzhaufen und konnten sich im Sägemehl von Astaloshs Werkstatt endlich von den Strapazen ihrer abenteuerlichen Flucht ausruhen. So geschah es, dass dem waghalsigen Exodus der Schachfiguren ein krönender Erfolg beschieden war.
Epilog
Der Schreinermeister Astalosh durchsuchte regelmäßig den Abfallhaufen nach noch brauchbarem Material, denn hie und da benötigte er Kleinteile für eine Verzierung oder Ergänzung irgendeines Möbelstücks. So stieß er auf die verstreut herumliegenden Schachfiguren, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Da er aber nicht alle auf einmal erblickte, dachte er nicht daran, diese wieder einem Schachspiel zuzuführen, zumal damit kaum mehr etwas zu verdienen war. Stattdessen fand er für die nach und nach aufgeklaubten Figuren unterschiedliche Verwendungen, die dazu führten, dass die Gruppe definitiv auseinandergerissen wurde:
• Neun Bauern endeten als Schubladen-Griffe für die Schlafzimmerkommode eines jungen Brautpaares und wurden zwangsläufig Augenzeugen von deren intensiver Familienplanung.
• Die verbleibenden sieben Bauern wurden als Kegel in einem Miniaturbowling-Spielkasten für Kinder verbaut und landeten auf dem Gabentisch eines stark kurzsichtigen Jünglings namens Hubert.
• Mit den vier Türmen verlängerte Herr Astalosh die Beine eines kleinen Beistelltisches, welches – welch eine Ironie des Schicksals! – von Herrn Faraon für sein Spielzimmer bestellt wurde. Nach Auslieferung des fertigen Kleinmöbels und nach Einbruch der Nacht kam es im Spielzimmer zu einer unerwarteten Wiedersehensfeier unter Beteiligung der Dame-Figuren, der Pokerkarten und der Dominosteine, welche die vier immobilisierten Rückkehrer nach deren Erlebnissen während ihrer Flucht ausfragten. Umgekehrt berichteten sie den bodenständigen Türmen, dass Herr Faraon während der verzweifelten Suche nach den verschwundenen Schachfiguren einen kurzen und heftigen Wutanfall erlitten, das Schachbrett zerbrochen und die beiden Stoppuhren in den Müll geworfen hatte.
• Dexter, der rechtsstehende, weiße Springer endete als Verzierungen im Rahmen eines Garderobenspiegels, welcher Jahre später zu einem Zahnarztstuhl umgearbeitet wurde. In diesem wiederum wurde er zu einem Griff umfunktioniert, welchen die Patienten kräftig drücken konnten, wenn der Schmerz unter der Behandlung überhandnahm. Linky gelangte auf verschlungenen Umwegen nach Österreich und wurde als symbolisches Dekorationselement in einer Menütafel verbaut, und zwar über dem Tresen des “Weißen Rössl” am Wolfgangsee.
• Die zwei schwarzen Springer (Nero und Misericordius) wurden zu Regenschirmgriffen umgestaltet. Als solche gingen sie mit anderen Haushaltsartikeln in den Export. Nero endete im norwegischen Stavanger als unentbehrliches Accessoire eines Seiltänzers, der jeden Sonntagnachmittag mit einem Matjeshering in der einen und dem Schirm in der anderen Hand zwischen den beiden Türmen der Kathedrale balancierte. Der Schirm mit Misericordius wurde zum Sonnenschutz einer malaysischen Lehrerin, die in einem abgelegenen Urwalddorf verwaiste Makaken zu Stenotypisten und Fluglotsen ausbildete.
• Die drei intakten Läufer blieben zurück und versteckten sich unter einem Werkzeugschrank. Um verirrten Kameraden beizustehen, gingen sie sporadisch auf Erkundungsmissionen, die sie diametral in sämtliche Ecken des Raumes unternahmen. Sie trafen aber keine Verirrten mehr aus dem alten Figurensatz an. Ansonsten blieben Sie jahrelang unter dem Gestell versteckt, bis eines Tages die Werkstatt abgerissen und einem Waschsalon weichen musste. Wahrscheinlich wurden sie mit dem Schutt aus dem Abbruch entsorgt, jedenfalls hörte man seitdem nichts mehr von ihnen.
• Der kopflose Läufer, den man unter großen Mühen mitgeschleppt hatte, wurde sehr bald nach seiner Ankunft durch Herrn Astalosh als unbrauchbar erkannt und verschreddert. Kopflos wie er war, endete er als Holzpellet in einer Heizanlage. Sein Haupt machte indes Karriere als hübsch gemaserte, besonders leichte Murmel in der Kugelsammlung von Astalosh Junior.
• Die beiden Königinnen blieben weiterhin schicksalhaft zusammen und hatten somit die Möglichkeit sich weiterhin gegenseitig anzukeifen. Sie wurden als Handgriffe auf ein Paar hübsch dekorierten Cocktailspießen angebracht, auf die man Oliven oder Zitronenscheiben aufzog. Dergestalt kamen sie in ihrer neuen Eigenschaft als Besteck in einer Karaoke-Bar zum Einsatz. Aus Cocktailgläsern ragend, musterten sie sich weiterhin gegenseitig mit unfreundlichen Blicken und warfen sich gelegentlich beleidigende Bemerkungen betreffend ihrer Garderoben zu.
• König Wenzeslaus II alias Ol` King White endete als dekorativer Knauf am oberen Wendepunkt eines barocken Treppengeländers, von wo er jahrzehntelang die auf- und absteigenden Hausgäste der vornehmen Villa beobachten und daraus seine ganz persönlichen Schlüsse ziehen konnte. Seine Memoiren erschienen Jahre später unter dem Titel `Vom Thron zur Zierfigur – Erinnerungen eines aufgestellten Königs` bei Klappezu & Affetot 2009, Wien, London, Buxtehude.
• Bohemund IV, oder King Black, der initiative schwarze König, der die ganze Fluchtaktion geplant, befohlen und angeführt hatte, wurde an die Spitze einer Standartenstange montiert, die bei Aufmärschen der Heilsarmee der Blaskapelle vorangetragen wurde. Auf diese Weise konnte er, standesbewusst wie er nun mal war, an feierlichen Zeremonien lange Jahre an vorderster Stelle teilnehmen und sich am Tschingderassabum und dem ganzen Tamtam um ihn herum erfreuen. Dabei glaubte er felsenfest, dass der Jubel der freudig am Straßenrand zuschauenden Menschen ihm alleine galt und der ganze Aufmarsch ihm zu Ehren abgehalten wurde.
Moral der G’schicht: Süß ist die Freiheit selbst dann, wenn sie einem nur zu einem zeitweiligen und banalen Weiterleben verhilft! ♦
Geb. 1956 in Grosswardein (Rumänien), 1970 Emigration nach Deutschland, Medizinstudium in Frankfurt/Main, seit 1987 Anästhesist am Universitätsspital Zürich und Dozent für Anästhesiologie, schreibt kulturhistorische Essays und humoristische Kurzprosa, lebt in Feldmeilen/CH
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