Taylor Kingston: Edgard Colle – Caissa’s Wounded Warrior

Lebendige Partien eines Todgeweihten

von Ralf Binnewirtz

Der US-ame­ri­ka­ni­sche Schach­his­to­ri­ker und -au­tor Tay­lor King­s­ton dürf­te den meis­ten Schach­freun­den be­kannt sein, mir selbst ist noch die „gute alte“ ChessCa­fe-Sei­te (be­vor die­se für Nut­zer be­zahl­pflich­tig wur­de) in an­ge­neh­mer Er­in­ne­rung, wo er mit un­zäh­li­gen Re­zen­sio­nen auf sich auf­merk­sam ge­macht hat. Für das neu­es­te Buch aus sei­ner Fe­der: „Ed­gard Col­le – Caissa’s Woun­ded War­ri­or“ hat­te King­s­ton zu­nächst ei­nen kor­ri­gier­ten Re­print der Par­tie­samm­lung von Fred Rein­feld aus dem Jah­re 1936, „Colle’s Ch­ess Mas­ter­pie­ces“, ins Auge ge­fasst. Aber ein sol­ches Up­date hät­te heu­ti­gen An­sprü­chen nicht ge­nügt, so dass er sich zu ei­ner kom­plet­ten Neu­be­ar­bei­tung ent­schloss, die auch mit ei­ner er­heb­li­chen Er­wei­te­rung des Um­fangs einherging.

Biografie? Fehlanzeige!

Edgard Colle: Caissa's Wounded Warrior - Taylor KingstonWer auf­grund des Ti­tels eine Bio­gra­fie von Ed­gard Col­le er­war­tet hat, wird eine sol­che in die­sem Buch nicht fin­den. Be­reits ein zwei­ter läng­li­cher Un­ter­ti­tel auf der in­ne­ren Ti­tel­sei­te weist auf die In­ten­tio­nen des Au­tors hin: „An ex­plo­ra­ti­on and ce­le­bra­ti­on of the ar­ti­stry of the Bel­gi­an ch­ess cham­pi­on and pro­li­fic in­ter­na­tio­nal tour­na­ment play­er Ed­gard Col­le (1897–1932)“. In der Tat ist (bis­her) über Col­les Le­ben au­ßer­halb des Schachs na­he­zu nichts be­kannt ge­wor­den, sei­ne Fa­mi­lie, Ju­gend und Er­zie­hung, Be­rufs­aus­bil­dung zum Jour­na­lis­ten, sein Wer­de­gang und Auf­stieg zum Schach­meis­ter blei­ben im Dun­keln1), und in­wie­weit sich der Ne­bel durch wei­te­re Re­cher­chen in bel­gi­schen Ar­chi­ven noch lich­ten wird, bleibt ab­zu­war­ten2). Tay­lor King­s­ton gibt frei­mü­tig zu, dass er die­se Ar­beit nicht leis­ten konnte.

Edgard Colle vs Alexander Alekhine - Schach-Turnier 1925 - Glarean Magazin
Ed­gard Col­le (rechts) am Brett ge­gen Alex­an­der Al­je­chin (Tur­nier 1925)

Der Au­tor muss­te sich da­her dar­auf be­schrän­ken, in ei­nem ein­lei­ten­den Teil I über den his­to­ri­schen Hin­ter­grund zu re­fe­rie­ren so­wie Er­in­ne­run­gen von zeit­ge­nös­si­schen Meis­tern bzw. Nach­ru­fe aus der Schach­li­te­ra­tur zu zi­tie­ren. So er­fah­ren wir aus Max Eu­wes Ge­denk­boek Col­le über die herz­li­che Freund­schaft zwi­schen dem spä­te­ren WM Euwe und Ed­gard Col­le, der Meis­ter aus Gent war ein häu­fi­ger Gast bei Euwe in Ams­ter­dam und wur­de qua­si ein Fa­mi­li­en­mit­glied (für Eu­wes Kin­der war er der „On­kel Colle“).

Krankheit und früher Tod

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Col­les be­dau­erns­wert fra­gi­ler Ge­sund­heits­zu­stand war be­dingt durch ein Ma­gen­ge­schwür, das ihn auch bei Schach­tur­nie­ren zu­neh­mend quäl­te und ein­schränk­te, es war für sei­nen tra­gi­schen, all­zu frü­hen Tod mit 34 Jah­ren ver­ant­wort­lich: Die me­di­zi­ni­schen Mög­lich­kei­ten sei­ner Zeit wa­ren für eine er­folg­rei­che Be­hand­lung schlicht un­zu­rei­chend, und nach drei über­stan­de­nen, wir­kungs­lo­sen Ope­ra­tio­nen soll­te er den vier­ten Ein­griff nicht über­le­ben, kurz vor sei­ner ge­plan­ten Ver­mäh­lung und der er­sehn­ten Grün­dung ei­ner ei­ge­nen Fa­mi­lie, wo­bei er sich auch be­ruf­lich hat­te um­ori­en­tie­ren wol­len – vom Schach­meis­ter zum Journalisten.

Schachritter ohne Furcht und Tadel

Edgard Colle - Primer premio en Scarborough 1930 - Mesa cruzada - Revista Glarean
Ei­ner der gro­ßen Tur­nier-Hö­he­punk­te für Ed­gard Col­le: Ers­ter Preis in Scar­bo­rough 1930, noch vor Ma­ro­c­zy und Rubinstein

Hans Kmoch hat in der Wie­ner Schach­zei­tung ei­nen er­grei­fen­den Nach­ruf auf Col­le ge­schrie­ben, der in eng­li­scher Über­set­zung im Buch wie­der­ge­ge­ben ist.3) Sei­ne Wor­te be­zeu­gen, dass sich Col­le – ob am oder ab­seits des Schachbrett(s) – stets vor­bild­lich ver­hal­ten hat, all­zeit ein per­fek­ter Gen­tle­man, der trotz sei­ner Krank­heit nie in Weh­lei­dig­keit ver­fiel, sich viel­mehr durch Op­ti­mis­mus und Hei­ter­keit her­vor­tat. Zu­gleich war er ein un­er­müd­li­cher Kämp­fer am Schach­brett, ein „knight sans peur et sans repro­che“ (King­s­ton), ein „Schach­meis­ter mit dem Kör­per ei­nes Tod­ge­weih­ten und mit dem Geist ei­nes un­sterb­li­chen Hel­den“ (Kmoch).

Vorbildliche Partien-Präsentation

Colle-Eröffnungs-System - Glarean Magazin
Cha­rak­te­ris­ti­sches Stel­lungs­bild im Col­le-Er­öff­nungs­sys­tem: Weiß plant frü­her oder spä­ter den Bau­ern­vor­stoß e3-e4

Teil II, das Herz­stück des Buchs, prä­sen­tiert auf gut 200 Sei­ten 110 kom­men­tier­te Par­tien und Par­tie­frag­men­te, neun wei­te­re un­kom­men­tier­te Par­tien (die in den Aus­zü­gen aus Eu­wes Ge­denk­boek er­wähnt sind) fin­den wir in An­hang A. Al­lein die schie­re Zahl der Par­tien (ge­gen­über le­dig­lich 51 im Rein­feld-Buch) zeigt, dass der Au­tor eine im­mense Ar­beit in­ves­tiert hat mit der Sich­tung und Aus­wahl, die ja un­ver­meid­lich mit der Com­pu­ter­prü­fung al­ler Par­tien ver­knüpft war.
Er­war­tungs­ge­mäß ha­ben sich hier­bei man­che al­ten „Meis­ter­wer­ke“ (bei Rein­feld) als we­nig meis­ter­lich ent­puppt. Die Kom­men­tie­rung der Par­tien be­ruht nun we­sent­lich auf sorg­fäl­ti­gen En­gi­ne-Ana­ly­sen, bis­wei­len sind im Buch auch die Com­pu­ter­be­wer­tun­gen ein­ge­streut (mit An­ga­be der ein­ge­setz­ten En­gi­ne und der be­rech­ne­ten Halbzüge).

Moderne Ansprüche befriedigend

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Wie schon aus dem In­halts­ver­zeich­nis in der Le­se­pro­be er­sicht­lich, hat King­s­ton die Par­tie­sek­ti­on un­ter­teilt in eine Rei­he von Ka­pi­teln, die be­stimm­te Par­tie­ty­pen, Par­tie­pha­sen oder Aspek­te der schach­li­chen Fä­hig­kei­ten the­ma­ti­sie­ren. In­ner­halb der Ka­pi­tel wur­de kei­ne chro­no­lo­gi­sche Ord­nung an­ge­strebt, die Par­tien sind nur grob nach an­stei­gen­der Kom­ple­xi­tät sor­tiert. Es fällt po­si­tiv auf, dass alle Ka­pi­tel durch eine Ein­füh­rung ein­ge­lei­tet wer­den, glei­ches gilt für die meis­ten Par­tien, wo­bei hier in der Re­gel Col­les Geg­ner kurz vor­ge­stellt wer­den. Im Ver­gleich zum Rein­feld-Klas­si­ker ist mit der un­gleich aus­führ­li­che­ren und tie­fe­ren Par­tie­kom­men­tie­rung (ver­bal und mit Va­ri­an­ten), mit der fi­gu­ri­nen No­ta­ti­on so­wie zahl­rei­chen ein­ge­füg­ten Dia­gram­men eine Par­tie­samm­lung ent­stan­den, die mo­der­nen An­sprü­chen ge­recht wird.

Colles Eröffnungssystem kaum ein Randthema

Bis heu­te ist Col­le im kol­lek­ti­ven Schach­ge­dächt­nis prä­sent durch das von ihm ge­schaf­fe­ne Er­öff­nungs­sys­tem, das er selbst vir­tu­os hand­hab­te und spä­ter auch von sei­nem Lands­mann Ge­or­ge Kol­ta­now­ski pro­pa­giert und aus­ge­ar­bei­tet wur­de. Dass Kol­ta­now­ski im Buch zu kurz ge­kom­men ist4), mag man kri­ti­sie­ren, an­de­rer­seits woll­te King­s­ton in sei­nem Buch nicht die Er­öff­nungs­theo­rie des Col­le-Sys­tems ab­ge­han­delt ha­ben, viel­mehr die Spiel­kunst von Col­le de­mons­trie­ren, ex­em­pli­fi­ziert an des­sen Par­tien. Li­te­ra­tur zum Col­le-Sys­tem gibt es schließ­lich schon genug.

Großer Taktiker mit wechselhaftem Erfolg

Legendäres Markenzeichen von Edgard Colle: Das Läuferopfer auf h7

Der Spiel­stil von Col­le kann mit vie­ler­lei At­tri­bu­ten ver­se­hen wer­den: dy­na­misch-ak­tiv, scharf, kraft­voll, auf­re­gend, krea­tiv, tak­tisch-kämp­fe­risch … Je­den­falls war Col­le in al­len Schach-Sät­teln ver­siert. Sei­ne schwan­ken­den Tur­nier­er­fol­ge wa­ren frag­los sei­ner chro­ni­schen Er­kran­kung ge­schul­det (zu sei­nen größ­ten Er­fol­gen zäh­len die ers­ten Plät­ze in Me­ran 1926 und Scar­bo­rough 1930). Man kann da­von aus­ge­hen, dass er des­halb auch eine stark tak­tisch aus­ge­rich­te­te Spiel­wei­se mit der Aus­sicht auf eine schnel­le Ent­schei­dung be­vor­zugt hat. Sei­ne Vor­lie­be für das Läu­fer­op­fer auf h7 (in sei­ner Er­öff­nung) soll bei sei­nen Meis­ter­kol­le­gen sprich­wört­lich ge­we­sen sein.5) Wenn es sein muss­te, hat er lan­ge Sit­zun­gen am Tur­nier­brett trotz­dem klag­los an­ge­nom­men. Nur ge­gen ei­ni­ge Spit­zen­spie­ler (Al­je­chin, Ca­pa­blan­ca, Nim­zowitsch, Vi­d­mar) hat er lei­der nie eine Ge­winn­par­tie ver­zeich­nen können.

Eine von Col­les Glanz­par­tien – sei­ne „Un­sterb­li­che“ – darf hier nicht fehlen:

Col­le hat in knapp 10 Jah­ren über 50 Tur­nie­re und ein Dut­zend Wett­kämp­fe ge­spielt, das ist eine be­acht­li­che Quo­te. Es lässt sich nicht ge­nau sa­gen, wo ein ge­sun­der Col­le bei ei­nem län­ge­ren Le­ben in der Rang­lis­te der Schach­grö­ßen ge­lan­det wäre, sei­ne höchs­te his­to­ri­sche Ra­ting­zahl von Nov. 1930 stuft ihn als die Nr. 14 sei­ner Zeit ein.

Gelungene Partiesammlung eines faszinierenden Spielers

Das Buch wird kom­plet­tiert durch ein Vor­wort von Andy Sol­tis und durch di­ver­se An­hän­ge: Ta­bel­len zu Col­les Tur­nier- und Match­er­geb­nis­sen, sämt­li­che Tur­nier­ta­bel­len, eine Bi­blio­gra­fie so­wie In­di­zes der Spie­ler und Er­öff­nun­gen. Ins­ge­samt ist Tay­lor King­s­ton eine so­li­de, ver­läss­li­che und gut kom­men­tier­te Par­tie­samm­lung zu Col­le ge­lun­gen, die in al­len Be­lan­gen zu­frie­den­stel­len dürf­te und die eine lan­ge be­stehen­de Lü­cke in der Schach­li­te­ra­tur ge­schlos­sen hat, denn der alte „Rein­feld“ ist we­gen der be­kann­ten Män­gel we­nig nutz­bar. Zu­dem ist der au­ßer­ge­wöhn­li­che Mensch und Schach­spie­ler Ed­gard Col­le da­mit wie­der ver­stärkt ins Be­wusst­sein der Schach­freun­de ge­rückt wor­den, auch des­we­gen ver­dient das Buch eine Emp­feh­lung. Die ul­ti­ma­ti­ve Col­le-Bio­gra­fie ist zwar noch nicht er­schie­nen, aber wir dür­fen be­rech­tig­te Hoff­nung he­gen, dass sie in nicht so fer­ner Zu­kunft auf un­se­rem Bü­cher­tisch liegt. ♦

1)Frank Hoff­meis­ter gibt in sei­nem Buch „100 Jah­re Bel­gi­sche Schach­ge­schich­te“ (Thin­kers Pu­bli­shing 2020) we­ni­ge De­tails, die King­s­ton für sein Buch ver­mut­lich nicht mehr be­rück­sich­ti­gen konn­te. Ein auf­fäl­li­ger Satz aus dem Ab­schnitt über Col­le sei hier zi­tiert, da er mit dem in­te­gren Cha­rak­ter Col­les nicht im Ein­klang scheint (S. 46): „Der Vor­stand des Gen­ter Clubs schloss sei­nen Ver­eins­meis­ter von 1917 und 1918 al­ler­dings nach Ende des 1. Welt­kriegs we­gen ‚Sym­pa­thie für den Feind‘ für drei Jah­re aus, be­vor er auf Be­trei­ben von Prä­si­dent Ver­schue­ren im Jahr 1921 re­ha­bi­li­tiert wurde.“
Als Quel­le ist eine Gen­ter Schach­klub-Chro­nik aus dem Jah­re 2000 an­ge­ge­ben, in der sich auch ein län­ge­rer Ge­denk­ar­ti­kel von Ber­nard de Bruy­cker über Col­le findet.
Hin­ge­wie­sen sei noch auf die schö­ne Web­site „Bel­gi­an Ch­ess Histo­ry“ von Ni­ko­laas Ver­hulst (mit ei­ner Sei­te über Col­le ), die auch von Tay­lor King­s­ton ge­wür­digt wird.

2)Der bel­gi­sche GM Luc Wi­nants ar­bei­tet ak­tu­ell an ei­ner um­fas­sen­den Col­le-Bio­gra­fie (nach Hoff­meis­ter, s. [1] S. 47)

3)Das deut­sche Ori­gi­nal die­ses Ne­kro­logs in der WSZ Nr. 9, Mai 1932, S. 129f., ist on­line ver­füg­bar auf ANNO – Aus­tri­aN News­pa­pers On­line https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=sze&datum=1932&pos=191&size=45. In ei­ner Nach­le­se zu Col­le ist dort (S. 131-133) auch Col­les letz­te Tur­nier­par­tie ge­gen A. Ru­bin­stein (Rot­ter­dam, Dez. 1931) wie­der­ge­ge­ben, die zu­gleich Ru­bin­steins letz­te Tur­nier­par­tie ge­we­sen ist – eine be­mer­kens­wer­te, um nicht zu sa­gen merk­wür­di­ge Ko­in­zi­denz! Sie­he im Buch das Ka­pi­tel „Swan Song“, S. 228-233

4)So John Do­nald­son in sei­nem Re­view in Okla­ho­ma Ch­ess Month­ly, June 2021, p. 9f. http://ocfchess.org/pdf/OCM-2021-06-01.pdf

5)Dr. Ste­fan Ot­tow: „Meis­ter des Läu­fer­op­fers – Ed­gard Col­le und sein Sys­tem“, in Kai­ssi­ber Nr. 3, Juli-Sept. 1997, S. 44-57

Tay­lor King­s­ton: The Fight­ing Ch­ess of Ed­gard Col­le – Caissa’s Woun­ded War­ri­or, 272 Sei­ten, Rus­sell En­ter­pri­ses Inc., ISBN 978-1-949859-27-0

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