Inhaltsverzeichnis
Humor und unzähmbare Lebenslust
von Alexandra Lavizzari
Sechs Romane des hochgelobten kolumbianischen Autors Tomás González (1950 in Medellín geboren) liegen bereits in deutscher Übersetzung vor; nun gibt der Verlag Edition 8 eine Sammlung von Erzählungen heraus, die drei Bänden aus den Jahren 1993, 2012 und 2016 entnommen sind und mit drei weiteren Erzählungen ergänzt wurden. Unter der Betreuung von Peter Schultze-Kraft haben sein Bruder Rainer, seine Tochter Ophelia, Gert Loschütz, Peter Stamm und Jan Weiz jeweils im Zweigespann an deren Übertragung aus dem Spanischen gearbeitet.
Der Klappentext geizt nicht mit Superlativen und weckt hohe Erwartungen, wenn gewisse Szenen in der einleitenden Erzählung eines Samuel Beckett für würdig befunden werden und andernorts Tschechow zum Vergleich herangezogen wird. Das klingt vielversprechend, sagt man sich, öffnet den sehr schön gestalteten Band und vertieft sich noch so gerne in die erste Erzählung “Ein unwahrscheinliches Grün”.
Boris…
Man kann sich nach einer Weile fragen, ob es fünfzig Seiten bedarf, um die psychiche und soziale Abwärtsspirale zu beschreiben, die den Maler Boris nach einem nicht näher erläuterten Todesfall in einen obdachlosen Alkoholiker verwandelt. Wohin die Geschichte steuert, steht nämlich nach wenigen Seiten fest: Boris schlittert und schlittert, wobei der Autor seinen Lesern die Einsicht in dessen Gefühlswelt verweigert und sich stattdessen, einem unbeteiligten Chronisten gleich, auf die minutiöse Protokollierung dieses Abstiegs beschränkt. Immerhin wird die Konsequenz des distanzierten Blicks hin und wieder durchbrochen und darf der Leser mitbekommen, was Boris empfindet.
Solche Passagen sind jedoch Ausnahmen in González‘ ästhetischem Programm, denn dem Autor geht es hier um mehr als um die Aufzeichnung eines individuellen Schicksals. Sein Thema ist Ohnmacht und Scheitern des Menschen auf existenzieller Skala, und dazu gehört auch, ganz im Beckettschen Sinn, das reine Aufzählen von Bewegungsabläufen, die unaufhaltsam auf den Nullpunkt zusteuern.
Der Leser sieht diesen für Boris am Horizont aufblitzen, aber González, der sich als ein wahrer Meister im Enden seiner Geschichten erweist, bricht vorher ab. Boris legt sich einfach schlafen, und wir wissen: es geht noch ein Stückchen weiter abwärts, und noch ein Stückchen, und das einzige, was dem Gescheiterten bleibt, ist, mit Würde hinzunehmen, dass dem so ist.
Carola…
González lässt uns in diesem Band am Leben verschiedenster Menschen teilhaben: Scheiternde wie Boris sind auch Carola in “Carola Dicksons unendliche Reise”, und der Ich-Erzähler in Víctor kehrt zurück. Erstere ist Lehrerin in Brooklyn und setzt sich in den Kopf, nach ihrer Pensionierung die Welt zu umseglen, um den Menschen zu helfen. Sie kauft sich schon Jahre vor ihrem Vorhaben ein Boot, lernt segeln, kauft Kompass und Sextanten und fühlt sich an Bord bald geborgener als im eigenen Zuhause.
Die Sturheit, mit welcher diese Frau ihr Ziel vorbereitet, verleiht ihr von Anfang an eine rührende Tragik, und tatsächlich kommt es, wie es bei einem solch verrückten Unterfangen eben kommen muss. Carola gerät in einen Sturm und erleidet Schiffbruch. Den Menschen ist nicht zu helfen – und Carola auch nicht. Der Text lässt offen, ob sie nach diesem Debakel nicht einen zweiten Versuch starten wird.
Víctor…
Víctors Geschichte reiht sich thematisch nahtlos an jene von Boris, Carola und manch anderer Figur in diesem Band, doch zeichnet sie eine besonders originelle Erzähltechnik aus, die dem erzählten Tatbestand Vielschichtigkeit verleiht. Víctor kehrt zurück nach New Orleans, dem Ort, an dem er vor zwölf Jahren mit Frau und Tochter gelebt hat. Während der Reise erinnert er sich an die Umstände seines Weggangs, an den in extremis verhinderten Gewaltakt an seiner Frau, die darauf die Türschlösser auswechselte und ihn schließlich festnehmen ließ, weil er sie nicht in Ruhe ließ. “Warum will man zurück, wenn man nicht kann, dachte ich.”

Diese Rückreise, in einer Art Bewusstseinsstrom erzählt, oszillierend zwischen kühl beobachteter Gegenwart und emotionsgeladener Vergangenheit, gehört zu den besten Erzählungen des Bandes. Die Grenzen zwischen Innen- und Aussenwelt greifen immer wieder ineinander über, bald überwiegen die Erinnerungen – “stinkend wie ein toter Hund im Mangrovensumpf zur Mittagszeit” – bald die Wahrnehmung des vertrauten Meerstrandes mit seinen Muscheln und zu Smaragden geschliffenen Flaschenscherben, und geschickt dieser Zone zwischen Damals und Jetzt entlang lässt uns der Autor an dieser eindrücklichen Reise teilhaben.
Don Rafael…
Ähnlich konstruiert der Autor die Reise an die Küste, die den an Alzheimer erkrankten Don Rafael in den Mittelpunkt seiner Familie stellt. Diese schenkt ihm einmal im Jahr die Illusion, mit dem Expreso del Sol an die Küste zu fahren, indem sie die Wohnung in einen Eisenbahnwagen und Wartesaal verwandeln. Die Bahnreise führt durch die üppige Tropenlandschaft Kolumbiens, an verlassenen Bahnhöfen und Bananenpflanzungen vorbei, Leute steigen zu, Verkäuferinnen halten Tamales und Anananascheiben feil, und das alles erleben wir durch die Augen des kranken, aber glücklich zu Hause sitzenden Rafaels und gleichzeitig aus der Sicht der Familienmitglieder, die ihm diese Fahrt mit den ausgefallendsten Mitteln vorgaukeln. Die Geschichte, die übrigens auch als Hörspiel vorliegt, ist klar dem magischen Realismus Gabriel Márquez‘ verpflichtet und vom Autor auch als Hommage ihm zugedacht.
Sprachlicher Ballast und…

Vergleiche mit Márquez und vor allem mit Beckett sind jedoch fehl am Platz, wenn es um die Sprache geht. Peter Stamm lobt González‘ Stil, bezeichnet ihn als „sehr trocken, aber zugleich sehr atmosphärisch.“ Spräche er von seinem eigenen Stil, würde ich mit ihm sofort einig gehen. Aber González ist nicht Peter Stamm, er verzichtet darauf, seine Sprache zu entschlacken, besonders von Adjektiven, deren Häufung oft zu klischierten Beschreibungen von Figuren und Situationen führen: „Der Frau, die ihm das Zimmer vermietete – eine phlegmatische Blondine mit einem naiven, unpersönlichen Auftreten, billigem Schmuck und zerkauten Fingernägeln – …“
… redundante Informationen
Beispiele für redundante Informationen finden sich in allen dreizehn Erzählungen leider zuhauf. Dass die Blondine dem Klischee einer Blondine so genau entsprechen muss, mag man durchlassen, aber dass man, wie in der Erzählung Die Heimkehr der verlorenen Tante zusammen mit recht einfach typisierenden Merkmalen sogar die Augenfarbe des Chauffeurs einer andern Tante erfahren muss, ist nicht einzusehen.
Ungemütlicher literarischer Widerspruch
Der sprachliche Beschreibungsballast tut nicht nur dem Erzählfluss Abbruch, sondern schafft auch einen ungemütlichen literarischen Widerspruch: Einerseits ist die Identifikation mit den Figuren verweigert, weil dem Leser deren Innenleben vorenthalten wird, und andererseits will der Autor uns über jede noch so sekundäre Figur Details mitgeben, die für die Geschichte vollkommen irrelevant sind. Das ist schade.
Themen des Scheiterns dominieren diesen Band, aber weil González‘ seine Figuren auch mit einer Prise Humor und unzähmbarer Lebenslust ausstattet, bleibt nach Ende der Lektüre nicht das Dunkle und Hoffnungslose haften, sondern eine große Farbenpracht und, ja, eine ebenso große Lust, nach Kolumbien aufzubrechen, um Land und Leute kennenzulernen ♦
Tomás González: Die stachelige Schönheit der Welt – Erzählungen, 240 Seiten, Edition 8, ISBN 978-3-85990-412-5
Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema Kolumbianische Literatur auch über Mauricio Botero: Don Ottos Klassikkabinett