Schubert: Die letzten drei Klaviersonaten (CD – Tobias Koch)

Eine neue Dimension

von Christian Busch

So man­cher Bewun­de­rer von Schu­berts letz­ten Sona­ten wird sich beim Anhö­ren ver­schie­de­ner Auf­nah­men mal gefragt haben: Wie lang­sam kann, ja darf man das spie­len? Mit wel­chem Tempo kommt man dem wahr­haf­ti­gen Schu­bert am nächs­ten, so dass die Zeit gesprengt wird und stillsteht?
Der Düs­sel­dor­fer Kon­zert­pia­nist Tobias Koch hat sich nun – unter dem Motto “Zukunfts­mu­sik” – Schu­berts letz­ten drei Kla­vier­so­na­ten gewid­met und sie – ori­gi­nal­ge­treu auf dem Ham­mer­flü­gel von Con­rad Graf (Wien, 1835) aus dem Tiro­ler Lan­des­mu­seum Fer­di­nan­deum für das Inns­bru­cker Label Musik­mu­seum – neu aufgenommen.

Immer sind da diese Schritte. Die sich müh­sam einen Weg durch die ver­schneite Win­ter­land­schaft bah­nen­den Schritte des ein­sa­men Wan­de­rers. Miss­mut, Ver­zweif­lung und tiefe Trau­rig­keit klin­gen an, ein Inne­hal­ten, ein hoff­nungs­vol­les-, ja weh­mü­ti­ges Erin­nern, doch dann kehrt die schöne, aber resi­gna­tiv-dumpfe Anfangs­me­lo­die zurück. Der Kreis schließt sich. Ein schick­sal­haf­ter, aus­weg­lo­ser Gang, eine Flucht gar ohne Ziel? Wie tief kann sich ein Mensch in sich zurück­zie­hen? An man­chen Stel­len stockt die Musik, einem Herz­still­stand gleich. Ist das der Tod?

Suche nach dem wahren Schubert-Sound

Franz Schubert: Zukunftsmusik - Die letzten drei Klaviersonaten - Tobias Koch - Musik MuseumFra­gen, die beim Hören von Franz Schu­berts letz­ter, geheim­nis­um­wo­be­ner und ein­zig­ar­ti­ger Kla­vier­so­nate in B-Dur D 960 auf­kom­men. Das Werk eines 31-jäh­ri­gen und doch eines sei­ner letz­ten. Schu­bert starb nur wenige Wochen nach der Voll­endung. Ein tona­les Ver­mächt­nis eines Kom­po­nis­ten, der kurz zuvor am Grabe Beet­ho­vens gestan­den hatte und mit des­sen drei letz­ten Kla­vier­so­na­ten ein unge­heu­res Erbe antrat, das zu igno­rie­ren noch schwe­rer als es zu über­tref­fen war. Musik­ge­schicht­lich der bedeu­tende Schritt von der Klas­sik zur Roman­tik. Eine Sonate, die – hat man sie ein­mal gehört – zum lebens­lan­gen Beglei­ter wer­den kann.

Der inneren Tiefe angenähert

Pia­nist Tobias Kochs “Zukunfts­mu­sik” nähert sich Schu­berts Monu­men­ta­li­tät und inne­rer Tiefe mit aus­ge­sucht bedäch­ti­gen Tempi, wenn er sowohl die melo­di­schen resi­gna­ti­ven Pas­sa­gen aus­kos­tend ebenso wie die immer wie­der­keh­ren­den lei­den­schaft­li­chen Aus­brü­che in ihrer gan­zen Tiefe dar­zu­stel­len sucht. Doch wäre es grob fahr­läs­sig, seine Ein­spie­lung dar­auf zu reduzieren.

C-moll: Auf Beethovens Spuren

In der Sonate D958 kehrt Schu­bert mit der Ton­art c-Moll, die er oft als Haupt­ton­art einer Kom­po­si­tion gemie­den hat, zum Modell Beet­ho­vens mit sei­nem kämp­fe­ri­schen Duk­tus zurück. Über­deut­lich “zitiert” er im Ein­gangs­thema des Kopf­sat­zes aus Beet­ho­vens 32 Varia­tio­nen in c-moll (WoO80). Doch in der Folge weicht das unru­hige Drän­gen einer lyri­schen Stim­mung, die im zwei­ten Thema in ein “fried­voll-idyl­li­sches Krei­sen um Zen­tral­töne” (Michael Wer­sin) mün­det: Eine neue musi­ka­li­sche Welt!
So knüpft Schu­bert an den volks­er­zie­he­ri­schen, heroi­schen Cha­rak­ter sei­nes Vor­gän­gers nur an, um ihn als geschei­ter­tes Unter­fan­gen in die pri­vate Abge­schie­den­heit, in die Inner­lich­keit und den Raum der Liebe zu gelei­ten. Schu­bert wird damit zum Anti­po­den des an Auf­klä­rung, Eman­zi­pa­tion und poli­ti­schen Fort­schritt glau­ben­den Beethovens.

Franz Schubert - Klaviersonate D958 - Beginn des Adagio - Glarean Magazin
“Tief­grün­dige Nacht­wa­che”: Beginn des Ada­gio in Franz Schu­berts Kla­vier­so­nate D958

Breite und klangvolle Deutung

Tobias Koch - Pianist - Glarean Magazin
Tobias Koch (geb. 1968 in Kempen/D)

Tobias Koch legt gerade diese unge­heure und gewich­tig Neue­rung in sei­ner breit und klang­voll ange­leg­ten Deu­tung frei. Das Ham­mer­kla­vier ächzt und fun­kelt in unend­li­chen Schat­tie­run­gen, so dass man das Gefühl hat, direkt neben Schu­bert auf einem alten Sofa mit ein paar losen Sprung­fe­dern zu sit­zen. An man­chen Stel­len scheint Johann Sebas­tian Bach mit auf dem Sofa zu sit­zen. Das Ada­gio wird zur tief­grün­di­gen Nach­wa­che, das Finale ein erstaun­li­cher Tri­umph des sich krea­tiv ent­fal­ten­den Indi­vi­du­ums. Der Pia­nist spielt alle Wie­der­ho­lun­gen und prä­sen­tiert Schu­berts c-moll-Sonate in fast 37 Minu­ten gewich­ti­ger Tonrede.

Die 2. “Atlas”-Sonate

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Auch die A-Dur-Sonate D959 erin­nert an Beet­ho­ven und stammt doch unver­kenn­bar aus der roman­ti­schen Feder Schu­berts, nicht nur mit den zwei immer wie­der­keh­ren­den Vier­tel-Schlä­gen aus dem von Schu­bert ver­ton­ten Heine-Lied “Der Atlas” – ein Hin­weis auf Schu­berts per­sön­li­che Lebens­si­tua­tion, die von Krank­heit, Todes­ah­nung und Resi­gna­tion durch­zo­gen war. Auch hier fin­den wir wun­der­bare melo­di­sche Abläufe mit “himm­li­schen Län­gen” (Robert Schu­mann), wel­che den roman­ti­schen Cha­rak­ter, die Hin­wen­dung vom Öffent­li­chen ins Pri­vate, vom lei­den­schaft­li­chen Kampf zum sich sei­ner Liebe ver­ge­wis­sern­den Herz ausmachen.

Unnatürlich verlangsamt

Kochs Zugriff kann hier im 1. Satz nicht recht grei­fen. Schon der Beginn klingt sper­rig, zu sto­ckend und unna­tür­lich ver­lang­samt. Der leichte melo­dien­ver­liebte Fluss geht ver­lo­ren, auch wenn einige Stel­len uner­hört gewich­tig und aus­kos­tend gera­ten. In jedem Fall fällt es hier schwer, sich von vor­he­ri­gen klang­li­chen Vor­stel­lun­gen und Deu­tun­gen zu lösen. Es scheint aber, dass Kochs Zugriff eher der letz­ten Sonate vor­be­hal­ten und ange­mes­sen sein könnte. Das wird noch ein­mal im letz­ten Satz, dem Rondo, deut­lich, auch wenn es auch hier groß­ar­tige Momente unge­ahn­ter Monu­men­ta­li­tät und berü­cken­der Stille zu ent­de­cken gibt.

Franz Schubert - Klaviersonate D959 - Auszug 1. Satz - Glarean Magazin
“Melo­dien­ver­lieb­ter Fluss”:  Zitat aus Franz Schu­berts Kla­vier­so­nate D959

Das Vermächtnis: Sonate in B-Dur D960

Deut­lich stim­mi­ger ist Kochs Zugriff des Gewich­ti­gen bei der letz­ten, ein­gangs bereits cha­rak­te­ri­sier­ten B-Dur Sonate, Schu­berts pia­nis­ti­schem Schwa­nen­ge­sang, das sein umfang­reichs­tes Kla­vier­werk ist, auch darin Beet­ho­vens in der glei­chen Ton­art kom­po­nier­ten Ham­mer­kla­vier­so­nate ähnelnd. Hier kehrt der ein­same Wan­de­rer der Win­ter­reise wie­der, seine schwe­ren Schritte, suchend, krei­send und sich im Nir­gendwo verlierend.

Franz Schubert - Klaviersonate D960 - Beginn Andante sostenuto - Glarean Magazin
“An die letz­ten Dinge rüh­rend”: Beginn des Andante sos­ten­uto in Franz Schu­berts Kla­vier­so­nate D960

Tobias Koch, so möchte man sagen, trägt Schu­bert auf Hän­den, nimmt sich alle Zeit der Welt, jeg­li­che Schat­tie­run­gen, Zwi­schen­töne, Unter­stim­men und ver­steckte Akkorde ans Licht zu beför­dern. Sein Vor­trag ist durch­ge­hend lei­den­schaft­lich, mal jäh und don­nernd, dann wie­der tän­ze­risch leicht bis zärt­lich strei­chelnd und von dem Bestre­ben beseelt, Schu­bert “letzte Worte” zu entschlüsseln.

Innovativer Interpretationsansatz

Komponist Franz Schubert in jungen Jahren (Josef Abel) - Glarean Magazin
Franz Schu­bert in jun­gen Jah­ren (Josef Abel)

Das Ham­mer­kla­vier erweist sich als kon­ge­nia­ler Part­ner, der nichts glät­tet oder ein­eb­net, son­dern Schu­berts rauhe, unwirt­li­che Welt in ihren viel­far­bi­gen Schat­tie­run­gen her­vor­ra­gend tonal wider­spie­gelt. Ein uner­hör­tes Klang­er­leb­nis, das inter­pre­ta­to­risch eine neue Dimen­sion erschließt. Nicht ein­mal bei Valery Afan­as­siev dau­ert der Kopf­satz so lange wie bei Tobias Koch (über 31 Minu­ten). Das Andante sos­ten­uto gerät mit sei­nem cho­ral­ar­ti­gen, fei­er­li­chen Ton ein­mal mehr zu einer berü­cken­den, an die letz­ten Dinge rüh­ren­den Intro­spek­tive der roman­ti­schen Seele. Das Finale greift den inno­va­ti­ven Inter­pre­ta­ti­ons­an­satz auf und schließt die über­zeu­gende Dar­bie­tung mit gro­ßer Ein­dring­lich­keit ab.

Eine neue Schubert-Dimension

Die neuen Ein­spie­lun­gen von Tobias Koch erwei­tern das Spek­trum der Inter­pre­ta­tio­nen von Schu­berts Kla­vier­so­na­ten um eine neue Dimen­sion. Seine Deu­tung ist nicht geprägt von vir­tuo­sem Zur-Schau-Stel­len pia­nis­ti­scher Vir­tuo­si­tät, son­dern vom “hei­ßen Bemü­hen” um Schu­berts ein­zig­ar­tige Werke. Sie stel­len ver­traute Klang­vor­stel­lun­gen in Frage und lie­fern auf einem his­to­ri­schen Instru­ment höchst inter­es­sante Alter­na­ti­ven, wel­che nicht nur den Schu­bert-Lieb­ha­ber zum Über­den­ken sei­ner Hör­ge­wohn­hei­ten brin­gen kann. ♦

Zukunfts­mu­sik – Franz Schu­bert: Die letz­ten drei Kla­vier­so­na­ten, Tobias Koch (For­te­piano Con­rad Graf – Wien um 1835), Musik Museum

Lesen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum Thema klas­si­sche Kla­vier­mu­sik auch über die neue CD von See Siang Wong: Fan­ta­sia – Werke von Beethoven


 

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