Arno Camenisch: Goldene Jahre (Roman)

Was mit der Schweizer Literatur nicht stimmt

von Dominik Riedo

Li­te­ra­tur setzt sich nur aus schein­ba­ren Klei­nig­kei­ten zu­sam­men. Schein­ba­ren – weil das kleins­te De­tail stets mitentscheidet.“
Karl­heinz Deschner

Ich ver­ste­he es ein­fach nicht. So ein­fach ist es. Klar: Die Ver­kaufs­zah­len spre­chen für sich (und zwar tat­säch­lich, auch in mei­nem Sin­ne; sie­he un­ten), und wer beim Le­sen glück­lich ist, im­mer­hin, dem ist dies an sich Wer­tung genug. –
Trotz­dem ver­ste­he ich es nicht. Denn ich habe im Stu­di­um un­ter Pro­fes­sor von Matt an der Uni­ver­si­tät Zü­rich ge­lernt, dass man gute Li­te­ra­tur durch­aus von schlech­ter un­ter­schei­den kann, und dass aus­ge­bil­de­te Ger­ma­nis­ten das durch­aus auch kön­nen soll­ten. Und drum wohl kann ich es nicht verstehen.
Wor­um es geht? „Gol­de­ne Jah­re“, das neue Buch von Arno Ca­men­isch (*1978 in Ta­va­na­sa), er­schie­nen im Mai die­ses Jah­res 2020, stand – wie man der Web­sei­te des Schrift­stel­lers ent­neh­men kann – wo­chen­lang in den Best­sel­ler­lis­ten. Es muss sich gut ver­kauft ha­ben. Vor al­lem aber war es, als ich es kauf­te, für den Deut­schen Buch­preis 2020 no­mi­niert, ei­nes von zwan­zig Bü­chern im ge­sam­ten deut­schen Sprachraum.

Zweiter Frühling zweier Damen

Arno Camenisch - Goldene Jahre - Roman - Engeler VerlagWeil Ju­ro­ren sol­cher Prei­se in der Re­gel durch­aus sach­ge­recht be­ur­tei­len kön­nen, dach­te ich mir ganz ohne Hin­ter­ge­dan­ken, ich könn­te mir da wie­der ein­mal ein Buch ei­nes Mit­au­tors gön­nen, das ich ger­ne lese wer­de, wie etwa Da­ni­el Kehl­manns Bü­cher, die sich ja eben­falls gut ver­kau­fen und de­ren Au­tor auch vie­le Prei­se be­kom­men hat.
Doch was für eine Ent­täu­schung! Klar, das Buch hat ei­nen grif­fi­gen Ti­tel und kommt so­gar, an­ders als man es auf den ers­ten, ver­ein­fach­ten Blick er­war­ten wür­de, nicht in ei­nem gol­de­nen Kleid da­her. Der eher leuch­tend gras­grü­ne Um­schlag steht da­mit ge­schickt viel­mehr für den Früh­ling als für die spä­ten Jah­re des Frau­en­du­os, um das sich in „Gol­de­ne Jah­re“ al­les dreht. Er­le­ben doch die bei­den Da­men durch das Er­zäh­len, so könn­te man sich den­ken, eine Art zwei­ten Früh­ling, und ganz si­cher spielt das Buch im Früh­ling. Nur nicht all­zu of­fen­sicht­lich da­her­kom­men, das un­ter­schei­det Li­te­ra­tur manch­mal loh­nens­wer­ter Wei­se vom Jour­na­lis­mus. So den­ke ich mir zu Be­ginn auch nichts über die Si­tua­ti­on, in der die bei­den Frau­en im Buch qua­si be­rich­ten. Es wird sich dann schon noch klä­ren, den­ke ich, wel­che dia­lo­gi­sche oder er­zäh­le­ri­sche Si­tua­ti­on hier vorliegt.

Gestelzt-unglaubwürdige Sprache

Arno Camenisch - Schriftsteller - Glarean Magazin
Arno Ca­men­isch (*1978)

Aber dazu gleich vor­ne­weg: Die Le­se­rin oder der Le­ser wird sich bis zum Ende fra­gen müs­sen, wenn sie/er sich das fra­gen will, an wen die bei­den Frau­en sich hier ei­gent­lich wen­den: Es ist kein auf ein Spei­cher­me­di­um ge­spro­che­ner Brief, kein Be­richt ei­ner Ra­dio- oder Fern­seh­an­stalt und sie fil­men sich auch nicht selbst zur Er­in­ne­rung. Sie er­zäh­len ein­fach für­ein­an­der (nur „ein­an­der“ kann ich nicht gut sa­gen, spricht doch etwa Mar­grit am An­fang ins Lee­re hin­aus, ohne dass Rosa-Ma­ria schon di­rekt bei ihr wäre). Und da war es bei mir als Le­ser schon so weit, dass ich mehr als stutz­te: Wenn man sich der­art lan­ge kennt wie die bei­den Prot­ago­nis­tin­nen, und wenn man zu­sam­men seit 51 Jah­ren ei­nen Ki­osk führt, dann be­ginnt man doch nicht aus dem Nichts her­aus fol­gen­der­mas­sen zum Ge­gen­über zu re­den: „Eine Freu­de ist das, wie schön sie leuch­tet, sie lä­chelt, da geht ei­nem grad das Herz auf, wenn wir am Mor­gen die gel­be Leucht­re­kla­me ein­schal­ten, in al­ler Herr­gotts­frü­he, wenn noch die letz­ten Ster­ne am Him­mel sind.“
Ab­ge­se­hen da­von, dass ei­nem wohl nach 51 Jah­ren im sel­ben Job, so ger­ne man ihn tut, nicht mehr je­den Tag das Herz auf­geht über die­ser Tä­tig­keit, so falsch ist es, wenn der Au­tor hier die eine Fi­gur zur an­de­ren – ob­wohl die in dem Mo­ment wie ge­sagt nicht mal dort steht – sa­gen lässt, dass die Leucht­re­kla­me gelb ist. Das wüss­te die doch schon lan­ge! Man sagt auf der Bau­stel­le auch nicht: „Gib mir mal den gel­ben Me­ter“. Die Far­be ist hier­bei to­tal un­wich­tig (aus­ser es läge ein an­de­rer ro­ter da­ne­ben). Eben­so wüss­te ihr Ge­gen­über im Buch wohl, dass sie dies je­weils sehr früh am Mor­gen tun und dass dann, zu­min­dest in dem be­tref­fen­den Mo­nat, die Ster­ne teil­wei­se noch am Him­mel ste­hen (und für das gan­ze Jahr ge­se­hen wäre dies zu­dem schlicht falsch). Oder noch an­ders ge­sagt: Kei­ne alte Kol­le­gin spricht so ge­stelzt zu ih­rer al­ten Kollegin.

Falsche Erzählsituationen

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Nun könn­te man ein­wen­den, es sei nicht ganz si­cher, ob be­zie­hungs­wei­se was da al­les ge­spro­chen wer­de, denn das „sie lä­chelt“ spricht sie kaum aus; sie könn­te sich das also bloss bei sich den­ken. Doch da ver­tei­digt mich der nächs­te Satz: „Und bald wird es hell, sagt sie“. Sie spricht also wirk­lich; aber eben: Im gan­zen Text kann man nie her­aus­le­sen, dass sich die Frau­en an ei­nen Drit­ten wen­den wür­den. Da macht es auch kei­nen Sinn, dass sie wei­ter an­fügt: „Seit 1969 gibt es uns, be­reits, ja, ja, im 69 ist die Leucht­re­kla­me zum al­ler­ers­ten Mal an­ge­gan­gen, in ih­rer gan­zen Pracht, das gan­ze Tal ist auf­ge­leuch­tet an die­sem Tag, so­gar von Br­igels run­ter konn­te man die Leucht­re­kla­me se­hen, wenn man oben auf der Kan­te stand, dort wo der stei­le Hang be­ginnt, und run­ter­schau­te, sah man das Licht auf dem Dach vom Ki­osk bren­nen wie das ewi­ge Liech­t­li in der Kir­che.“ Ers­tens ist der Ver­gleich mit dem ewi­gen Licht in der Kir­che nicht gut ge­wählt, denn dies brennt auch in der Nacht, aber das kann man im­mer­hin noch der Fi­gur zu­schrei­ben; zwei­tens aber: Wer braucht ei­ner Ge­schäfts­part­ne­rin, die seit 51 Jah­ren am glei­chen Ort ar­bei­tet, die nä­he­re Um­ge­bung noch zu be­schrei­ben? Es ist ihr doch klar, wo ge­nau die be­tref­fen­de Stel­le in Br­igels wäre, von dem man die Leucht­re­kla­me se­hen kann. Völ­lig blöd wird es dann, wenn die Mar­grit gleich dar­auf dia­lo­gisch zu wie­der­käu­en be­ginnt: „Ein Bi­jou von ei­ner Leucht­re­kla­me ist das, sagt die Mar­grit, im Au­gust 1969 ist sie das ers­te Mal an­ge­gan­gen“. In wel­cher denk­ba­ren Sze­ne, selbst wenn das Gan­ze für eine Drit­te oder ei­nen Drit­ten ge­spro­chen wäre, soll­te sie das wie­der­ho­len? – Die Er­zähl­si­tua­ti­on für das gan­ze Buch ist schlicht falsch.

Ein lieber feiner Kerli“

Surselva Tal - Kanton Graubünden Schweiz - Glarean Magazin
„So­gar von Br­igels run­ter konn­te man die Leucht­re­kla­me se­hen“: Das Sur­sel­va Tal im Schwei­zer Kan­ton Graubünden

Doch war ich hier noch be­reit, das ein­fach mal zu ak­zep­tie­ren; es könn­te ja sein, dass Ca­men­isch we­nigs­tens ein gu­ter Be­ob­ach­ter der Men­schen in dem Bünd­ner Tal, der Sur­sel­va, wäre. Aber das muss­te ich mir eben­so gleich aus dem Kopf schla­gen, folgt doch Plat­ti­tü­de auf Plat­ti­tü­de. Dass sie be­reits 51 Jah­re an ih­rem Ki­osk ar­bei­ten, will die Rosa-Ma­ria gar nicht recht glau­ben, es kom­me ihr vor, und hier also die Plat­ti­tü­de, „als sei­en wir doch erst ge­ra­de ge­star­tet“. Huch, man sieht re­gel­recht das er­staun­te Ge­sicht über dem ab­ge­leb­ten hal­ben Jahr­hun­dert. Hier stell­te sich mir dann eben die Fra­ge: Will der Au­tor ei­gent­lich ein­fa­che Men­schen dar­stel­len oder eher tief­sin­ni­ge? Wä­ren sie tief­sin­nig, wür­den sie sich be­stimmt nicht der­art sim­pel und ohne wei­te­re Ge­dan­ken über die Jah­re wun­dern. Wä­ren sie aber ein­fa­che Büezer, so re­den sie nicht entsprechend.
Tat­säch­lich sind die Plat­ti­tü­den wohl auch eher die des Au­tors. Wird doch im Fol­gen­den dann fast je­der Mann, dem die bei­den in der Zeit als Ki­osk-Frau­en be­geg­net sind, „ein fei­ner Bur­sche“, „ein lie­ber Kerl“ o. Ä. ge­nannt, so oft, dass es auch nicht mehr ein be­stimm­tes We­sens­merk­mal sein kann, vor al­lem, da bei­de Frau­en das eine oder an­de­re Mal die­se Be­schrei­bung wäh­len (was traut der Au­tor die­sen Frau­en ei­gent­lich al­les nicht zu?). Der As­tro­naut Coll­ins: „der lie­be Ker­li“; der Rad­renn­fah­rer Eddy Merckx: „ein fei­ner Bur­sche“; Hugo Ko­blet (des­sen Ren­nen aber ei­gent­lich vor ih­rer Zeit sich ab­spiel­ten): „ein Hüb­scher“; so­gar der Glas­au­gen-Co­lum­bo aus der TV-Se­rie ist „char­mant“ (und aus­ge­rech­net bei dem sagt die Mar­grit: „Wenn der hier an un­se­rem schö­nen Ki­osk mit Zapf­säu­le mit sei­nem Ca­brio­let an­ge­fah­ren ge­kom­men wäre, ich weiss nicht, was dann pas­siert wäre“; als wür­den sich Frau­en nur die ‹Char­man­ten› aus­wäh­len, nicht etwa jene, die rich­tig sexy sind; ob da ei­ner ein völ­lig fal­sches Frau­en­bild hat?); Ro­ger Moo­re ist eben­falls „ein fei­ner Kerl“; und auch der Lu­do­vic ist – na: was? – „ein fei­ner Kerl“.

Von dreirädrigen Autos

Isetta BMW - Glarean Magazin
Noch bis in die 1970er Jah­re hin­ein auf Bünd­ner Stras­sen zu se­hen: Die le­gen­dä­re 3-räd­ri­ge Iset­ta BMW

Ähn­lich platt oder falsch die Ver­glei­che, wie schon beim ewi­gen Licht: „Das ist wie ein Auto mit drei Rä­dern“ – ge­ra­de die bei­den Ge­schäfts­part­ne­rin­nen am Ki­osk mit Tank­stel­le seit 1969 soll­ten wis­sen, dass es drei­räd­ri­ge Au­tos gab und gibt – bis in die 1970er-Jah­re hin­ein war zum Bei­spiel die BMW Iset­ta noch oft im Stras­sen­bild zu se­hen. Die bei­den Frau­en aber wol­len bloss wis­sen, dass es in Ita­li­en sol­che Mo­del­le gibt, ohne ge­naue­re Kennt­nis. Da spielt es im Sin­ne des Au­tors auch kei­ne Rol­le, dass eine Drei­er­be­zie­hung, von der die bei­den Frau­en re­den, als eine sol­che „über Kreuz“ be­zeich­net wird. Eine Lie­be ‹übers Kreuz› müss­te wohl eher vier Par­tei­en ha­ben, nicht drei.
So ver­passt Ca­men­isch auch zu­ver­läs­sig die Orte, an de­nen er punk­ten könn­te, etwa sei­ne bei­den weib­li­chen Haupt­per­so­nen be­tref­fend. Klar sagt Mar­grit ein­mal, sie wä­ren Exo­ten ge­we­sen, aber nicht etwa da­für, 1969 als Frau­enzwei­er­team ein Ge­schäft er­öff­net zu ha­ben, son­dern für eine Ba­na­li­tät: „Man stel­le sich vor, ein Ki­osk, sagt die Mar­grit, und gleich dazu noch eine Zapf­säu­le, und das im Jahr 1969, das war re­vo­lu­tio­när, Exo­ten wa­ren wir“. Wa­ren doch da­mals, als die Au­to­ben­zin­tanks noch klei­ner wa­ren und der Ki­lo­me­ter­ver­brauch grös­ser, die Zapf­säu­len an den Stras­sen in den Schwei­zer Al­pen kei­ne Sel­ten­heit. Und weil man als Be­sit­zer oder An­ge­stell­ter nicht im Kal­ten oder im Re­gen war­ten konn­te, bau­te man eben ei­nen klei­nen La­den oder Ki­osk dazu. Sie aber, die bei­den Frau­en, die ge­ra­de sag­ten, sie sei­en Exo­ten ge­we­sen, et­was, was es sel­ten gab, mei­nen dann noch, dass sie „eine Epo­che […] ge­prägt [hät­ten] mit un­se­rem Ki­osk mit Leucht­re­kla­me, das muss uns je­mand zu­erst mal nach­ma­chen.“ – Ja, ge­nau: Das ge­ziel­te Nach­ma­chen an­de­rer, also das Vor­bild-Sein wäre eben ge­ra­de die De­fi­ni­ti­on da­von, wie man eine Epo­che prägt! Hin­ge­gen wä­ren sie dann wie­der­um kei­ne Exo­ten. Man kann es dre­hen und wen­den wie man will: Es ist schlicht falsch.

Schlechte Roman-Recherchen

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Aber um noch­mals auf das zu­rück­zu­kom­men, was Mar­grit und Rosa-Ma­ria zu­ein­an­der nach 51 Jah­ren re­den. Meint doch die Mar­grit zu ih­rer Kol­le­gin, mit der sie über ein hal­bes Jahr­hun­dert dort ge­ar­bei­tet hat: „Da­für ist der Ser­vice top, sagt die Ma­ria, also wer hier tankt, be­kommt für ei­nen klei­nen Auf­preis auch gleich noch ei­nen Kaf­fee, den ha­ben wir im­mer pa­rat“. Ach so, möch­te man im Na­men der Kol­le­gin sa­gen, ich weiss: Ich bin seit 51 Jah­ren mit da­bei! Aber Rosa-Ma­ria scheint die De­menz zu ha­ben: „Aus­ser Ke­ro­sin gibt es hier al­les, und so­bald die Pis­to­le im Tank steckt und die gute Zapf­säu­le den Most hoch­pumpt, ge­hen die Zah­len auf der An­zei­ge durch und zäh­len dir auf den Rap­pen ge­nau, wie viel je­mand schon wie­der ge­tankt hat.“ Nicht wahr? Ich weiss! Aber es en­det kei­nes­wegs dort: „Den Kaf­fee gibt’s, wie be­reits ge­sagt, oben­drauf, der ist gra­tuit“. Nicht wahr?! (Aus­ser dass er zu­vor noch „ei­nen klei­nen Auf­preis“ kostete!)

Wirklichkeit falsch wiedergegeben

Tour de Suisse - Radrennen im Bündnerland - Glarean Magazin
Rad­ren­nen im Ge­bir­ge: Mehr­mals auch durch die Bünd­ner Surselva

Je nun, wir aber sind wei­ter beim Au­tor Ca­men­isch, der sich of­fen­sicht­lich auch nicht gut in­for­miert über The­men, die er nicht kennt. So meint er etwa, bei ei­ner Tour de Su­is­se soll­te an al­len Or­ten, die be­fah­ren wür­den und hei­kel sind, die Stras­sen vor­her neu ge­teert wer­den; man wol­le doch die Fah­rer nicht ge­fähr­den. Da­bei ist das so nicht der Fall; im Ge­gen­teil: Oft wer­den Stre­cken aus­ge­wählt, auf de­nen der Be­lag im Rang et­was aus­ma­chen kann, bei dem also fah­re­ri­sches Ge­schick ge­fragt ist. Zu­dem soll bei Ca­men­isch die Tour de Su­is­se nur ein ein­zi­ges Mal in der Sur­sel­va vor­bei­ge­kom­men sein, wenn man doch leicht nach­schau­en kann, dass dies seit 1969 mehr­mals der Fall war.
Dem Au­tor aber scheint so et­was egal zu sein; in ei­nem In­ter­view wun­dert er sich so­gar, dass es das Frucht­bon­bon ‹Sa­na­gol›, das 2020 im Buch noch ge­lutscht wird, seit 2002 nicht mehr gibt. Da ist dann auch das Lob der NZZ ein lee­res, wenn sie schreibt, der Au­tor hal­te in sei­nen Bü­chern ge­treu fest, wel­che Wel­ten al­les ver­schwän­den: Wer die­se so to­tal falsch dar­stellt, tut den ver­schwun­de­nen Wel­ten kei­nen Ge­fal­len, son­dern lässt sie eher noch mehr ver­schwin­den, weil man sich ih­rer nach der Lek­tü­re ver­mut­lich falsch er­in­nert (und es wäre ein Leich­tes ge­we­sen, die Frucht­bon­bons nur bis ins Jahr 2002 zu erwähnen).

Leg dich nicht mit den Sternen an“

Stützte wissenschaftlich das heliozentrische Weltbild von Kopernikus: Galileo Galilei
Stütz­te wis­sen­schaft­lich das he­lio­zen­tri­sche Welt­bild von Ko­per­ni­kus: Ga­li­leo Galilei

Da er­staunt es dann schon nicht mehr, dass der Au­tor selbst in­ner­halb der Ge­schich­ten Un­lo­gi­sches be­rich­tet: Ei­ner­seits schau­en die bei­den Da­men im­mer in die Un­ter­hal­tungs­ma­ga­zi­ne, die bei ih­nen aus­lie­gen. Und zwar quer durchs Sor­ti­ment. Sie sind stolz drauf, vie­les an­zu­bie­ten und selbst zu ken­nen. Und den­noch wis­sen sie nicht, was ein Elek­tro­ve­lo ist, ja, dass es über­haupt exis­tiert, als das ers­te Mal eine gan­ze Grup­pe äl­te­rer Da­men da­mit an ih­nen vor­bei­rauscht – also nicht etwa Exo­ten, son­dern zu ei­nem Zeit­punkt, als das eBike schon gang und gäbe ge­we­sen sein muss­te (eine Grup­pe äl­te­rer Damen).
Da mag es den meis­ten Le­se­rin­nen und Le­sern schon gar nicht mehr auf­fal­len, dass sich der Au­tor an ei­ner Stel­le, Sei­te 69, ei­gent­lich end­gül­tig selbst er­le­digt: „Schau dir den Ga­li­leo an, als der be­haup­te­te, die Welt sei eine Ku­gel und nicht eine Schei­be, hät­te man ihm am liebs­ten die Zun­ge raus­ge­schnit­ten. Ja, mit den Ster­nen soll­te man sich nicht anlegen.“ –
Hat der Mensch denn kei­ne Bil­dung? Dass die Welt eine Ku­gel ist, wuss­te man seit der An­ti­ke. Ga­li­leo hat le­dig­lich das Ko­per­ni­ka­ni­sche Welt­bild ver­tei­di­gen wol­len, dass die Erde sich um die Son­ne dre­he und nicht um­ge­kehrt. Da hät­te dann der zwei­te Satz von den Ster­nen auch Sinn ge­macht – nicht aber auf die Fla­cherde be­zo­gen! Und noch­mals: Klar könn­te das den Fi­gu­ren ab­sicht­lich in den Mund ge­legt wor­den sein. Aber dann traut der Au­tor den bei­den Frau­en wirk­lich nichts zu – und vor al­lem glau­be ich das bei all den an­de­ren Feh­lern ein­fach nicht.

Winter lang wie Autobahnen“

Winter lang wie Autobahnen - Arno Camenisch - Glarean Magazin
„Win­ter lang wie Au­to­bah­nen“ (Arno Camenisch)

Ach, da­nach quäl­te ich mich durchs Buch. Mal sind „Win­ter lang wie Au­to­bah­nen“ – also ein Zeit­mass wird durch ein Län­gen­mass aus­ge­drückt. Klar könn­te das eben ei­ner Fi­gur ge­schul­det sein; aber es hies­se den bei­den Frau­en als Er­zäh­ler echt nicht viel zu­zu­trau­en, wenn man sie wirk­lich alle die Ba­na­li­tä­ten und fal­schen Ver­glei­che sa­gen lies­se, durch die sie wie et­was dümm­li­che Men­schen her­über­kom­men. Oder soll­te das so­gar das Ziel sein?
Denn mei­ne Fra­ge nach der Er­zähl­si­tua­ti­on wird in der Mit­te des Bu­ches de­fi­ni­tiv ge­löst. Da kommt die Mar­grit „mit ei­ner Blech­büch­se in der Hand aus dem Ki­osk, schau dir die­ses schö­ne Foto an“. Sie zeigt es dar­auf­hin Rosa – und nur Rosa. Also wird wirk­lich nicht nach aus­sen be­rich­tet, son­dern es spricht eine Frau zur an­de­ren. Doch kann man an die­ser Stel­le eine De­menz auch aus­schlies­sen: Zu gut er­in­nern sich bei­de an die 51 Jah­re. War­um aber dann das Foto zei­gen, als der Ki­osk im Schnee ver­sank? Er­in­nern sich doch bei­de un­ge­fragt dar­an: „Als hät­ten die Hei­li­gen uns den schö­nen Ki­osk weg­ge­zau­bert, sagt die Rosa-Ma­ria.“ Und: „Da ha­ben wir schon noch ge­staunt, sagt die Mar­grit, als wir am Mor­gen über die Brü­cke ka­men“. Kann man sich die­sen Dia­log zwi­schen zwei Kol­le­gin­nen vor­stel­len, die seit 51 Jah­ren je­den Tag ne­ben­ein­an­der ar­bei­ten und al­les mit­ein­an­der erleben?
Ach, wie soll man da­nach zu Ende le­sen… Ich habe noch Kli­schees raus­ge­sucht. Und man sage mir nicht, dass dies al­les Wahr­hei­ten sein könn­ten; na­tür­lich kön­nen sie das; aber in die­ser Mas­se sind es eben wirk­lich nur noch Kli­schees: Da kauft der Pfar­rer Sex­hef­te; da neh­men die bei­den Frau­en kei­ne Tau­sen­der­no­ten an; da lei­det der Ki­osk an ei­ner Um­fah­rungs­stras­se, wo­durch die Kund­schaft weg­bleibt (aber an­de­rer­seits sei­en sie die Zen­tra­le des Dor­fes!); der Fo­to­graf aus dem Städt­li hat ein Glas­au­ge (haha); Rosa-Ma­ria trägt eine Bril­le mit Gold­rand; seit den neun­zi­ger Jah­ren gibt es kei­ne rich­ti­gen Win­ter mehr; und ob­wohl sie vor ei­ner Kur­ve ein Schild auf­stel­len, pas­sie­ren re­gel­mäs­sig Un­fäl­le (man sieht re­gel­recht die ko­mik­haf­te Si­tua­ti­on in ei­nem Trick­film); und „wenn die Wet­ter­frö­sche in den Nach­rich­ten sa­gen, dass es am nächs­ten Tag schneie, dann schif­fet es meis­tens“; und selbst­ver­ständ­lich fin­den die bei­den Frau­en, dass Au­tos ohne Ben­zin­mo­tor kei­ne rich­ti­gen Au­tos seien.

Metaphorische Spagate voller Klischees

Roman-Klischee - Pfarrer kauft Sexheftchen am Kiosk - Glarean Magazin
Das Ro­man-Kli­schee vom Pfar­rer, der am Ki­osk Sex­heft­chen kauft…

Aber auch das gebe ich auf und blät­te­re durchs Buch nur noch für deut­li­che Feh­ler: Etwa, dass Ca­men­isch im Jahr 1989 eine Kanu-Welt­meis­ter­schaft in Ta­va­na­sa statt­fin­den lässt. Nein! Es wa­ren die Ju­nio­ren da, und das fand 1990 statt. Klar, die bei­den Frau­en könn­ten sich im Jahr ge­täuscht ha­ben, aber der Au­tor lässt sie auch noch sich ver­ge­wis­sern: „Das weiss ich noch ge­nau, wir hat­ten näm­lich in je­nem Som­mer un­ser 20jähriges Ju­bi­lä­um. Stimmt, sagt die Mar­grit und nickt, zum 20Jährigen hat uns der Kos­mos das bes­te Jahr geschenkt“. –
Ach ge­nau, eso­te­risch ver­an­lagt sind die Frau­en auch noch. War­um? Weil das für Frau­en ty­pisch ist?! Aber Ca­men­isch lässt sie ja oben­drein noch glau­ben, dass wenn „ei­ner mit dem Schlauch [im Auto] drin“ los­fah­re, dann gäbe „das eine Ex­plo­si­on“. Und rech­nen kön­nen sie als von ei­nem Mann ge­schaf­fe­ne Fi­gu­ren in ei­nem Ro­man auch nicht: „Oh, wenn man mit zwan­zig an­fängt, ist man ein­und­fünf­zig Jah­re spä­ter knapp siebzig“!
Aber auch sprach­lich grei­fen sie, etwa bei Me­ta­phern, voll da­ne­ben. Also auch das mag ih­nen der Au­tor nicht gön­nen oder er merkt es selbst kei­nes­wegs: „Da ha­ben wir be­reits ziem­li­che Spa­ga­te ge­se­hen vor un­se­rem schö­nen Ki­osk, wenn es dar­um ging, et­was am Preis zu schrau­ben.“ Wie bit­te? Was soll da ein Spa­gat sein? Sie wol­len bloss et­was bil­li­ger. Nichts sonst. Bei ei­nem me­ta­pho­ri­schen Spa­gat ver­sucht man eben mit viel Mühe, zwei ge­gen­sätz­li­che Po­si­tio­nen zu über­brü­cken. Hier wol­len die Kun­den nur et­was bil­li­ger ha­ben, bas­ta. Da er­staunt die fa­sche Ver­wen­dung von „Jet-Set“ wahr­lich nicht mehr: „Jet-Set, sagt die Rosa-Ma­ria, wenn eben je­mand et­was über die Strän­ge schlägt und von ei­ner Par­ty zur nächs­ten schwebt.“ Denn: nein, mit Jet-Set ist eine be­stimm­te Ge­sell­schafts­schicht ge­meint. Dass die sich mehr Par­tys leis­ten kön­nen ist klar, aber nicht au­to­ma­tisch gemeint.

Der „Dichter des Dorfes“?

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Viel­leicht hät­te Arno Ca­men­isch bes­ser dar­an ge­tan, das Ki­osk-Ster­ben als ei­ge­ne per­sön­li­che Er­in­ne­rung zu de­kla­rie­ren, statt zwei Frau­en­fi­gu­ren ein­zu­füh­ren, de­ren sich Frau­en ei­gent­lich schä­men müs­sen. Zu­dem wä­ren dann die falsch er­in­ner­ten Zeit­er­eig­nis­se nicht so wich­tig. Und wie er sich im jetzt ge­druck­ten Buch noch selbst ein­bringt, ist ein­fach nur pein­lich. Da kommt er auf den Sei­ten 44 bis 47 vor als „der Sohn vom Tini“, der „Poet“ (!) ge­wor­den ist, aber trotz­dem „ein lie­ber Kerl“ ge­blie­ben sei, der im­mer freund­lich grüsst. Auf Sei­te 46 ist er dann der Sohn von Ber­na­detta, „also die Mut­ter vom Dich­ter“ (!), die es, ach, „in der Tat nicht“ etwa „ein­fach“ ge­habt hat. Jaja. Und Sei­te 71 zi­tiert Ca­men­isch sich dann gleich noch sel­ber, weil er ja „der Dich­ter“ des Dor­fes ist (ob­wohl er längst nicht mehr dort wohnt).

Welpenschutz bei der Literaturkritik

Jährlich erhalten 15 Nachwuchsschriftsteller die Möglichkeit zu einem 3-jährigen Studiengang "Literarisches Schreiben": Das Schweizerische Literaturinstitut in Biel
Jähr­lich er­hal­ten 15 Nach­wuchs­schrift­stel­ler die Mög­lich­keit zu ei­nem 3-jäh­ri­gen Stu­di­en­gang „Li­te­ra­ri­sches Schrei­ben“: Das Schwei­ze­ri­sche Li­te­ra­tur­in­sti­tut in Biel

Als ich mit die­ser Be­ur­tei­lung bis hier­hin ge­kom­men bin, er­fah­re ich, dass Arno Ca­men­isch nicht in die Short List des Deut­schen Buch­prei­ses auf­ge­nom­men wor­den ist. Ich atme et­was auf: Die Ju­ro­ren sind also wie ge­dacht nicht völ­lig ver­blen­det (wenn ich auch die Auf­nah­me in die Long List nach wie vor nicht ver­ste­he – viel­leicht braucht es ei­nen be­stimm­ten Schweiz-An­teil bei den Kan­di­da­ten; wenn aber alle am Schwei­ze­ri­schen Li­te­ra­tur­in­sti­tut in Biel Aus­ge­bil­de­ten so schrei­ben, ist es mit der Schwei­zer Schreib­kunst nicht weit her – und im­mer­hin wird Ca­men­isch von der An­stalt im­mer wie­der als Mus­ter­ab­gän­ger her­um­ge­reicht, was ei­ni­ges über das Li­te­ra­tur­in­sti­tut aus­sagt). Auch nicht durch die Auf­la­gen­zah­len ver­blen­det (die man dem Buch üb­ri­gens – Au­tor und Ver­le­ger ha­ben sich wahr­lich ge­fun­den – nicht ent­neh­men kann; der Klap­pen­text weist üb­ri­gens bei der In­halts­an­ga­be eben­falls meh­re­re Feh­ler auf; zu­dem über­sieht der Ver­le­ger, der in Per­so­nal­uni­on Lek­tor des Bu­ches ist, sol­che Feh­ler wie „der Prä­si­dent Ba­ha­mas“ [rec­te: der Bahamas]).
Doch spricht der In­stant-Er­folg (Ver­kaufs­zah­len, Bes­ten-Lis­ten; Long­list) und die be­reits kurz da­nach ab­neh­men­de An­er­ken­nung (nicht auf der Short­list; nicht mehr auf den Bes­ten-Lis­ten; an­ge­deu­te­te Ver­ris­se im Ber­ner ‹Bund› [„da steht ei­ner in der Li­te­ra­tur­kri­tik un­ter Wel­pen­schutz, schreibt je­des Jahr den glei­chen Ro­man, und kei­ner sagt was?“; 19.09.2020)] ja auch für sich: Der Jahr­hun­der­t­ro­man „Ulys­ses“ ver­kauf­te sich in den ers­ten Jah­ren kaum, wäh­rend Co­lin Ross ei­ner der best­ver­kauf­ten Schrift­stel­ler in den 1920er-Jah­ren war. – Wer? Genau!

Unkritisches Lesen als Defekt im Leben

Bleibt für den zu­stim­men­den Le­ser und die zu­stim­men­de Le­se­rin noch das schein­ba­re Glück beim Le­sen. Aber Ach­tung: Da die Spra­che das ent­schei­den­de Kri­te­ri­um in ei­nem Sprach­kunst­werk ist, das so­gar al­les an­de­re mit­ent­hält, ist Kitsch, also sind Kli­schees und stän­dig sich wie­der­ho­len­de Flos­keln nicht bloss eine äs­the­ti­sche Ka­te­go­rie, son­dern auch eine ethi­sche, eine ge­schichts­kri­ti­sche, eine le­bens­kri­ti­sche Ka­te­go­rie. Ge­füh­le, Be­wusst­seins­zu­stän­de, das Den­ken und Han­deln, ja, ein gan­zes Men­schen­da­sein kann ver­kitscht sein.
Wer solch ein Buch wie „Gol­de­ne Jah­re“ von Arno Ca­men­isch un­kri­tisch liest und sich dar­über freut, dem sitzt der De­fekt letzt­lich im Le­ben. Oder der an­er­zieht sich ei­nen sol­chen mit der Lek­tü­re. Und das ist ei­gent­lich eben­so schlimm wie die Ver­brei­tung von Fake News. Da­für schä­me ich mich als Schwei­zer Kollege.

Eine Dorfwelt ohne Dorf

Die Tavanasa-Bahnstation bei Breil/Brigels in der Surselva
Die Ta­va­na­sa-Bahn­sta­ti­on bei Breil/Brigels in der Surselva

Und des­we­gen grei­fe ich hier auch zur me­ta­pho­ri­schen Fe­der: Wenn die Kri­ti­ker solch ei­nen Ro­man lo­ben, muss man doch mal auf­zei­gen, was un­ter an­de­rem dar­an al­les falsch ist. Heisst es doch un­ter an­de­rem über die­ses Buch, der Ki­osk sei in die­ser Ge­schich­te wirk­lich die Zen­tra­le im Dorf. Das lässt sich aus dem Ro­man aber ge­ra­de nicht schlies­sen: In der gan­zen Er­zähl­zeit kommt kein Kun­de vor­bei (nur in Er­in­ne­run­gen). Oder an­de­re mei­nen, Ca­men­isch sei ein „sprach­ge­wal­ti­ger Schrift­stel­ler“. Sprach­ge­wal­tig? Wer auf ei­ner hal­ben Sei­te die bei­den Frau­en drei Mal als sich ‹schüt­telnd› be­schreibt! Also so: „Es schüt­telt sie“; und zwei Zei­len wei­ter: „Die Mar­grit schüt­telt es vor La­chen“; zwei Zei­len wei­ter: „es schüt­telt sie“ – und nein, das lässt sich de­fi­ni­tiv nicht mehr auf die Fi­gu­ren schieben.
Aber auch ein wei­te­res Lob stimmt da nicht: Ca­men­isch be­schrei­be die Dorf­welt ei­nes Dor­fes der Sur­sel­va wie kaum ei­ner: Da­bei kommt das Dorf prak­tisch nicht vor; der Ki­osk steht wie in ei­ner lee­ren Welt. Aber selbst von der Ki­osk-Welt, von der über­all ge­lobt wird, der Au­tor zei­ge ihr Ver­schwin­den auf, spürt und liest man kaum et­was: Es ist, als wä­ren in die­sen 51 Jah­ren kei­ne Än­de­run­gen auf­ge­tre­ten. Man fin­det nichts da­von, dass heu­te die Lot­te­rie-Aus­wer­tun­gen di­gi­tal ab­lau­fen, nichts da­von, dass heut­zu­ta­ge wirk­li­che Ki­osk-Be­sit­zer oft kla­gen, dass sie für Pa­ket­diens­te die gan­zen Pa­ke­te zu­rück­neh­men müs­sen, ob­wohl an den meis­ten Or­ten dazu der Platz fehlt. So steht denn bei den über 70-Jäh­ri­gen Ki­osk­be­sit­ze­rin­nen auch nichts und nie et­was von Krank­hei­ten, die sie hin­dern wür­den, die har­ten Schich­ten durchzustehen.

Was stimmt nicht mit der Schweizer Literatur?

Am Ende be­schleicht ei­nen echt das Ge­fühl: Da hat ei­ner ein­fach noch kurz was auf­ge­schrie­ben, an was er sich beim Ki­osk so er­in­nert, also eine sehr spe­zi­fi­sche Er­in­ne­rung ei­ner ein­zel­nen Per­son, ver­brämt mit et­was Ei­gen­lob („Der Schnauz ist der Ti­ger vom Den­ker“, Sei­te 71) und mit ei­ni­gen Ge­schich­ten, die wohl cool wir­ken sol­len aber so was von un­au­then­tisch sind, dass man nicht ver­steht, wie so et­was je ger­ne ge­le­sen wer­den könnte.
Und man ver­steht also nicht, war­um solch ein Buch sich gut ver­kau­fen kann und noch we­ni­ger, war­um es die meis­ten Kri­ti­ker nicht ver­reis­sen. Ir­gend et­was stimmt hier ein­fach nicht. ♦

Arno Ca­men­isch: Gol­de­ne Jah­re – Ro­man, 100 Sei­ten, En­ge­ler Ver­lag, ISBN 978-3-906050-36-2


Dr. Do­mi­nik Riedo

Geb. 1974 in Luzern/CH, Aus­bil­dung zum Pri­mar­leh­rer, an­schlies­send Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik und Phi­lo­so­phie, Pro­mo­ti­on und Gym­na­si­al­leh­rer­schaft in Stans und Im­mensee, 2007-2009 „Kul­tur­mi­nis­ter der Schweiz“ mit­tels In­ter­net-Wahl aus 25 Kan­di­da­ten, di­ver­se kul­tur­po­li­ti­sche Ak­ti­vi­tä­ten, zahl­rei­che bel­le­tris­ti­sche Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zei­tun­gen, li­te­ra­ri­sche und kul­tu­rel­le Aus­zeich­nun­gen, lebt als frei­er Schrift­stel­ler in Ittigen/Bern

Le­sen Sie im GLAREAN MAGAZIN zum The­ma Li­te­ra­tur­be­trieb auch von Ma­rio An­dreot­ti: Kunst geht nach Brot

… so­wie wei­te­re Bei­trä­ge von Schwei­zer Au­torin­nen und Autoren


25 Kommentare

  1. An die­sem Punk­te scheint die Dis­kus­si­on er­schöpft, der Ar­gu­men­te sind wohl ge­nug ausgetauscht.
    Die Kom­men­tie­rung hier ist da­mit be­en­det. Vie­len Dank al­len Kommentator(inn)en für den en­ga­gier­ten Diskurs!

  2. Ich muss Herrn Neu­mann (sie­he un­ten) ein biss­chen recht ge­ben: Man prü­gelt hier auf ei­nen land­auf, land­ab sehr ge­schätz­ten und auch von der Kri­tik ge­lob­ten Schwei­zer Er­zäh­ler ein – nur weil Herr Rie­do meint, sich hier als Erb­sen­zäh­ler in Sze­ne set­zen zu müs­sen. Aber mei­nes Er­ach­tens sieht er vor lau­ter Bäu­men den Wald nicht mehr. Ein­zel­hei­ten sind ja gut und recht, aber hier wird das Kind mit dem Bade aus­ge­schütt­tet. We­gen ein paar „kleins­ten De­tails“ (sie­he De­sch­ner-Zi­tat) gleich zu ei­nem kom­plet­ten Rund­um-Kahl­schlag aus­zu­ho­len sprengt jede li­te­ra­tur­kri­ti­sche Ver­hält­nis­mäs­sig­keit. Ich für mei­nen Teil blei­be ein Ca­men­isch-Fan, und bis jetzt hät­te ich auch nicht ge­merkt, dass mein Le­ben ei­nen „De­fekt“ er­hal­ten hät­te we­gen mei­ner Ca­men­isch-Lek­tü­re… Da misst man m.E. der Li­te­ra­tur denn doch zu viel Be­deu­tung bei. Kurz­um, Herr Rie­do schiesst da m.E. weit übers Ziel hin­aus. Nur mei­ne Mei­nung. Eva Steiner

  3. Aber wir wa­gen es auch zu sa­gen, dass dem ein­ge­schlif­fe­nen Ca­men­isch-Mus­ter die Über­ra­schungs­kraft ab­geht. / In­klu­si­ve des Bünd­ner Dia­lekt­ein­schubs, der sich EBA (haha) schon noch (nicht mehr) gut macht. / All die­se Men­schen wir­ken wie Va­ri­an­ten des im­mer Glei­chen. Die Spra­che ist ähn­lich, der Duk­tus ist ähn­lich, die Men­ta­li­tät und das Tem­pe­ra­ment sind es auch. (Was auch heisst, dass es ei­gent­lich im­mer qua­si die­sel­be Fi­gur ist; die bei­den Frau­en in „Gol­de­ne Jah­re“ sind un­ter­ein­an­der aus­tausch­bar; und man sage nicht, das ’sei der Witz dran‘! Und das meint auch, dass wenn ein Buch schlecht ist, ei­gent­lich alle schlecht sind.) / Da heisst es dann von der Leh­re­rin Tan­te Tre­sa, sie sei PFIFFAGRAD (haha) ge­we­sen, und schon auf der neun­ten Zei­le ist von FARRUCT (hihi) gu­ten Nach­rich­ten die Rede. / Nur: Eine Ge­schich­te ist das nicht.“
    https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/abwarten-was-der-abwart-macht/story/28589207

  4. Oh wow. End­lich sagt je­mand mal, was schon län­ge ge­sagt wer­den soll­te. Da schreibt Ca­men­isch ei­nen glei­chen Ro­man nach dem an­de­ren, und alle sind sie gleich schlecht. Bra­vo, Herr Rie­do, dass Sie end­lich auch mal sa­gen, wie es mit den Ju­rys hier in der Schweiz und die Kri­ti­kern aus­sieht! Wenn man Ihre ge­naue Ana­ly­se auf­merk­sam durch­liest, ist Arno Ca­men­isch als Schrift­stel­ler ei­gent­lich wirk­lich erledigt.

    • Also lie­be Leu­te, die­ses Ca­men­isch-Bas­hing hier mu­tet schon ku­ri­os an. Will man den Schrift­stel­ler Arno Ca­men­isch tat­säch­lich „er­le­digt“ se­hen? Ei­nen höchst pro­duk­ti­ven Er­zäh­ler, der ei­nen „Fan-Kreis“ hat, von dem ein Do­mi­nik Rie­do wohl nur träu­men kann (sor­ry)…
      Kann denn ein Au­tor nicht auch mal qua­si ein schlech­tes Buch ha­ben, so wie wir alle zu­wei­len ei­nen schlech­ten Tag ha­ben? Auf ei­nem ein­zi­gen Buch her­um­zu­rei­ten, ohne das gan­ze Werk zu wür­di­gen, ist eher schlech­ter Stil, wirklich!

      • Sehr ge­ehr­ter Herr Neumann
        A) Doch, man dürf­te sehr wohl ’nur‘ ein ein­zi­ges Werk be­han­deln. Müs­sen denn sonst alle Re­zen­sen­ten ei­nes neu­en Bu­ches im­mer zu­erst alle be­reits er­schie­ne­nen durch­kau­en, be­vor sie zum neu­en kom­men?; oder soll ein Schrift­stel­ler ei­nen Li­te­ra­tur­preis er­hal­ten für ein neu­es Werk, weil sei­ne al­ten alle recht gut wa­ren? (Und Sie ge­ben also zu, dass dies ein schlech­tes Buch ist: Danke!)
        B) Ich be­hand­le an sich mehr als ‚ei­nes‘: Dies Werk ist – wie ein Re­zen­sent es for­mu­lie­ren woll­te – Teil ei­nes gros­sen Ge­samt­werks des Bünd­ne­ri­schen, wie bei Bal­zac, drum dür­fe Ca­men­isch auch im­mer gleich schrei­ben und vor­ge­hen; was aber auch heisst, dass wenn dies Werk eine Ka­ta­stro­phe ist, halt auch die an­de­ren zu­min­dest schlecht sind. Oder an­ders ge­sagt: Das soll die Krö­nung sein von zehn ge­schrie­be­nen Ro­ma­nen oder so (auf ei­nes oder zwei drei mehr oder we­ni­ger kommt es of­fen­bar nicht an)?
        C) Ich hat­te in mei­nem Blog (https://dominikriedo.blogspot.com) schon mal Ca­men­isch – ein an­de­res Buch – kri­ti­siert, wo er den Satz schrieb: „Der Senn sitzt am Steu­er sei­nes grau­en Jus­tys am spä­ten Abend ne­ben der Hüt­te mit dem Zwetsch­ge­n­was­ser in der Hand.“ und frag­te: Wer bit­te sitzt wo und vor al­lem wer bit­te hat das Zwetsch­ge­n­was­ser in der Hand? Es zeigt auf je­den Fall, dass da je­mand nicht schrei­ben kann. Ein Zei­chen da­für ist auch eine Aus­sa­ge sei­nes Men­tors, der da­zu­mal her­aus­ge­las­sen hat: „Arno ist ganz nah bei sei­nen Men­schen, die­sen Ber­gen. Nahe bei sei­nem Blut. Das spürt man so­fort.“ Eine Aus­sa­ge, die sämt­li­che Alarm­glo­cken schril­len las­sen soll­te! So ein Lob – zu­min­dest ei­nes Men­tors – sagt auch et­was über den Schrift­stel­ler aus.
        D) Ein gros­ser Fan­kreis sag­te noch nie viel. Auf Bei­spie­le ver­zich­te ich.
        E) Mit Neid zu ar­gu­men­tie­ren ist im­mer bil­lig (mehr Le­ser etc.); Sie ver­wech­seln auch mei­ne Rol­le als Kri­ti­ker mit je­ner des Schriftstellers.
        F) Ich möch­te sol­che Bü­cher er­le­digt se­hen, ohne An­füh­rungs­zei­chen. Sie ver­gif­ten den Buch­markt. Oder möch­te sie zu­min­dest nicht so be­lobt und be­prie­sen se­hen. Ich möch­te, dass an­de­re Kri­ti­ker ge­nau­er hinsehen.

      • Jetzt ist mir der Lap­sus pas­siert, dass ich schrieb: „Teil ei­nes gros­sen Ge­samt­werks des Bünd­ne­ri­schen, wie bei Bal­zac“, wenn es doch heis­sen soll­te: Teil ei­nes gros­sen Ge­samt­werks (wie bei Bal­zac) des Bünd­ne­ri­schen … – Aber sol­che Kom­men­ta­re sind eben nie so durch­sti­li­siert und kor­ri­giert wie Bü­cher sein soll­ten. – Und ab jetzt ver­zich­te ich wirk­lich auf Kom­men­ta­re. Wer mag, darf mir pri­vat schrei­ben oder mich als Kri­ti­ker anstellen. 😉

      • Ich war an ei­ner Le­sung. Und ich habe mich sel­ten so ge­lang­weilt. Ich er­in­ne­re mich nur, dass Herr Ca­men­ischs Text mir viel zu vie­le Sim­pli­zis­men, Plat­ti­tü­den und Hel­ve­tis­men ent­hielt, also we­der in­halt­lich noch sprach­lich ein High­light war.
        Die Art des Vor­trags be­frem­de­te mich auch zu­neh­mend, so ein Ge­rau­ne, ein un­heil­schwan­ge­res Dra­ma­ti­sie­ren, wo es über­haupt nicht hin­pass­te – im Gros­sen und Gan­zen so eine künst­li­che At­ti­tü­de, Mich mu­te­te sein Vor­trag an, als wür­de er ei­nem kind­li­chen Pu­bli­kum ein Schau­er­mär­chen vor­le­sen, was aber we­der zum Text noch zum Pu­bli­kum passte.
        Ich konn­te es nicht fas­sen, dass das Pu­bli­kum an­schei­nend sehr an­ge­tan war. Sel­ten er­schien mir eine Stun­de so lang und lang­wei­lig. Es war ein­fach nur peinlich.

      • Sie ha­ben eine har­te Kri­tik for­mu­liert, aber sie liest sich for­mi­da­bel und ist auf je­den Fall fun­diert. Der­lei spielt heu­te aber lei­der eine ge­rin­ge Rol­le, ist doch die Li­te­ra­tur, wie auch der jüngs­te «Li­te­ra­tur-Club» be­wie­sen hat, zu ei­ner ein­fa­chen Un­ter­hal­tung für noch ein­fa­che­re Ge­mü­ter ver­kom­men. Der­lei lässt sich kurz­fris­tig nicht stop­pen, wohl aber we­nigs­tens früh er­ken­nen. In die­sem Sin­ne dan­ke ich Ih­nen für Ihre ech­te Mühe, die den Glau­ben dar­an er­hält, es gäbe noch In­seln, wo Fä­hig­keit und Er­kennt­nis zusammenfallen.

      • Lie­ber Herr Riedo,
        Dass ist end­lich ein­mal ein Ver­riss, der sich ge­wa­schen hat! Kein Skal­pell, nicht mal das be­rühm­te Schwei­zer Ta­schen­mes­ser – hier wur­de mit der Keu­le (Schwei­zer Gra­nit? Al­pen-Kalk­stein?) herz­haft zugeschlagen!
        Ich hat­te je­den­falls ei­nen Rie­sen-Le­se­spaß! (Aber na­tür­lich auch die­ses Grum­meln in Hirn und Bauch, weil es so [zu] vie­le schlech­te Bü­cher gibt, die hoch ge­lobt werden …)
        Also: vie­len, vie­len Dank! (Sie ha­ben das Glück, so weit ent­fernt zu le­ben – sonst wä­ren Sie von ei­ner al­ten Frau herz­haft um­armt worden!)

  5. Auch wenn Arits­to­te­les den Be­griff der „Wahr­schein­lich­keit“ in der Li­te­ra­tur vor al­lem mit dem Be­griff der Not­wen­dig­keit ver­quickt und von die­ser Prä­mis­se aus das Spiel von Fik­ti­on und Rea­li­tät nicht hin­ter­trei­ben will, so ist doch der Be­zug zur Wirk­lich­keit ein wich­ti­ges Mit­tel ehr­li­cher Über­zeu­gungs­kraft auch in fik­tio­na­len Tex­ten. Gros­se Schrift­stel­ler wie Proust oder Tho­mas Mann wuss­ten sehr wohl, war­um sie auch den prak­tisch-fak­ti­schen Rea­li­täts­ge­halt ih­rer Tex­te im­mer wie­der ge­nau über­prüf­ten. Er ist ge­ra­de im Zeit­al­ter der Fake-News von un­schätz­ba­rem Wert. Will sa­gen: Arno Ca­men­isch, der ja gut er­zählt und auch sym­part­hisch auf­tritt, könn­te viel Op­ti­mie­rungs­po­ten­zi­al ge­win­nen, wenn er Do­mi­nik Rie­dos klu­ge Be­mer­kun­gen sich zu Her­zen näh­me. Es geht um die Spra­che un­ter dem Ge­sichts­punkt der Wirk­lich­keit­ab­bil­dung oder -spie­ge­lung. Das ist ja auch ihre Haupt­funk­ti­on; die Or­tho­gra­fie ist von da her nur ihre gra­phi­sche Über­mitt­lungs­kon­ven­ti­on, nicht die Spra­che sel­ber. Oh­ne­hin: Wem pas­sie­ren nicht zu­wei­len Tippfehler?!

    Da­ni­el An­nen, Schwyz

  6. Also ei­gent­lich gibt es da nicht mehr viel zu sa­gen. Arno Ca­men­isch müss­te da­mit bei Ju­rys und Gre­mi­en voll­kom­men un­ten­durch sein. Viel­leicht nimmt er es als Chan­ce, das nächs­te Mal ei­nen bes­se­ren Ro­man zu schrei­ben. Gra­tu­lie­re, Herr Rie­do, ein un­glaub­lich gu­ter Text und eine vor­bild­li­che Analyse.

  7. (…)dass sie für Pa­ket­diens­te die gan­zen Pak­te zu­rück­neh­men müs­sen, ob­wohl an den meis­ten Or­ten dazu der Platz fehlt.”

    Was mei­nen Sie da, ver­mut­lich „die gan­zen Pak[e]te”?

    Woll­te nur mal ge­fragt ha­ben, da ich es mit der Spra­che ge­nau nehme.
    Es geht ja so viel durch heu­te, vor al­lem im Netz, was über­haupt nicht mehr Kor­rek­tur ge­le­sen wird und je­dem Sinn, Ver­stand oder Em­pa­thie­ver­mö­gen entbehrt.

    • Schön, lie­be Frau, dass Sie le­sen und rech­nen können.
      Aber ei­nes win­zi­gen Tipp­feh­lers we­gen wür­de ich sol­che gros­sen Wor­te wie „Sinn“, „Ver­stand“ oder „Em­pa­thie“ nicht in den Mund nehmen 😉
      Da­von ab­ge­se­hen hal­ten wir’s wie alle Me­di­en: Wer ei­nen Tipp­feh­ler fin­det, darf ihn behalten 🙂
      Der Kor­rek­tor

      PS: Trotz­dem dan­ke für den Hin­weis – ist in­zwi­schen korrigiert.

    • Wenn Sie es schon ge­nau neh­men wol­len, so ver­langt „ent­beh­ren“ in die­ser Ver­wen­dung den Ge­ni­tiv. Und das ist im Ge­gen­satz zu Herrn Rie­dos „Pak­ten“ kein blos­ser Vertipper.

    • Ich woll­te ei­gent­lich nicht mehr ant­wor­ten (ich habe es mir zur Re­gel ge­macht, nur ei­nen Tag lang in sol­chen Fo­ren zu ant­wor­ten, weil ich ja als frei­schaf­fen­der Mensch nicht die Zeit habe, noch nach Ta­gen im­mer wie­der mich mit den­sel­ben Sä­chel­chen zu be­schäf­ti­gen. Aber a) ist das hier ja eine an sich wirk­lich wich­ti­ge­re Sa­che [eben: weil of­fen­bar die meis­ten Kri­ti­ker ent­we­der nicht le­sen – oft ha­ben sie die Zeit auch nicht mehr -; oder ab­schrei­ben, was der Kollege/die Kol­le­gin vor ih­nen ge­schrie­ben hat. Nie­mand hat so eine ge­naue Ana­ly­se ge­macht wie ich, höchs­tens noch mein Kol­le­ge hier: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=27213, der zeigt, dass Ca­men­ischs Mund­ar­t­ein­spreng­sel bei den Fi­gu­ren nicht cha­rak­ter­for­mend an­ge­wen­det wer­den, son­dern nur mal so hier und da ein­ge­streut wer­den] und b) muss ich mal grund­sätz­lich et­was sa­gen, was lo­gisch sein soll­te, aber oft so vor­kommt:) Da fin­den Sie also EINEN TIPPFEHLER, und mei­nen dann, mich even­tu­ell wi­der­legt zu ha­ben?! Wäh­rend Ca­men­isch nicht mal den Un­ter­schied zwi­schen Fla­cherden­wi­der­le­gern und den Ver­tei­di­gern des He­lio­zen­tri­schen Welt­bil­des kennt bzw. sich we­nigs­tens die Mühe macht, das nach­zu­schau­en! Und er macht all die an­de­ren Feh­ler – no­ta­be­ne in ei­nem Buch, das mehr­mals Kor­rek­tur ge­le­sen wer­den soll­te, was bei ei­ner Web­site ein­fach kaum ge­leis­tet wer­den kann, von den Res­sour­cen her … Also dann: Na Prost Abend­land – das es so ei­gent­lich nie ge­ge­ben hat (zu­min­dest kein christliches)!!

  8. Lie­ber Herr Do­mi­nik Riedo

    Zu­stim­men muss man Ih­nen dar­in, dass hin­sicht­lich Spra­che und Nar­ra­ti­on die­ser Ro­man of­fen­bar schon ei­nen ge­wis­sen schrift­stel­le­ri­schen Di­let­tan­tis­mus sei­nes Au­tors nicht ver­heim­li­chen kann. Die zahl­rei­chen Buch-Zi­ta­te, die Sie in Ih­rer Re­zen­si­on an­füh­ren, do­ku­men­tie­ren das ja schonungslos.

    An­de­rer­seits: Soll man wirk­lich die Be­deu­tung ei­nes Bu­ches al­lein an an sei­ner sprach­li­chen Qua­li­tät fest­ma­chen? Sind denn nicht die Wär­me sei­ner Fi­gu­ren, die Au­then­zi­tät der Land­schaft­schil­de­run­gen, die Na­tür­lich­keit ei­nes „live“ er­fah­re­nen Re­gio­nal­ko­lo­rits, das „in­ter­ne“ Be­zugs­netz der Prot­ago­nis­ten, die nach­voll­zieh­ba­re Schil­de­rung his­to­ri­scher oder auch ak­tu­el­ler ge­sell­schaft­li­cher Ver­hält­nis­se (oder auch Ver­häng­nis­se) nicht auch ganz we­sent­li­che Pa­ra­me­ter des „Le­se­ver­gnü­gens“ – Pa­ra­me­ter, die von Ih­ren Be­spre­chung kom­plett aus­ge­blen­det werden?

    Kurz­um: Ist der Blick des Ger­ma­nis­ten wirk­lich der ein­zig wah­re, oder hat der Blick des (mög­li­cher­wei­se un­aka­de­mi­schen) Le­sers nicht auch sei­ne gleich­be­rech­tig­te Be­deu­tung, wenn es gilt, die Qua­li­tät ei­nes Ro­ma­nes einzuordnen?

    Gruss aus Deutsch­land in die Schweiz: A. Gruber

    • Lie­ber Axel G.

      Ich kann Ihre Mei­nung schon nach­voll­zie­hen. Aber wie ge­sagt fin­de ich, dass wenn ein Buch der­art falsch ist, wie das hier Re­zen­sier­te, dass es eben im De­sch­ner­schen Sin­ne eine Le­se­rin und ei­nen Le­ser verdirbt.
      Ge­ra­de der von Ih­nen er­wähn­te Di­let­tan­tis­mus (und Schrift­stel­ler soll­ten doch Pro­fis sein, weil sonst wirk­lich alle schrei­ben könn­ten; aus­ser­dem hat Ca­men­isch ja eine Aus­bil­dung zum Schrift­stel­ler ab­sol­viert) öff­net Tür und Tor zu ei­ner Un­fä­hig­keit, je be­ur­tei­len zu kön­nen, was gute oder schlech­te Li­te­ra­tur sei bzw. viel­leicht noch wich­ti­ger, was News und was Fake News (oder schlicht schlech­ter Jour­na­lis­mus; ge­ra­de bei der schlam­pi­gen Re­cher­che ha­ben wir ja bei Ca­men­isch die Parallele).
      Des Wei­te­ren ma­che ich gar nicht al­les am Sprach­li­chen fest: Die Fi­gu­ren, die sich stän­dig wie­der­ho­len und wirk­lich qua­si als Ka­ri­ka­tu­ren von Frau­en ge­zeich­net sind, kann man doch nicht als warm emp­fin­den. Und be­tref­fend Land­schafts­schil­de­run­gen: Wo denn in die­sem Buch fin­den Sie meh­re­re gross­ar­ti­ge Land­schafts­schil­de­run­gen, wo? Al­les wie­der­holt sich in den­sel­ben Ad­jek­ti­ven und Bildern.
      Und zum Lo­kal­ko­lo­rit: Er wird ge­ra­de nicht für eine Poin­te ein­ge­setzt, wo­für es sich so gut eig­nen wür­de – man sehe etwa Fried­rich Glau­ser. Der zeich­net auch Fi­gu­ren mit we­ni­gen Mund­art­be­grif­fen prä­zis, wäh­rend bei Ca­men­isch ein­fach im­mer wie­der ein „sep scho nid“ oder „sep denn scho“ zu hören/lesen bekommt.
      Und wenn His­to­ri­sches (Sa­na­gol; WM) falsch dar­ge­stellt wer­den, dann wird da doch ein völ­lig fal­sches Be­zugs­netz ge­zeigt (im Sin­ne von „Die Nacht war dun­kel, der Mond schien hel­le.“) Dazu sagt Ca­men­isch eben prak­tisch nichts von der Ki­oskwelt von heute.
      Zum Le­se­ver­gnü­gen und dem dar­in sit­zen­den De­fekt habe ich mich geäussert.
      Zu­sam­men­ga­fasst habe ich also nicht bloss al­les sprach­lich fest­ge­macht, son­dern eben als Ger­ma­nist ge­schrie­ben, der auch Schrift­stel­ler ist (ob­wohl hier die eine Rol­le wich­ti­ger ist, lässt sich das Ge­fühl der an­de­ren nicht ganz verleugnen).
      Wir müs­sen schon auf­pas­sen, dass wir nicht bloss ei­nes Lo­kal­ko­lo­rits we­gen je­den Text ak­zep­tie­ren, nur weil wir die­se Lo­ka­li­tät mögen.

    • Sie fra­gen: „Ist der Blick des Ger­ma­nis­ten wirk­lich der ein­zig wah­re, oder hat der Blick des (mög­li­cher­wei­se un­aka­de­mi­schen) Le­sers nicht auch sei­ne gleich­be­rech­tig­te Be­deu­tung, wenn es gilt, die Qua­li­tät ei­nes Ro­ma­nes einzuordnen?“
      Nun, Ham­bur­gers von McDonald’s schme­cken auch vie­len Men­schen. Da­ge­gen ist zu­nächst mal nichts ein­zu­wen­den. Bei der Fra­ge, ob das denn nun gute Kü­che sei, wür­de man aber auch nicht auf die­se Per­so­nen hö­ren, son­dern auf Leu­te, die von der Ku­li­na­rik et­was ver­ste­hen. Das­sel­be gilt eben auch in den Küns­ten. Sonst wä­ren näm­lich auch Arzt­ro­ma­ne gute Literatur.
      Es ist ein­fach so, dass man, um die Qua­li­tät ei­nes Ro­ma­nes ein­ord­nen zu kön­nen, viel mehr und un­ter­schied­li­che Li­te­ra­tur ge­le­sen ha­ben muss als der durch­schnitt­li­che, un­be­darf­te Le­ser. Der kann höchs­tens sa­gen, dass es ihm ge­fällt oder nicht, aber er kann es in der Re­gel nicht ge­nau ver­or­ten und einordnen.
      Dazu muss man nicht a prio­ri Ger­ma­nist oder Aka­de­mi­ker sein. Es gibt auch sehr be­le­se­ne Nicht-Aka­de­mi­ker (wie es auch un­be­le­se­ne Aka­de­mi­ker und so­gar Ger­ma­nis­ten gibt). Aber selbst ein fleis­si­ger Ge­le­gen­heits­le­ser macht ge­gen­über dem Be­rufs­le­ser schlicht­weg den Zweiten.

  9. Brav und toll! Ich fin­de den Kri­ti­ker ganz rich­tig und genau.
    Ich möch­te mei­ne Mei­nung auf Eng­lisch sa­gen, denn das Schrei­ben auf Deutsch ist für mich nicht so ein­fach wie das Le­sen. Ja, die deut­sche Grammatik!

    Hol­ding a Best­sel­ler title does not mean so much sin­ce li­te­ra­tu­re has been com­mer­cia­li­zed by busi­ness­men who were none ex­perts in li­te­ra­tu­re and do not sim­ply un­der­stand the va­lue and mis­si­on of li­te­ra­tu­re. It is ac­tual­ly very sad how wrong li­te­ra­tu­re and wri­ters could mis­lead the world. Li­te­ra­tu­re is food for people’s minds; And wrong food would cau­se food-poi­so­ning, no?! What I say is: Best­sel­lers are not al­ways right and with wrong best­sel­lers we will have a sick so­cie­ty, indeed!

    M. Ghor­ba­ni

  10. Ich fin­de, Herr Do­mi­nik Rie­do schiesst übers Ziel hin­aus mit die­sem bru­ta­len Rundumschlag!!
    Sind denn alle die­se Kri­ti­ker hier, die teils ge­ra­de­zu eu­pho­risch über Ca­men­isch‘ GOLDENE JAHRE schreiben…
    https://arnocamenisch.ch/presse/goldene-jahre/
    …al­le­samt blind?? Oder hat kei­ner von ih­nen das Buch gelesen??
    Man soll­te sich nicht grös­ser ma­chen, in­dem man die an­de­ren klein macht, Herr Riedo…
    Mei­ne Mei­nung. Grüs­se: A. Caduff

    • Sehr geehrte/r Frau/Herr Caduff

      Sie ver­wech­seln mei­ne Po­si­ti­on als Schrift­stel­ler mit der als Kri­ti­ker & Ger­ma­nist. Wenn sich alle Kri­ti­ker grös­ser ma­chen wür­den, wenn sie kri­ti­sie­ren (und das laut Ih­nen ja nicht er­laubt ist), wäre Kri­tik in dem Sin­ne gar nicht mehr er­laubt. Da wä­ren wir dann beim be­rüch­tig­ten Pres­se­ge­setz von 1937 im ‚Drit­ten Reich‘, wo­nach nur ›Be­spre­chun­gen‹ oder ›Würdigungen‹ noch er­laubt sein soll­ten, kei­ne ›Wer­tun­gen‹.

    • Und noch­mals ich: Ca­men­isch ver­linkt auf sei­ner Sei­te na­tür­lich nur lo­ben­de Re­zen­sio­nen (was auch nicht jede Autorin/jeder Au­tor so macht). Eine an­de­re habe ich zi­tiert. Oder se­hen Sie sich die­se hier an: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=27213. Und so­wie­so: Ha­ben Sie über Feh­ler wie bei der Ver­wechs­lung Flacherde/Heliozentrisches Welt­bild ein­fach hin­weg­ge­le­sen? Of­fen­bar hat das sonst wirk­lich nie­mand ge­merkt. Was eben auch heisst: Ich könn­te durch­aus rich­tig lie­gen, alle an­de­ren falsch.

    • Mit ge­hyp­ter Li­te­ra­tur (wahl­wei­se an­de­re Kunst­form ein­set­zen) ver­hält es sich eben ty­pi­scher­wei­se so wie mit des Kai­sers neu­en Klei­dern. Hat ir­gend­ei­ne ein­fluss­rei­che Per­son im Li­te­ra­tur­be­trieb aus ir­gend­ei­nem Grund ein­mal ei­nen Nar­ren dar­an ge­fres­sen, wagt es nie­mand mehr, sich dem entgegenzustellen.
      In­so­fern wür­de ich, wenn ein Kri­ti­ker das Werk mit kla­ren Ar­gu­men­ten aus­ein­an­der­nimmt, schon mal ge­nau prü­fen, ob nicht die gros­se Mas­se der das Werk uni­so­no Ab­fei­ern­den falsch liegt und der ein­sa­me Ru­fer in der Wüs­te rich­tig. Viel­leicht sind die Eu­pho­ri­ker ja wirk­lich blind und wol­len nicht se­hen, dass der Kai­ser nackt ist.

  11. Dan­ke für die­se har­te, ja bru­ta­le, aber zu­tref­fen­de Be­spre­chung! Auch mir scheint, dass der deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur­be­trieb in­zwi­schen schlicht al­les zum Hype em­por­ju­belt, egal wel­che sprach­li­che Qua­li­tät das Zeug hat, das da zwi­schen zwei Buch­de­ckel ge­presst wur­de. Haupt­sa­che be­kann­ter Name und ein paar pau­scha­le me­dia­le Lob­hu­de­lei­en – fer­tig ist der „Ver­kaufs­schla­ger“. Und von da ist es dann kein wei­ter Weg mehr zur No­mi­nie­rung fürs Preisjassen…
    Zu­recht wei­sen Sie auch dar­auf hin, Herr Rie­do, dass die Lese- bzw. Se­lek­ti­ons­kom­pe­ten­zen brei­ter Buch­käu­fer-Krei­se mehr und mehr ver­küm­mern – an­ders wä­ren die re­la­tiv ho­hen Ver­kaufs­zah­len sol­cher ge­hyp­ten Ti­tel gar nicht möglich…
    Schön dass es noch Kri­ti­ker wie Sie gibt, die sich ge­trau­en, sol­che un­an­ge­neh­men Wahr­hei­ten öf­fent­lich zu machen…
    Sö­ren G.

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