F. Zavatarelli u.a: Feuilletons von Ignaz Kolisch

Das schachjournalistische Phänomen Ideka

von Ralf Binnewirtz

Drei Schach­his­to­ri­ker und -au­toren ha­ben sich zu­sam­men­ge­tan, um die 92 sonn­täg­li­chen Feuil­le­tons von Ignaz Ko­lisch – er­schie­nen 1886-1888 in des­sen ei­ge­ner Wie­ner All­ge­mei­nen Zei­tung – in ei­nem kom­pak­ten Band zu ver­ei­nen, der weit über die Schach­welt hin­aus In­ter­es­se be­an­spru­chen darf. Denn die­se Feuil­le­tons tan­gie­ren und re­flek­tie­ren na­he­zu alle Be­rei­che der Ge­sell­schaft und ver­mit­teln in der aus­ge­feil­ten Pro­sa des Au­tors ein Zeit- und Sit­ten­ge­mäl­de West­eu­ro­pas aus der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahrhunderts.

Er­neut darf sich der Re­zen­sent mit ei­ner schil­lern­den Fi­gur der Schach­ge­schich­te be­fas­sen. Dies­mal ist es je­doch al­les an­de­re als ein En­fant ter­ri­ble (wie zu­letzt Hein Don­ner), son­dern das Mul­ti­ta­lent Ignaz Ko­lisch (1837-1889), ab 1881 Ba­ron Ignaz von Ko­lisch, der ein weit­hin no­ma­den­haf­tes Le­ben führ­te und sei­ne Feuil­le­tons un­ter dem Pseud­onym Ide­ka publizierte.

Hilfreicher Fussnoten-Service

Fabrizio Zavatarelli, Luca D’Ambrosio, Michael Burghardt (Hrsg): Die Feuilletons von Ignaz Kolisch, Edition MarcoDer vor­lie­gen­de Sam­mel­band ist kei­nes­wegs eine rei­ne Kom­pi­la­ti­on, denn die Her­aus­ge­ber Fa­bri­zio Zava­tar­el­li, Luca D’Ambrosio und Mi­cha­el Burg­hardt ha­ben über 1100 er­hel­len­de An­mer­kun­gen in Fuss­no­ten hin­zu­ge­fügt, um die Ver­ständ­lich­keit der Tex­te für die heu­ti­ge Le­ser­schaft zu ver­bes­sern. Der hoch­ge­bil­de­te und äus­serst sprach­ge­wand­te Ko­lisch kul­ti­vier­te näm­lich nicht nur im ge­spro­che­nen, son­dern auch im ge­schrie­be­nen Wort die Vor­lie­be, sei­ne Aus­füh­run­gen mit fremd­spra­chi­gen Sen­ten­zen an­zu­rei­chern (in La­tein, Fran­zö­sisch, Eng­lisch, usw.). Sehr hilf­reich ist auch die „Über­set­zung“ von re­gio­nal-zeit­ge­nös­si­schen Aus­drü­cken im Text, zu­dem wur­den zahl­lo­se, heu­te meist un­be­kann­te Per­so­nen re­cher­chiert, die da­selbst auftauchen.

Diversität ohne Schach-Fokus

Baron Ignaz Kolisch - Schach-Feuilletonist - Glarean Magazin
Vom Schach­meis­ter zum Fi­nanz­mo­gul: Ignaz Ko­lisch (1837-1889)

Die in­halt­li­che Man­nig­fal­tig­keit der Bei­trä­ge wird be­reits durch das In­halts­ver­zeich­nis an­ge­deu­tet, dort er­folgt auch eine the­ma­ti­sche Zu­ord­nung, in­dem den ein­zel­nen Feuil­le­tons be­stimm­te The­men­be­rei­che (wie Ak­tu­el­les, Fi­nanz­welt, Kurz­wei­li­ges, Zeit­ge­schich­te, etc.) zu­ge­wie­sen wer­den. Le­dig­lich in we­ni­gen Fäl­len bil­den zwei bis drei Feuil­le­tons eine lo­cke­re Fort­set­zungs­ge­schich­te, an­sons­ten sind ei­gen­stän­di­ge Ein­zel­epi­so­den die Re­gel. Das Buch lädt da­her dazu ein, kreuz und quer zu le­sen oder auch eine the­ma­ti­sche Aus­wahl bei der Lek­tü­re vor­zu­neh­men. Dem The­ma „Schach“ ist kei­ne do­mi­nie­ren­de Rol­le zu­ge­dacht, es taucht bei den 92 Feuil­le­tons nur zwölf Mal auf; so­wie zu­sätz­lich in An­hang A, der fünf un­kom­men­tier­te Par­tien von Ko­lisch in Kurz­no­ta­ti­on ver­zeich­net. Dem­zu­fol­ge ist das Buch für ei­nen brei­ten Le­ser­kreis (selbst ohne Schach­kennt­nis­se) prä­de­sti­niert, aber na­tür­lich auch emp­feh­lens­wert für Schach­freun­de, die über den Tel­ler­rand der ei­ge­nen Pas­si­on hin­aus­bli­cken möchten.

An­ga­ben zum In­halt müs­sen na­tur­ge­mäss frag­men­ta­risch blei­ben, we­ni­ge sub­jek­tiv her­aus­ge­grif­fe­ne Bei­trä­ge und wie­der­keh­ren­de the­ma­ti­sche Mo­ti­ve will ich aber – qua­si als ap­pe­ti­zer – kurz erwähnen.

Esoterik und Aberglaube

Weit­ge­hend von der Ra­tio ge­lei­tet, stand Ko­lisch eso­te­ri­schen Mo­de­trends wie dem Spi­ri­tis­mus und ver­wand­ten Phä­no­me­nen un­gläu­big-kri­tisch ge­gen­über (sie­he Feuil­le­ton 2; auch F. 25), von klei­nen aber­gläu­bi­schen Über­zeu­gun­gen war aber auch er nicht völ­lig frei (F. 20). Ob Ko­lisch son­der­lich re­li­gi­ös war, bleibt of­fen; sei­ne jü­di­schen Wur­zeln er­wähn­te er nicht, all­zu ver­ständ­lich an­ge­sichts ei­nes pro­gres­si­ven An­ti­se­mi­tis­mus in Wien, dem er auch in sei­nen Feuil­le­tons im­mer wie­der ve­he­ment entgegentrat.

Politisch aktuell geblieben

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Po­li­tisch war Ko­lisch li­be­ral ein­ge­stellt, sei­ne klei­nen Po­le­mi­ken ha­ben häu­fig kaum an Ak­tua­li­tät ein­ge­büsst. Ein für sich selbst spre­chen­des Zi­tat (aus F. 52, S. 317) kann ich mir an die­ser Stel­le nicht verkneifen:
„Die Zer­fah­ren­heit un­se­rer öf­fent­li­chen Zu­stän­de, die Un­si­cher­heit in den po­li­ti­schen Pro­gram­men, die Schwan­kun­gen un­se­rer hoch- und nie­der­tra­ben­den Volks­tri­bu­nen und vor Al­lem die Un­ver­läss­lich­keit un­se­rer gros­sen Par­tei­füh­rer be­rau­ben mich nach­ge­ra­de je­des bür­ger­li­chen Ver­gnü­gens. Ich weiss heu­te nicht mehr, wem ich glau­ben soll, ich kom­me in die pein­lichs­te Ver­le­gen­heit, wenn ich zu ent­schei­den habe, wel­chem Volks­be­glü­cker ich mein Ver­trau­en schen­ken soll, und ge­ra­the in hel­le Ver­zweif­lung, wenn ich vor der Fra­ge ste­he, wes­sen be­red­te Aus­las­sun­gen ich vor­zugs­wei­se auf mich wir­ken las­sen darf“.
An an­de­rer Stel­le be­schreibt Ko­lisch den ra­di­ka­li­sier­ten Pö­bel, der sich in ge­walt­tä­ti­gen De­mons­tra­tio­nen Bahn bricht – bis hin zur (ge­ra­de noch ver­hin­der­ten) Lynch­jus­tiz (F. 21). Und er geis­selt die „ge­wis­sen­lo­sen Phra­sen­dre­scher“, die als men­ta­le Brand­stif­ter die leich­te Ver­führ­bar­keit der Mas­sen ausnutzen.

Betrüger und Scharlatane

"Das Gespräch drehte sich um Geister": Leseprobe aus "Die Feuilletons von Ignaz Kolisch" (Vergrösserung mit Mausklick)
„Das Ge­spräch dreh­te sich um Geis­ter“: Le­se­pro­be aus „Die Feuil­le­tons von Ignaz Ko­lisch“ (Ver­grös­se­rung mit Mausklick)

Von un­ge­bro­che­ner Ak­tua­li­tät ist wie­der­um das Un­we­sen der Be­trü­ger und Klein­kri­mi­nel­len, die sich in den Me­tro­po­len Eu­ro­pas tum­mel­ten (sie­he insb. F. 23): Prak­tisch un­ge­stört konn­ten die­se „In­dus­trie­rit­ter“ (d.h. Nep­per und Bau­ern­fän­ger, Schar­la­ta­ne und Ross­täu­scher) gan­ze Stadt­vier­tel in Be­schlag neh­men. Heut­zu­ta­ge ha­ben sich der­lei Ak­ti­vi­tä­ten zu wei­ten Tei­len glo­ba­li­siert bzw. ins In­ter­net ver­la­gert, bei wei­ter­hin ge­rin­ger Er­folgs­quo­te der Strafverfolgungsbehörden.
Ein spe­zi­el­ler Fall ist die le­sens­wer­te Epi­so­de über ei­nen ver­arm­ten, des Prak­ti­zie­rens längst ent­wöhn­ten Me­di­cus, der in­fol­ge Ko­lischs Rat­schlä­gen ein Ver­mö­gen im Ori­ent er­wer­ben kann (F. 65): Mit ei­ner The­ra­pie, die le­dig­lich auf der An­wen­dung von fri­schem kal­ten Was­ser be­ruht, „heil­te“ er ein­ge­bil­de­te Kran­ke in der Haute­vo­lee (so­mit ein rei­ner Pla­ce­bo­ef­fekt) und liess sich da­für fürst­lich ent­loh­nen – we­nigs­tens hat es bei den der­art Ge­sun­de­ten kei­ne Ar­men ge­trof­fen. Fa­zit: Kur­pfu­sche­rei lohnt sich, wenn man es rich­tig an­stellt – zu­min­dest war dies noch im 19. Jahr­hun­dert so.

Russische Verhältnisse

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Ko­lisch scheu­te sich auch kei­nes­wegs, Miss­stän­de im öst­li­chen Teil un­se­res Kon­ti­nents auf­zu­zei­gen. So nahm er scho­nungs­los das mäch­ti­ge Reich der Rus­sen ins Vi­sier, wo sich das Ge­schwür der Kor­rup­ti­on und die Schmier­geld-Kul­tur wie Mehl­tau über das gan­ze Land ge­legt hat­ten (F. 45).
In die­sem bun­ten Pot­pour­ri der Un­ter­hal­tungs­bei­la­gen sind die­je­ni­gen, die sich ganz oder teil­wei­se der rei­nen Er­hei­te­rung wid­men, durch­aus gut ver­tre­ten. Wer ein­mal herz­haft la­chen möch­te, mag bei­spiels­wei­se F. 55 „Nicht für Da­men“ le­sen, das zu­dem mit ei­nem ge­ra­de­zu mär­chen­haf­ten Fi­na­le auf­war­tet. Un­ver­ges­sen in ih­rer er­göt­zen­den Ko­mik blei­ben auch die treff­lich ge­schil­der­ten „Er­obe­rungs­ver­su­che“ ei­nes ge­al­ter­ten Le­be­manns auf ei­nem Pa­ri­ser Bou­le­vard (Pas­sa­ge auf S. 320) – und vie­les an­de­re mehr.


Exkurs: Kolisch als Schachmeister

W.E./Ignaz Ko­lisch konn­te her­vor­ra­gend mit dem Geld und mit dem Wort um­ge­hen – aber auch mit den Schach­fi­gu­ren. Als Erz-Schach­ro­man­ti­ker des 19. Jahr­hun­derts führ­te er eine schar­fe An­griffs­klin­ge, die auch vor be­kann­ten Grös­sen sei­ner Zeit kei­ner­lei Re­spekt zeigte.
Hier ein paar Kostproben:


Famoser Unterhalter

Be­reits von sei­nen Zeit­ge­nos­sen wur­de Ko­lisch at­tes­tiert, ein fa­mo­ser Un­ter­hal­ter zu sein, und in der klei­nen Form des Feuil­le­tons mit ma­xi­mal 5-7 Sei­ten konn­te er sei­ne Fä­hig­kei­ten of­fen­bar be­son­ders vor­teil­haft zur Gel­tung brin­gen. Eine über­aus ge­lun­ge­ne Mi­schung aus Witz, Iro­nie und tie­fe­rer Be­deu­tung, die sei­ne Bei­trä­ge cha­rak­te­ri­siert, war si­cher­lich ein Ga­rant des Er­folgs. Dazu ge­sell­te sich sei­ne glän­zen­de For­mu­lie­rungs­kunst und ein (für ei­nen Ban­kier!) wohl sin­gu­lä­rer li­te­ra­ri­scher Schach­zug: Mit frap­pie­ren­der Of­fen­heit liess er sein Le­se­pu­bli­kum teil­ha­ben an sei­nen Ge­dan­ken, sei­nen In­ter­es­sen und Emo­tio­nen, was sei­nen Schrif­ten eine hohe Au­then­ti­zi­tät ver­lieh und die An­häng­lich­keit sei­ner Le­ser­schaft im­mens vertiefte.

Fliessende Grenzen zwischen Fact & Fiction

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In wel­chem Aus­mass Ko­lischs Schil­de­run­gen mit rea­len Be­ge­ben­hei­ten sei­nes be­weg­ten Le­bens über­ein­stim­men und wel­che An­tei­le auf Fik­ti­on be­ru­hen, ist nicht im­mer klar. Auch sind zeit­lich aus­ein­an­der­lie­gen­de Er­eig­nis­se wohl ver­ein­zelt zu­sam­men­ge­führt wor­den. All dies mag je­doch von un­ter­ge­ord­ne­ter Be­deu­tung ge­we­sen sein, so­lan­ge sei­ne An­ek­do­ten geist­rei­che und amü­san­te Un­ter­hal­tung boten.
Ich fin­de das Buch in­halt­lich hoch­in­ter­es­sant und auch in der Aus­stat­tung bes­tens ge­lun­gen (so­li­de Hard­co­ver-Aus­ga­be mit Fa­den­hef­tung). Ein bio­gra­fi­sches Vor­wort „Der li­te­ra­ri­sche Schach­meis­ter“, ein vor­an­ge­stell­tes Ka­pi­tel „Ko­lisch als Feuil­le­to­nist“ so­wie meh­re­re An­hän­ge rah­men das Werk ein. Un­be­deu­ten­de Druck­feh­ler im Ori­gi­nal wur­den von den Her­aus­ge­bern kor­ri­giert, ver­blie­be­ne klei­ne Ver­tip­per ha­ben Sel­ten­heits­wert. Ins­ge­samt ver­spricht das Buch ei­nen un­ge­trüb­ten Le­se­ge­nuss, da­her gebe ich die un­ein­ge­schränk­te Emp­feh­lung: Kau­fen und lesen! ♦

Fa­bri­zio Zava­tar­el­li, Luca D’Ambrosio und Mi­cha­el Burg­hardt (Hrsg.): Die Feuil­le­tons von Ignaz Ko­lisch, 544 Sei­ten, Edi­ti­on Mar­co, ISBN 978-3-924833-82-4

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schach-Feuil­le­ton auch über Hel­mut Pfle­gers neue ZEIT-Schachspalten

… so­wie zum The­ma „Ro­man­ti­sches Schach“ über Ro­bert John­son: Adolf An­ders­sen (Bio­gra­phie)


3 Kommentare

  1. Die Wie­ner All­ge­mei­ne Zei­tung – und da­mit auch die Feuil­le­tons des Herrn Ko­lisch – kann man auf der Home­page der Ös­ter­rei­chi­schen Na­tio­nal­bi­blio­thek kos­ten­los nach­le­sen. War­um soll man 56,80 EUR für die­ses Buch in­ves­tie­ren? Nach der noch­ma­li­gen Lek­tü­re der Re­zen­si­on ist mir das im­mer noch nicht klar geworden.

    • Es ist rich­tig, dass die Ein­zel­aus­ga­ben der WAZ auf ANNOhttp://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=waz ver­füg­bar sind.
      Es ist al­ler­dings al­les et­was müh­sam, die Sei­ten mit den Feuil­le­tons müs­sen erst mal durch Blät­tern ge­fun­den wer­den, al­les ist in der al­ten Frak­tur­schrift ge­schrie­ben, die zahl­rei­chen Fuß­no­ten der Buch­au­to­ren feh­len na­tür­lich eben­so wie die Ab­bil­dun­gen im Buch.
      Und wer möch­te das al­les am Bild­schirm lesen?
      OK, wer den Auf­wand nicht scheut, kann sich das Buch spa­ren; oder auch der­je­ni­ge, der nur ein ein­zel­nes Feuil­le­ton re­cher­chie­ren will.
      Für bi­blio­phi­le Samm­ler kommt wohl nur das Buch infrage.

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