Jean-Christophe Grangé: Die Fesseln des Bösen (Roman)

Overkill des Widerwärtigen

von Isabelle Klein

Dass Jean-Chris­to­phe Gran­gé ein Meis­ter der Ex­tre­me ist, ist nichts Neu­es. Mord, Per­ver­si­on, das Hin­ab­tau­chen in die Welt des Bö­sen, Las­ter­haf­ten, der Mons­tro­si­tä­ten – das ist sein Me­tier, per­fek­tio­niert über vie­le Jah­re und Bü­cher hinweg.
Und doch hat er sei­nen Ze­nit längst über­schrit­ten, wie sein jüngs­ter Ro­man „Die Fes­seln des Bö­sen“ be­weist. Weit ent­fernt von „Flug der Stör­che“ oder „Schwar­zes Herz der Höl­le“ ist der neue Gran­gé ein Grenz­gän­ger, auf viel­fäl­ti­ge Art und Weise…

Pa­ris und der Mord an zwei Strip­pe­rin­nen der Edel­ka­schem­me „Le Squonk“ bil­den das Sze­na­rio der Wi­der­wär­tig­kei­ten be­son­de­ren Aus­mas­ses. Ein Mix ver­schie­dens­ter Ab­ar­tig­kei­ten führt un­se­ren An­ti­hel­den Sté­pha­ne Cor­so, selbst im Zwei­fel über sei­ne Da­seins­be­rech­ti­gung, zu Ab­grün­den, die so­gar für den er­fah­re­nen Pa­ri­ser Er­mitt­ler zu nah am Wahn­sinn ver­or­tet scheinen.
Da­bei fängt al­les so Gran­gé-ty­pisch schau­der­haft schön an. Wir müs­sen dies­mal nicht in das fins­te­re Herz durch ver­schie­de­ne Län­der rei­sen, son­dern be­fin­den uns mit­ten in Pa­ris, dem Pfuhl der Las­ter­haf­tig­keit. Eine jun­ge Strip­pe­rin, bru­tal er­mor­det, der Leich­nam mit der Un­ter­wä­sche ge­fes­selt, acht­los ent­sorgt. Die Art der Ent­stel­lung (vom Mund bis zu den Oh­ren auf­ge­schlitz­te Wan­gen, ein post­mor­ta­les Grin­sen er­weckt durch ei­nen in die Keh­le ge­stopf­ten Stein) lässt den­ken an Munchs „Der Schrei“ oder an den Noir-Ro­man „Die schwar­ze Dah­lie“ von Ja­mes Ell­roy bzw. an des­sen Ver­fil­mung durch Bri­an de Palmas.

Triebtäter mit extremer SM-Gangart

Jean-Christophe Grange - Die Fesseln des Bösen - Thriller - Buch-Cover - Literatur-Rezensionen Glarean MagazinEin Trieb­tä­ter? Als eine zwei­te, glei­cher­mas­sen ent­stell­te Lei­che auf­ge­fun­den wird, eben­falls eine An­ge­stell­te des „Le Squonk“, er­mit­telt Cor­so mit sei­nem Team aus Freaks und Ge­nies un­ter Hochdruck.
Über ja­pa­ni­sche Fes­sel­kunst – „Die Wahr­heit des Blu­tes“ inkl. Re­mi­nis­zen­zen an Ja­pan las­sen grüs­sen – und spa­ni­sche Ma­le­rei des 18. Jahr­hun­derts (Go­yas „Pin­tur­as ro­jas„) bis hin zu se­xu­el­len De­vi­an­zen und ex­tre­men SM-Gang­ar­ten lässt Gran­gé dies­mal nichts aus.
War­um, stellt sich die Fra­ge? Um den Main­stream zu be­die­nen und den über­sät­tig­ten und ge­lang­weil­ten Le­ser mit ex­or­bi­tan­ten Wi­der­lich­kei­ten hin­ter dem Thril­ler-Ein­heits­brei her­vor­zu­lo­cken? Mehr ist mehr? Für mein Gus­to über­haupt nicht, eher ver­schreckt das.

Keine regelkonforme Polizeiarbeit

Es fängt düs­ter an im ers­ten Teil, man er­mit­telt in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen. Un­ser An­ti­held ist von der Ver­gan­gen­heit zer­fres­sen; von Dä­mo­nen heim­ge­sucht, über­treibt er es mit der Ge­walt. Re­gel­kon­for­me Po­li­zei­ar­beit ist in­exis­tent. Lei­der ver­liert Cor­so wie auch das gan­ze Ge­sche­hen bald jede Glaubwürdigkeit.
Ein Ver­däch­ti­ger ist schnell ge­fun­den, im zwei­ten Teil ent­puppt sich ein strin­gen­tes Katz- und Maus­spiel, das wie über­haupt die gan­ze Hand­lung in sich lo­gisch erscheint.

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Das gros­se Man­ko liegt – ne­ben ei­ner ge­wis­sen Ver­liebt­heit ins Wi­der­li­che – v.a. in der ab­so­lu­ten Über­frach­tung, die spä­tes­tens in drit­ten Teil mehr als deut­lich wird. Muss eine Er­kennt­nis und ein Turn gleich den nächs­ten Twist ste­hen­den Fus­ses ja­gen? Muss man Cha­rak­te­re so kon­zi­pie­ren, dass sie nur pla­ka­ti­ve Wi­der­lin­ge und Mons­ter sind? Kann man das Pu­bli­kum nur noch durch zu vie­le Cliff­han­ger wirk­lich fes­seln? Will­kom­men, Ge­ne­ra­ti­on Net­flix. Als Mi­ni­se­rie wür­de sich die durch­wegs di­cho­to­me Welt des Er­mitt­lers Cor­so nebst sei­nem Ant­ago­nis­ten Phil­ip­pe So­bie­ski – die­ser ist das mons­trös wi­der­li­che En­fant ter­ri­ble des Bu­ches, Ge­nie und Mör­der, oder viel­leicht doch nicht?) – wun­der­bar eignen.

Charaktere ohne Graustufen

Jean-Christophe Grange - Glarean Magazin
Mit ei­nem Hang zur ex­zes­si­ven Ge­walt-Dar­stel­lung: Best­sel­ler-Lie­fe­rant Jean-Chris­to­phe Gran­gé („Die pur­pur­nen Flüsse“)

Grau­stu­fen schei­nen in­exis­tent, ent­we­der non­stop böse, ver­kom­men, da­bei aber cha­ris­ma­tisch ver­füh­re­risch, wie der eben er­wähn­te „Sob le Tob“, bei des­sen Cha­rak­te­ri­sie­rung Jean-Chris­toph Gran­gé aber viel zu sehr über­treibt. Frau­en und Män­ner um ihn her­um ver­kom­men au­to­ma­tisch zu wil­li­gen Trieb­fol­gen­den. Grenz­fäl­le des Er­träg­li­chen wer­den uns bei­spiels­wei­se durch die The­ra­peu­tin ei­nes der Op­fer als über­ge­stülp­te Mo­ral ver­kauft. Soll heis­sen: Es gibt per se nichts Bö­ses (wie hier Ne­kro­phi­lie); erst die Mo­ral er­schafft das Böse.
Ge­dan­ken­gän­ge mit Po­ten­ti­al, wie z.B. die ge­ne­ti­sche Ver­er­bung des ge­schil­der­ten Wahn­es, wer­den un­glaub­haft „vor den Latz ge­knallt“ und wir­ken pa­the­tisch. Ge­ne­rell wird der Über­spit­zung Tür und Tor ge­öff­net. Zeit für tie­fer­ge­hen­de Be­trach­tung we­sent­li­cher Ele­men­te bleibt nicht. Ganz in Ge­gen­teil: Un­wich­ti­ges Bei­werk wie die Ehe und die SM-Nei­gun­gen Cor­sos Ex Emi­li­ya nimmt über Ge­bühr Platz ein. All das gip­felt in un­über­seh­ba­ren Höchst­for­men im drit­ten Teil, der durch­wegs nur noch zu Kopf­schüt­teln führt.

Spannung mittels exzessivster Gewalt

Die­se Re­zen­si­on ver­wirrt Sie, weil sie recht as­so­zia­tiv und we­nig greif­bar ist? Ge­nau das ist der Ein­druck, den die­ses – kei­nes­wegs schlech­te! – Buch in mir aus­ge­löst hat. Wei­ter ins De­tail zu ge­hen, um das Un­be­ha­gen zu ver­deut­li­chen, wür­de zu viel auf­de­cken und des Le­sers Span­nung schmä­lern, die vom Ro­man im­mer­hin recht kon­stant auf­recht er­hal­ten wird.
Fa­zit: Die Macht des Blu­tes trifft auf mons­trö­se Ta­ten, die, weit zu­rück­lie­gend, ge­plag­te See­len von An­fang an in den Ab­grund trei­ben. Der neue Gran­gé un­ter­hält stre­cken­wei­se gut und knüpft an alte Zei­ten an, ver­liert sich aber schnell in der ex­zes­si­ven Be­trach­tung ex­trems­ter Wi­der­lich­kei­ten. Nichts für schwa­che Nerven. ♦

Jean-Chris­to­phe Gran­gé: Fes­seln des Bö­sen, Ro­man-Thril­ler, 604 Sei­ten, Lüb­be Ver­lag, ISBN 9783431041293

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Thril­ler-Ro­man auch über Jo Nes­bø: Mes­ser (Har­ry-Hole-Kri­mi Band 12)

… so­wie zum The­ma Fran­zö­si­sche Kri­mi-Li­te­ra­tur über Han­ne­lo­re Ca­yre: Der Lumpenadvokat

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