Anton “ViscaBarca” Rinas: Realtalk (Rezension)

Psycho-Striptease eines Gaming-Influencers

von Heiner Brückner

Der You­Tube-Fame als grel­ler Schein. Ist das Kunst oder ehr­gei­zi­ge In­di­vi­du­al­in­sze­nie­rung? Nein, es ist für den ei­nen oder an­de­ren tra­gi­sche Rea­li­tät. Aber die­se Of­fen­ba­rung, die “Vis­ca­Bar­ca” zum ei­ge­nen Whist­le­b­lower macht oder zum See­len­strip­per, wie An­ton Ri­nas selbst sagt, ist heil­sam – für ihn selbst, und hof­fent­lich für vie­le Follower.
Si­cher­lich ist mit Kul­tur­ar­beit und Kunst kein Staat zu ma­chen, aber es han­delt sich da­bei um kon­kre­tes Le­ben und nicht um eine vir­tu­el­le Schein­welt, selbst wenn sie Vi­sio­nä­res und Fan­tas­ti­sches pro­ji­ziert und prolongiert.

Viscabarca - Anton Rinas - Realtalk - Mein Leben als Influencer - Cover - Rezension Glarean MagazinAn­ton Ri­nas ali­as Vis­ca­Bar­ca konn­te sich den Le­bens­traum vie­ler jun­ger Men­schen er­fül­len. “Als er­folg­rei­cher You­Tuber und So­cial Me­di­as Per­for­mer be­geis­tert er über eine Mil­li­on Abon­nen­ten, ver­dient mit 17 be­reits fünf­stel­li­ge Sum­men im Mo­nat”, kün­digt der Ver­lag das Werk über “Trug, Schein und Schul­den” ei­nes Ga­mers an. Dann kam der Ab­sturz des di­gi­ta­len Mo­de­phä­no­mens als In­fluen­cer. Ich lese die Be­ken­ner­ge­schich­te mehr als dia­go­nal, weil mich das The­ma reizt, weil ich den Her­kunfts­ort des Au­tors ken­ne, und weil ich auf die Ver­lo­ckun­gen der Ver­lags­an­prei­sung her­ein­ge­fal­len bin. Bin ich der In­flu­enz er­le­gen? Noch will ich mich er­weh­ren durch das Le­sen der ver­öf­fent­lich­ten Fakten.

Wer füttert den Beeinflusser?

Fussball-Fans FC Barcelona - Glarean Magazin
“Es lebe Bar­ca, die tol­le spa­ni­sche Fuss­ball­mann­schaft”: Das Mas­sen-Game als Social-Multiplikator

Wer füt­tert den Be­ein­flus­ser, von wem lässt er sich be­ein­flus­sen? Wen hat er im Vi­sier, auf wen oder was zielt er ab? Das sind Hin­ter­grund­fra­gen, die ent­schei­dend sind, weil sie den Schein hin­ter al­lem auf­de­cken. Frei­mü­tig zählt Ri­nas sei­ne Fake-Ac­counts ge­nau­so auf wie sei­ne mil­lio­nen­fa­chen Li­kes. Sein Aka-Name Vis­ca­Bar­ca ist Pro­gramm und ei­gent­li­che Le­bens­sehn­sucht, die er sich we­gen kör­per­li­chen Han­di­caps nicht mehr er­fül­len kann: Es lebe Bar­ca, die tol­le spa­ni­sche Fussballmannschaft.
Wes­sen ent­le­digt er sich also bei sei­nem öf­fent­lich ge­mach­ten Höl­len­trip durch eine In­fluen­cer-Bio­gra­fie un­ter dem Ti­tel “Re­al­talk”?

Down To Earth und Back To Life

Glarean Magazin - Muster-Inserat - Banner 250x176Das ers­te Ka­pi­tel fasst zu­sam­men, wie der Of­fen­ba­rungs­eid in ein 15-mi­nü­ti­ges Re­al­talk-Vi­deo als “Bal­sam für mei­ne See­le” ge­packt wer­den soll­te. Das letz­te schil­der­te, wie er nach dem Ab­sturz wie­der “down to earth” kom­men konn­te. Da­zwi­schen wird die Chro­no­lo­gie sei­nes Auf- und Ab­stiegs aus­ge­brei­tet: die chao­ti­schen Zu­stän­de in Fa­mi­lie, Er­folg und Miss­erfolg in Gam­ing-WGs, und wie die ge­lieb­te Schwes­ter und ihr Mann, sein Schwa­ger, ihn fi­nan­zi­ell bis in den Ruin aus­pum­pen. Drei­mal stellt er eine Lis­te der Aus­ga­ben von 4000 bis auf 205’000 Euro Schul­den auf. Nach dem Ab­sturz fin­det er in Mün­chen “mit Dis­zi­plin und Fleiss” wie­der “back to life”, wird we­gen des “Schwes­ter-Vi­de­os” als “In­zest­Bar­ca” be­schimpft und er­lei­det wirt­schaft­lich den nächs­ten Rück­schlag we­gen ei­ner un­durch­sich­ti­gen Steuerberaterin.

Den “ganzen Scheiss” hinausgekotzt

Viscabarca - Anton Rinas - Ich durfte beim Barca-Spiel auf dem Rasen stehen - Glarean Magazin
“Ich durf­te beim Bar­ca-Spiel auf dem Ra­sen ste­hen”: FC-Bar­ce­lo­na-Fan Vis­ca­bar­ca ali­as An­ton Rinas

Re­den wir Klar­text (“Re­al­talk”) und nicht lan­ge um die 271 Sei­ten her­um, so wie es das Ela­bo­rat auch tut: ver­zwei­fel­ter See­len­strip, Dig­ga, li­te­ra­risch be­schei­den, mo­ra­lisch als ab­schre­cken­des Ex­em­pel ein­setz­bar, aus der ka­ta­stro­pha­len fi­nan­zi­el­len Not­la­ge geboren.
Vis­ca­Bar­ca la­men­tiert in sei­nem Schrift­stück nicht ge­fühls­du­se­lig, will auch nicht “rum­heu­len”, er kotzt den “gan­zen Scheiss” of­fen­sicht­lich un­ge­schminkt her­aus. Der see­li­sche Aus­wurf ist ein not­ge­drun­ge­nes, ei­gent­lich nicht druck­rei­fes Drauf­los-Quas­seln in der läs­si­gen You­Tube-Sprech­wei­se bzw. So­cial Me­di­as Platt­for­men. Häu­fi­ge Wie­der­ho­lun­gen, teils Wi­der­sprü­che, chao­ti­sches Hin- und Her-Sprin­gen ent­lar­ven die gan­ze Sum­me der Ent­schei­dungs­fle­xi­bi­li­tät ei­nes un­schlüs­si­gen jun­gen Man­nes, der am Ende sei­ner ei­ge­nen Hilfs­werk-Bio­gra­fie zu ei­nem all­ge­mein hin­rei­chend be­kann­ten Fa­zit ge­langt. Näm­lich, dass sein süch­ti­ger Spiel­kon­sum nur eine Flucht vor der ei­ge­nen Lee­re ge­we­sen sei.

Nie wieder Fake Shit

Anzeige AMAZON (Instagram Influencer - Emily Diaz)
An­zei­ge

Ri­nas ringt sich zum Ein­sichts­vor­satz durch: “… ich wür­de nie wie­der fake shit ma­chen, um et­was vor­zu­le­ben, das nichts mit mir und mei­nem Her­zen zu tun hat.” Und er hat Rat­schlä­ge pa­rat: “Lass dich nicht von an­de­ren ab­hal­ten, dei­ne Träu­me zu ver­wirk­li­chen. […] Das Le­ben wird noch hart ge­nug, auch wenn wir nicht auf­ein­an­der rumhacken.”
Ge­nuss­le­sen war das nicht, we­der in­halt­lich noch sprach­lich (z. B. “Ich kam nicht mehr auf mein Le­ben klar!” – “Auf die Si­tua­ti­on kam ich echt nicht klar.”) noch vom Er­kennt­nis­ge­winn her be­trach­tet. Ab­schre­ckend ist wohl der ein­zi­ge po­si­ti­ve Aspekt an die­sem “Teil” (Zi­tat Ri­nas), das ohne die mit­schrei­ben­de Hil­fe sei­nes Be­kann­ten Jo­sip Ra­do­vic “nie­mals so cool” ge­wor­den wäre.

An ers­ter Stel­le dankt er den Zu­schau­ern und You­Tube-Kol­le­gen für ihre Treue. Nach Mit­leid heischt er nicht, der Le­ser muss nicht in weh­lei­di­ges Mit­kla­gen ver­fal­len. Viel­mehr darf er sich über die schnel­le Ver­gess­lich­keit der You­Tube-Fol­lower beim Neu­be­ginn des In­fluen­cers wun­dern. Es ist frap­pie­rend, was da ab­ging und wor­auf man leicht her­ein­fal­len kann.
Kurz­um: “Re­al­talk” ist die öf­fent­lich ge­mach­te pri­va­te Be­ken­ner­sto­ry des In­fluen­cers An­ton Rina aka Vis­ca­Bar­ca in 22 Ka­pi­teln über ei­nen ganz per­sön­li­chen Psy­cho­ter­ror als Gam­ing-Zo­cker mit Com­pu­ter­spie­len in flap­si­gem YouTube-Speech. ♦

An­ton Ri­nas “Vis­ca­Bar­ca”: Re­al­talk – Trug, Schein und Schul­den / Mein Le­ben als In­fluen­cer, 272 Sei­ten, Com­mu­ni­ty Edi­ti­ons, ISBN 978-3960961055

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Di­gi­ta­le Welt 2.0 auch das “Zi­tat der Wo­che” von Fe­lix Stal­der: Kul­tur der Digitalität

…aus­ser­dem zum The­ma Sprach­zer­fall den Es­say von Ma­rio An­dreot­ti: Wie Ju­gend­li­che heu­te schreiben

Kommentare sind willkommen! (Keine E-Mail-Pflicht)