Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille – Beethovens Sinfonien

Beethovens überwältigender Klangrausch

von Hei­ner Brückner

Der ös­ter­rei­chi­sche Dich­ter Franz Grill­par­zer (1791 bis 1872) fragt in ei­nem Ge­dicht über die Mu­sik sei­nes Freun­des Lud­wig van Beet­ho­ven (1770 bis 1827): “Ward’s Ge­nuss schon? Ist’s noch Qual?” Er fass­te da­mit das Auf­fas­sungs­emp­fin­den sei­ner Zeit­ge­nos­sen, die Beet­ho­vens Mu­sik oft chao­tisch emp­fan­den, zu­sam­men. Die­se Re­zep­ti­on ist auf dem Hin­ter­grund des klein­wüch­si­gen Kom­po­nis­ten mit der Kraft­na­tur, die als rup­pig, un­wirsch, un­ge­stüm er­lebt wird, nach­zu­voll­zie­hen. Nicht nur weil er im “Wirts­haus … zu hart ge­koch­te Eier den Kell­nern hin­ter­her” ge­schmis­sen habe.

Beginn einer neuen Musik

Karl-Heinz Ott Rausch und Stille - Beethovens Sinfonien - Rezensionen Glarean MagazinAl­ler­dings gibt es da­mals auch Stim­men, die den Be­ginn ei­ner neu­en Mu­sik er­ahn­ten, die in me­ta­phy­si­sche Ab­grün­de vor­zu­drin­gen wage. Karl-Heinz Ott, Au­tor der Neu­erschei­nung “Rausch und Stil­le – Beet­ho­vens Sin­fo­nien” nennt un­ter an­de­rem den Kom­po­nis­ten und Dra­ma­ti­ker Ri­chard Wag­ner (1813-1883), der in sei­ner 1870 er­schie­ne­nen Beet­ho­ven-Schrift an­ge­merkt hat: “Über­bli­cken wir den kunst­ge­schicht­li­chen Fort­schritt, wel­chen die Mu­sik durch Beet­ho­ven ge­tan hat, so kön­nen wir ihn bün­dig als den Ge­winn ei­ner Fä­hig­keit be­zeich­nen”, die “weit über das Ge­biet des äs­the­tisch Schö­nen in die Sphä­re des durch­aus Er­ha­be­nen ge­tre­ten” ist.

Tiefgründiger Beethoven-Biograph: Karl-Heinz Ott
Tief­grün­di­ger Beet­ho­ven-Bio­graph: Karl-Heinz Ott

Ge­gen­wär­ti­ge Hö­rer ver­stö­ren Beet­ho­vens Sin­fo­nien längst nicht mehr. Für den Phi­lo­so­phen der Frank­fur­ter Schu­le und Kom­po­nis­ten Theo­dor W. Ador­no (1903 bis 1969) bei­spiels­wei­se be­ginnt die neue­re Mu­sik­ge­schich­te mit Beet­ho­ven, der mit Tra­dier­tem nicht bre­che, son­dern es auf­bre­che. So­mit kann der Schrift­stel­ler, Es­say­ist und li­te­ra­ri­sche Über­set­zer Karl-Heinz Ott (ge­bo­ren 1957) über Beet­ho­vens Sin­fo­nien un­gleich fein­füh­len­der, tief­grün­di­ger und um­fas­send for­mu­lie­ren und kom­pri­mie­ren: “Rausch und Stil­le”. In den weit­rei­chen­den und weit grei­fen­den Aus­füh­run­gen er­fährt der Le­ser selbst­re­dend bio­gra­fi­sche De­tails aus dem Le­ben des am Ende tau­ben Mu­si­kers. Wie der ur­sprüng­li­che Kla­vier­vir­tuo­se frei im­pro­vi­sier­te und fan­ta­sier­te. Wie er mit Ver­schlech­te­rung sei­nes Ge­hör­sinns sich auf das Kom­po­nie­ren kon­zen­trier­te, da­bei um jede ein­zel­ne Note ge­run­gen hat ‒ und wie er in eine tie­fe Kri­se ge­schlit­tert ist. Weil er ge­gen Le­bens­en­de sei­ne ei­ge­nen Wer­ke nicht mehr hö­ren konnte.

Ein Kosmos ohne Worte”

Vor al­lem aber sind die Be­schäf­ti­gung mit den neun Sin­fo­nien im Ein­zel­nen und das Ein­tau­chen in die emo­tio­na­le Aus­drucks­kraft der Mu­sik so­wie die Aus­drucks­stär­ke des Kom­po­nis­ten beim Nach­ver­fol­gen eine im po­si­ti­ven Sin­ne be­rau­schen­de Lek­tü­re: Sie för­dert die emo­tio­na­le Wucht die­ser Sin­fo­ni­schen Dich­tun­gen zu­ta­ge und be­schreibt sie mit poe­ti­scher Empathie.
Dem Ti­tel ge­mäss ar­bei­tet Ott die kom­po­si­to­ri­schen Mit­tel her­aus, die aus Beet­ho­vens No­ten­set­zun­gen ei­nen Klang­rausch schwel­len las­sen, der durch ge­häuf­ten Ein­satz von Fer­ma­ten der Stil­le vor und nach dem Sturm in­ten­si­ven Nach­hall verleiht.

Totenmaske von Ludwig van Beethoven (1770-1827)
To­ten­mas­ke von Lud­wig van Beet­ho­ven (1770-1827)

Die sich wi­der­spre­chen­den Auf­fas­sun­gen über Mu­sik im All­ge­mei­nen er­stre­cken sich vom “Tau­meln” bis zum “Tak­te zäh­len”. Wie soll­te auch ein Mensch al­lein die­sen “Kos­mos ohne Wor­te” er­fas­sen kön­nen. Die un­ter­schied­li­chen Her­an­ge­hens­wei­sen gros­ser Staats­män­ner, Den­ker und Phi­lo­so­phen an die­se ur­kräf­ti­ge Klang­wir­kung hebt Ott im­mer wie­der her­vor, schält Mo­ti­ve an No­ten­bei­spie­len her­aus und be­zieht sie auf die Thematik.
Zu­dem ar­bei­tet er jede der neun Sin­fo­nien satz­wei­se an­hand von No­ten­bei­spie­len durch. Ein­präg­sam ge­stal­tet Ott zu je­der Sin­fo­nie ei­nen the­ma­ti­schen Ex­kurs. Dar­in wer­den die Ti­tel gleich­sam zu Cha­rak­te­ri­sie­run­gen der ein­zel­nen Wer­ke. Ihre Über­schrif­ten lau­ten: Wind­in­stru­men­te; Mu­si­ka­li­sche Scher­ze; Lust an Trau­er­mu­sik; Von der Kir­che in den Kon­zert­saal; Die ver­lo­re­ne Me­lo­die; Or­pheus ge­gen Pro­me­theus; Mu­sik als Wahr­heit; Nach der Neun­ten kommt der Tod so­wie Sturm und Stille.

Beschäftigung mit den geistesgeschichtlichen Grundlagen

Fa­zit: Karl-Heinz Ott er­öff­net uns mit “Rausch und Stil­le – Beet­ho­vens Sin­fo­nien” die Welt, aus der Beet­ho­ven das Ur­kraft-Uni­ver­sum sei­ner Sin­fo­nien schöpft, als ei­nen fes­seln­den, lei­dens­druck­star­ken Mu­sik­ge­nuss. Oder frei nach Grill­par­zer: Qual ist’s, aber viel mehr noch Ge­nuss. “Beet­ho­ven ist nicht wie Mo­zart oder Schu­bert für sei­ne Me­lo­dien be­rühmt, son­dern für Rhyth­mik und Wucht.”

Wer die­ses Buch ge­le­sen hat, wird den “Mann mit der wil­den Mäh­ne” nicht mehr re­du­zie­ren auf die vier be­rühm­ten Schick­sals-Takt­schlä­ge der fünf­ten Sin­fo­nie oder den hu­ma­nis­ti­schen Welt­hit “Ode an die Freu­de”, die seit 1972 als of­fi­zi­el­le Eu­ro­pa­hym­ne bei na­he­zu je­dem eu­ro­päi­schen Gross­ereig­nis in­to­niert wird.
Das er­gibt schluss­end­lich eine hoch in­ten­si­ve Be­schäf­ti­gung auf har­mo­nie­tech­ni­schen, aber auch geis­tes­ge­schicht­li­chen Grund­la­gen, die eine um­fas­sen­de Bi­blio­gra­fie und ein Per­so­nen­re­gis­ter vervollständigen.
Karl-Heinz Ott er­öff­net uns mit “Rausch und Stil­le – Beet­ho­vens Sin­fo­nien” die Welt, aus der Beet­ho­ven das Ur­kraft-Uni­ver­sum sei­ner Sin­fo­nien schöpft, als ei­nen fes­seln­den, lei­dens­druck­star­ken Mu­sik­ge­nuss. Oder frei nach Grill­par­zer: Qual ist’s, aber viel mehr noch Ge­nuss. “Beet­ho­ven ist nicht wie Mo­zart oder Schu­bert für sei­ne Me­lo­dien be­rühmt, son­dern für Rhyth­mik und Wucht.” ♦

Karl-Heinz Ott: Rausch und Stil­le – Beet­ho­vens Sin­fo­nien, 272 Sei­ten, Hoff­mann und Cam­pe Ver­lag, ISBN 978-3-455-00396-3

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Beet­ho­ven auch über Bernd Strem­mel: Beet­ho­ven-In­ter­pre­ta­tio­nen auf Tonträgern

… so­wie zum The­ma Mu­si­ker-Bio­gra­phien über Joa­chim Cam­pe: Ros­si­ni – Die hel­len und die dunk­len Jahre


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