Neue Rundschau (Heft 2018-3): Jenseits der Erzählung

Wie verhalten sich Literatur und Geschichte zueinander?

von Heiner Brückner

Ge­schich­te ist nar­ra­tiv zu be­rich­ten, sagt der ge­sun­de Men­schen­ver­stand spä­tes­tens seit der Bi­bel. Aber auch von dem, was tat­säch­lich ge­sche­hen ist und wo­bei man nicht selbst ge­we­sen ist, kann nicht ob­jek­tiv be­rich­tet wer­den. Und wenn, dann ist es eben­falls durch die sub­jek­ti­ven Au­gen ei­nes ein­zi­gen Zeit­zeu­gen be­trach­tet und re­gis­triert wor­den. Dem Ver­hält­nis von Li­te­ra­tur und Ge­schich­te hat die „Neue Rund­schau“ nun un­ter dem Ti­tel „Jen­seits der Er­zäh­lung“ eine es­say­is­ti­sche An­tho­lo­gie gewidmet.

An­schau­lich in sti­lis­ti­scher Ele­ganz er­zähl­te Ge­schichts­schrei­bung ist ein gros­ses Le­se­er­leb­nis. Das be­le­gen die Best­sel­ler his­to­ri­scher Ro­ma­ne in jüngs­ter Zeit er­neut. Oder wie es Theo­dor Momm­sen for­mu­lier­te, es gehe um „Ver­ge­gen­wär­ti­gung“. We­gen der ge­lun­ge­nen „Mi­schung aus bild­haf­ter Er­zähl­kunst und klu­gen Schluss­fol­ge­run­gen“ war er für sei­ne „Rö­mi­sche Ge­schich­te“ 1902 als ers­ter Deut­scher und zwei­ter Au­tor über­haupt mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net wor­den. Eben die­se Er­kennt­nis­se sind ein­mal mehr zu ver­deut­li­chen und zu ver­sach­li­chen, um die Ge­schichts­schrei­bung ein­zu­ord­nen in ein mach­ba­res und den­noch hilf­rei­ches und wich­ti­ges In­stru­men­ta­ri­um mensch­li­cher Er­ken­nungs­mög­lich­kei­ten und mög­li­chen Erkenntnisgewinns.

Neue Rundschau - Jenseits der Erzählung - Buch-Rezension Glarean MagazinWie aber be­le­gen es aka­de­mi­sche His­to­ri­ker oder his­to­ri­sie­ren­de Li­te­ra­ten? Den Fra­gen, die hin­ter die­sem In­ter­es­se ste­hen, hat­ten sich beim 51. His­to­ri­ker­tag 2016 in Ham­burg die His­to­ri­ker Dirk van Laak aus Leip­zig, der Ber­li­ner Mi­cha­el Wildt, die Augs­bur­ger Sil­via Se­re­na Tschopp, die Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin Ha­zel Ro­sen­strauch, der Li­te­rat Per Leo so­wie der His­to­ri­ker und Pu­bli­zist Gus­tav Seibt ge­wid­met. Die „Neue Rund­schau“ hat in ih­rer neu­es­ten Aus­ga­be (129. Jahr­gang 2018, Heft 3) je­nes The­ma „Jen­seits der Er­zäh­lung“ zum Schwer­punkt ge­wählt und die (vor­läu­fi­gen) Er­geb­nis­se gesammelt.

Recherchierte Befunde mit literarischer Finesse präsentiert

Dirk van Laak be­ginnt mit der ti­tel­ge­ben­den Fra­ge nach der Form in Li­te­ra­tur und Ge­schich­te. Er weist dar­auf hin, dass die bei­den Be­grif­fe „Ge­schich­ten und Ge­schich­te“ nicht nur sprach­lich nahe bei­sam­men sei­en, son­dern auch in ih­rer Ab­sicht auf Er­kennt­nis. Die Gren­ze lie­ge dort, wo das Fak­ti­sche zu blos­ser Nar­ra­ti­on oder zu Fake News wird. An­sons­ten wer­de der His­to­ri­ker kei­nes­wegs dar­an ge­hin­dert sei­ne gut re­cher­chier­ten Be­fun­de mit „li­te­ra­ri­scher Fi­nes­se“ zu präsentieren.
Dass ak­tu­ell kei­ne „mit­tel­al­ter­li­che Fins­ter­nis“ bei den Funk­tio­nen an­schau­li­cher De­tails im his­to­ri­schen Er­zäh­len vor­herr­sche, schil­dert Gus­tav Seibt in sei­nem Beitrag.

Per Leo - Historiker Schriftsteller - Glarean Magazin
Li­te­ra­ri­scher His­to­ri­ker und his­to­ri­sie­ren­der Li­te­rat: Per Leo (Geb. 1972)

Der „li­te­r­a­ri­sie­ren­de His­to­ri­ker und his­to­ri­sie­ren­de Li­te­rat“ (laut Ei­gen­cha­rak­te­ris­tik) Per Leo über­schreibt sei­nen Kom­men­tar „Leos Kreuz­gang“ und un­ter­ti­telt „Die Schlacht zwi­schen li­te­r­a­ri­sie­ren­der His­to­rie und his­to­ri­sie­ren­der Li­te­ra­tur“. Er legt dar­in als Pa­ra­dig­men für die Schnitt­stel­le zwi­schen Li­te­ra­tur und Ge­schich­te die „Kämp­fe um Tro­ja für die Epik Ho­mers“ wie die „Per­ser­krie­ge und der Pe­lo­pon­ne­si­sche Krieg für die Ge­schichts­schrei­bung von He­ro­dot und Thuky­di­des“ vor. So­wohl der ar­chai­sche My­thos wie die klas­si­sches Chro­nik hät­ten so­mit zu neu­en For­men sprach­li­chen Aus­drucks ge­fun­den. Sein Bei­trag ist ein leb­haf­tes sprach­li­ches Do­ku­ment für die er­ör­ter­ten Thesen.

Geschichte als Referenz

Die Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin Ha­zel Ro­sen­strauch be­tont im In­ter­view mit Mi­cha­el Wildt, ih­ren Un­ter­schied zu den aka­de­mi­schen His­to­ri­kern. Für sie sei die „Ge­schich­te als Re­fe­renz wich­tig“, weil sie in­ter­es­sie­re, „wie sich die Din­ge ent­wi­ckelt“ hät­ten. Und das nicht le­dig­lich aus „Loya­li­tät ge­gen­über den Fak­ten“, son­dern weil ihre Denk­wei­se mit „ra­tio­na­ler Aus­ein­an­der­set­zung“ zu tun habe.
Im Ab­schnitt „Ly­rik­radar“ zei­gen die Ly­ri­ker Durs Grün­bein, Bren­da Hill­man und W. S. Mer­win in kom­ple­xen und for­mal in­di­vi­du­ell ge­stal­te­ten Ge­dich­ten ihre Art Er­eig­nis­se der zeit­li­chen Ge­gen­wart zu poe­ti­sie­ren. Das ist teils sehr ge­gen­ständ­lich ge­stal­tet und teils auch sehr sach­lich aus­ge­drückt wie bei Mer­win in „Der Fluss der Bie­nen“: „Aber wir sind nicht hier um zu über­le­ben / Zu le­ben genügt“.

Demonstrationen experimenteller Lesart

FAZIT: Die Auf­for­de­rung Fried­rich Nietz­sches in „Un­zeit­ge­mäs­se Be­trach­tun­gen“, dass die „Ge­schich­te zu be­wa­chen“ sei, „dass nichts aus ihr her­aus­kom­me als eben Ge­schich­ten, aber ja kein Ge­sche­hen!“, ha­ben sich alle Au­toren, die in der „Neu­en Rund­schau“ Dis­kus­si­ons­bei­trä­ge und teils Er­geb­nis­se des 51. His­to­ri­ker­tags von 2016 in Ham­burg un­ter dem Ti­tel „Jen­seits der Er­zäh­lung“ (Heft 2018-3) ver­öf­fent­licht ha­ben, hin­ter die Ge­dan­ken ge­schrie­ben und in je­weils fach­spe­zi­fi­schem Blick­win­kel ent­fal­tet. Sie wa­ren be­müht wahr­haf­tig ge­gen sich und an­de­re und zu den Fak­ten zu sein.

Über die Fach­wis­sen­schaft hin­aus an alle Le­ser rich­ten sich die von ei­ner Kul­tur­wis­sen­schaft­ler­grup­pe „his­to­risch-spe­ku­la­tiv“ kom­men­tier­ten drei be­han­del­ten Ka­pi­tel 19, 46 und 50 des Mel­ville-Ro­mans „Moby Dick“. Ih­nen geht es um „Prä­sen­ta­ti­on ei­ner wich­ti­gen Quel­le zum Ver­ständ­nis“ eben­so wie dar­um, eine „ex­pe­ri­men­tel­le Les­art“ zu demonstrieren.
Der Ro­man­au­tor Tho­mas von Stei­n­ae­cker ex­em­pli­fi­ziert im Ab­schnitt „Un­voll­ende­tes“ Ar­beits­wei­se und We­sen ei­nes Künst­lers am „un­ab­sicht­lich un­voll­ende­ten Kunst­werk“ in der Mu­sik, in­dem er die Fra­ge zu be­ant­wor­ten ver­sucht: Die Neun­te (Sin­fo­nie) ein Fluch? Wie in ei­nem Sze­na­rio ei­nes „Mys­tery-Kri­mis“ kommt er zu er­staun­lich mys­te­ri­ös klin­gen­den Er­kennt­nis­sen, wenn er das Schön­berg-Dik­tum „Die eine Neun­te ge­schrie­ben ha­ben, stan­den dem Jen­seits zu nahe“ auf sei­ne Fak­ti­zi­tät hin un­ter­sucht.  Als Film­bei­spiel hat er Stan­ley Ku­bricks „Na­po­le­on“ ausgewählt.

Carte Blanche“ mit literarischen Überraschungen

Die „lee­ren Sei­ten“ (Car­te Blan­che) fül­len un­ter­schied­li­che li­te­ra­ri­sche Über­ra­schun­gen: Tex­te von Sil­via Bo­ven­schen „1968“, Ka­tha­ri­na So­phie Brau­er mit „Flieh­kraft“, Rü­di­ger Gör­ner „Als K. Ham­let sah und hör­te“ so­wie der Ma­ler Mi­cha­el Trie­gel mit sei­nem „be­glück­ten“ Ver­such „Der gött­li­che Blick“ bei sei­ner Leip­zi­ger Poe­tik­vor­le­sung nebst Jo­sef Has­lin­gers da­zu­ge­hö­ri­ger Einleitung.
P.S: Der bei­lie­gen­de Fol­der ist text­lich ge­se­hen ge­ni­al und auch op­tisch op­ti­mal um­ge­setzt. In 13 Zei­len nennt Ma­ría Ce­ci­lia Bar­bet­ta die Tech­nik des Schrift­stel­lers und stellt sie auf dem ge­fal­te­ten Pa­pier vor Au­gen. Nur wer von hin­ten und von vor­ne –– liest, ver­steht das Gan­ze, das Ge­sam­te. In ei­ner Rich­tung be­trach­tet er­gä­be sich das Gegenteil… ♦

Neue Rund­schau (Heft 2018/3): Jen­seits der Er­zäh­lung – Zum Ver­hält­nis von Li­te­ra­tur und Ge­schich­te, 240 Sei­ten S. Fi­scher Ver­lag, ISBN 978-3-10-809115-6

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Li­te­ra­tur und Ge­schich­te auch über Karl Kraus: Die letz­ten Tage der Menschheit

… so­wie über den DDR-Ro­man von Ros­wi­tha Quad­flieg und Burk­hart Ve­igel: Frei

… und in un­se­rer Ru­brik „Ver­ges­se­ne Bü­cher“ über den Ro­man von Ri­chard Lle­wel­lyn: So grün war mein Tal


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