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Wie verhalten sich Literatur und Geschichte zueinander?
von Heiner Brückner
Geschichte ist narrativ zu berichten, sagt der gesunde Menschenverstand spätestens seit der Bibel. Aber auch von dem, was tatsächlich geschehen ist und wobei man nicht selbst gewesen ist, kann nicht objektiv berichtet werden. Und wenn, dann ist es ebenfalls durch die subjektiven Augen eines einzigen Zeitzeugen betrachtet und registriert worden. Dem Verhältnis von Literatur und Geschichte hat die “Neue Rundschau” nun unter dem Titel “Jenseits der Erzählung” eine essayistische Anthologie gewidmet.
Anschaulich in stilistischer Eleganz erzählte Geschichtsschreibung ist ein grosses Leseerlebnis. Das belegen die Bestseller historischer Romane in jüngster Zeit erneut. Oder wie es Theodor Mommsen formulierte, es gehe um “Vergegenwärtigung”. Wegen der gelungenen “Mischung aus bildhafter Erzählkunst und klugen Schlussfolgerungen” war er für seine “Römische Geschichte” 1902 als erster Deutscher und zweiter Autor überhaupt mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden. Eben diese Erkenntnisse sind einmal mehr zu verdeutlichen und zu versachlichen, um die Geschichtsschreibung einzuordnen in ein machbares und dennoch hilfreiches und wichtiges Instrumentarium menschlicher Erkennungsmöglichkeiten und möglichen Erkenntnisgewinns.
Wie aber belegen es akademische Historiker oder historisierende Literaten? Den Fragen, die hinter diesem Interesse stehen, hatten sich beim 51. Historikertag 2016 in Hamburg die Historiker Dirk van Laak aus Leipzig, der Berliner Michael Wildt, die Augsburger Silvia Serena Tschopp, die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch, der Literat Per Leo sowie der Historiker und Publizist Gustav Seibt gewidmet. Die “Neue Rundschau” hat in ihrer neuesten Ausgabe (129. Jahrgang 2018, Heft 3) jenes Thema “Jenseits der Erzählung” zum Schwerpunkt gewählt und die (vorläufigen) Ergebnisse gesammelt.
Recherchierte Befunde mit literarischer Finesse präsentiert
Dirk van Laak beginnt mit der titelgebenden Frage nach der Form in Literatur und Geschichte. Er weist darauf hin, dass die beiden Begriffe “Geschichten und Geschichte” nicht nur sprachlich nahe beisammen seien, sondern auch in ihrer Absicht auf Erkenntnis. Die Grenze liege dort, wo das Faktische zu blosser Narration oder zu Fake News wird. Ansonsten werde der Historiker keineswegs daran gehindert seine gut recherchierten Befunde mit “literarischer Finesse” zu präsentieren.
Dass aktuell keine “mittelalterliche Finsternis” bei den Funktionen anschaulicher Details im historischen Erzählen vorherrsche, schildert Gustav Seibt in seinem Beitrag.

Der “literarisierende Historiker und historisierende Literat” (laut Eigencharakteristik) Per Leo überschreibt seinen Kommentar “Leos Kreuzgang” und untertitelt “Die Schlacht zwischen literarisierender Historie und historisierender Literatur”. Er legt darin als Paradigmen für die Schnittstelle zwischen Literatur und Geschichte die “Kämpfe um Troja für die Epik Homers” wie die “Perserkriege und der Peloponnesische Krieg für die Geschichtsschreibung von Herodot und Thukydides” vor. Sowohl der archaische Mythos wie die klassisches Chronik hätten somit zu neuen Formen sprachlichen Ausdrucks gefunden. Sein Beitrag ist ein lebhaftes sprachliches Dokument für die erörterten Thesen.
Geschichte als Referenz
Die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch betont im Interview mit Michael Wildt, ihren Unterschied zu den akademischen Historikern. Für sie sei die “Geschichte als Referenz wichtig”, weil sie interessiere, “wie sich die Dinge entwickelt” hätten. Und das nicht lediglich aus “Loyalität gegenüber den Fakten”, sondern weil ihre Denkweise mit “rationaler Auseinandersetzung” zu tun habe.
Im Abschnitt “Lyrikradar” zeigen die Lyriker Durs Grünbein, Brenda Hillman und W. S. Merwin in komplexen und formal individuell gestalteten Gedichten ihre Art Ereignisse der zeitlichen Gegenwart zu poetisieren. Das ist teils sehr gegenständlich gestaltet und teils auch sehr sachlich ausgedrückt wie bei Merwin in “Der Fluss der Bienen”: “Aber wir sind nicht hier um zu überleben / Zu leben genügt”.
Demonstrationen experimenteller Lesart
Über die Fachwissenschaft hinaus an alle Leser richten sich die von einer Kulturwissenschaftlergruppe “historisch-spekulativ” kommentierten drei behandelten Kapitel 19, 46 und 50 des Melville-Romans “Moby Dick”. Ihnen geht es um “Präsentation einer wichtigen Quelle zum Verständnis” ebenso wie darum, eine “experimentelle Lesart” zu demonstrieren.
Der Romanautor Thomas von Steinaecker exemplifiziert im Abschnitt “Unvollendetes” Arbeitsweise und Wesen eines Künstlers am “unabsichtlich unvollendeten Kunstwerk” in der Musik, indem er die Frage zu beantworten versucht: Die Neunte (Sinfonie) ein Fluch? Wie in einem Szenario eines “Mystery-Krimis” kommt er zu erstaunlich mysteriös klingenden Erkenntnissen, wenn er das Schönberg-Diktum “Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe” auf seine Faktizität hin untersucht. Als Filmbeispiel hat er Stanley Kubricks “Napoleon” ausgewählt.
“Carte Blanche” mit literarischen Überraschungen
Die “leeren Seiten” (Carte Blanche) füllen unterschiedliche literarische Überraschungen: Texte von Silvia Bovenschen “1968”, Katharina Sophie Brauer mit “Fliehkraft”, Rüdiger Görner “Als K. Hamlet sah und hörte” sowie der Maler Michael Triegel mit seinem “beglückten” Versuch “Der göttliche Blick” bei seiner Leipziger Poetikvorlesung nebst Josef Haslingers dazugehöriger Einleitung.
P.S: Der beiliegende Folder ist textlich gesehen genial und auch optisch optimal umgesetzt. In 13 Zeilen nennt María Cecilia Barbetta die Technik des Schriftstellers und stellt sie auf dem gefalteten Papier vor Augen. Nur wer von hinten und von vorne –– liest, versteht das Ganze, das Gesamte. In einer Richtung betrachtet ergäbe sich das Gegenteil… ♦
Neue Rundschau (Heft 2018/3): Jenseits der Erzählung – Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, 240 Seiten S. Fischer Verlag, ISBN 978-3-10-809115-6
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Literatur und Geschichte auch über Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit
… sowie über den DDR-Roman von Roswitha Quadflieg und Burkhart Veigel: Frei
… und in unserer Rubrik “Vergessene Bücher” über den Roman von Richard Llewellyn: So grün war mein Tal