Heiner Brückner: Vom Himmlischen (Literatur-Essay)

Vom Himmlischen

Synoptische Betrachtung dreier motivähnlicher Lyrikpublikationen

von Heiner Brückner

I. Einführung, Motivation

Nach­dem ich „Bau­stel­len des Him­mels“, den ak­tu­el­len Ge­dicht­band von Ha­rald Grill, ent­deckt hat­te, war mir die As­so­zia­ti­on zu Jan Wag­ners „Pro­be­boh­rung“ so­fort prä­sent. Zwei un­ter­schied­li­che Ly­ri­ker, was Al­ter, Spra­che und The­men be­trifft, zeich­nen ein of­fen­sicht­lich mo­tiv­ähn­li­ches Bild. Der eine 2001 als De­bü­tant, der an­de­re 2017 nach über 60 Jah­ren, in de­nen er „ein­fach“ (in des Wor­tes dop­pel­ter Be­deu­tung) ge­lebt hat, in­dem er mit dem Ruck­sack ohne Ho­tel­bu­chun­gen auf bei­den Bei­nen auf Lan­d­er­kun­dung ge­gan­gen ist und in Rund­funk­re­por­ta­gen und Ein­zel­ver­öf­fent­li­chun­gen sei­ne Weg­poe­sie zum Aus­druck brach­te: „ein­fach ge­hen“, „auf frei­er stre­cke“ und so wei­ter wa­ren sei­ne Ti­tel. Ich woll­te da­hin­ter­stei­gen, wie poe­tisch füh­len­de Au­toren das The­ma be­ar­bei­tet haben.

Harald Grill - Baustellen des Himmels - Gedichte - Pongratz - Glarean MagazinIch den­ke bei Him­mel an: Glau­ben, Got­tes Ort, Ho­ri­zont, Erde und Him­mel, Re­li­gi­on, Kir­che. Bei Re­li­gi­on an Er­klä­rungs­expe­ri­men­te für die Bin­dung des Men­schen zu sei­nem Ur­he­ber, sei­nem Ur­sprung, sei­ner Her­kunft, zu der er na­tur­ge­mäss in ei­ner Art ge­ne­ti­schem Be­zug ste­hen wird. An die Be­zie­hung und das Ver­hält­nis der Span­nung zwi­schen dem All­mäch­ti­gen und den Sterblichen.
Bau­stel­len sind für mich vor­ran­gig et­was Vor­han­de­nes, das re­pa­riert oder kor­ri­giert wird. (Selbst­ver­ständ­lich sind Bau­stel­len auch dort, wo ganz neu ge­baut wird. Aber das ge­schieht in der Re­gel auf vor­han­de­nem Grund.) Die Plä­ne wer­den von In­di­vi­dua­lis­ten ge­fer­tigt, die dar­an An­stoss neh­men, nicht vom ur­sprüng­li­chen Ver­ur­sa­cher oder Schöp­fer. Lü­cken sind zu schlies­sen, Lö­cher zu fül­len, ab­zu­dich­ten, Mau­ern, Hal­te­run­gen neu zu errichten.

Jan Wagner - Probebohrung im Himmel - Gedichte - Berlin Verlag - Glarean MagazinUn­ter Dich­tung ver­ste­he ich vor­ran­gig eine Be­schrei­bung des Um­fas­sen­den im All­täg­li­chen, Klein­tei­li­gen, das mich um­gibt. So ge­se­hen sind bei­de mensch­li­chen Ur­be­dürf­nis­se verschwistert.
Ich hof­fe bei mei­nem Ver­gleich eine Er­kennt­nis über die Ver­su­che zu fin­den, wie man sprach­lich der tran­szen­den­ten Di­men­si­on mensch­li­chen Seins nä­her kom­men könn­te. Wie ist es bei den bei­den ge­nann­ten Schrift­stel­lern der Fall?
Bei Ha­rald Grill scheint der re­li­giö­se Hin­ter­grund ohne Um­schwei­fe of­fen sicht­lich in Wort und Bild durch.
Beim Ly­rik­de­büt Jan Wag­ners ging es da­ge­gen in ers­ter Li­nie um sprach­li­che Bil­der als Im­puls­me­ta­phern zum Wei­ter­den­ken. Of­fen­bar spricht er von sich selbst, doch sei­ne Bil­der des „Ly­ri­schen Still­le­bens“ (sie­he „na­tu­re mor­te“: ein Fisch auf Zei­tungs­pa­pier) zei­gen auch für uns Wie­der­erkenn­ba­res. Das weckt Lust zum Ver­glei­chen, regt an zum Mitdenken.
Ich be­schrän­ke mich bei die­ser Be­trach­tung auf sein ti­tel­ge­ben­des, drit­tes Ka­pi­tel des Ban­des „Pro­be­boh­rung im Himmel“.

100 Gedichte über den Himmel

Anton Leitner - Der Himmel von morgen - Gedichte - Reclam Verlag - Glarean MagazinZwi­schen­zeit­lich bin ich auf eine ak­tu­el­le Pu­bli­ka­ti­on mit dem Ti­tel „Der Him­mel von mor­gen“ ge­stos­sen. Sie ist in ge­wis­ser Wei­se die Sum­me zu mei­nem Mot­to. In der von An­ton G. Leit­ner her­aus­ge­ge­be­nen An­tho­lo­gie wird das The­ma in cir­ca 100 Ge­dich­ten be­han­delt. Sie ge­währt ei­nen Blick in die dies­be­züg­li­che zeit­ge­mäs­se Lyrik.
Dar­in über­wiegt pro­fa­nes, lai­en­haf­tes, li­te­ra­ri­sches Spre­chen. Der Mensch wird als wert­of­fe­nes, an­thro­po­lo­gisch schöp­fe­ri­sches We­sen auf­ge­fasst, das so­wohl sein in­ne­res wie sein äus­se­res Er­le­ben und Er­lei­den dar­stel­len und mit­tei­len möch­te. Ich habe den Ein­druck ge­won­nen, dass auch das Wort „Schöp­fung“ eher ver­mie­den wird, um sich nicht wo­mög­lich als Krea­tio­nist ab­stem­peln oder fest­le­gen zu lassen.
Im christ­li­chen Ver­ständ­nis wäre Re­den von und mit Gott ein Schritt mehr, näm­lich die in Ge­dan­ken und Wor­ten ge­äus­ser­te Be­ja­hung mit al­len Fa­sern des per­so­na­len Exis­tie­rens dem Tran­szen­den­ta­len an­ver­trau­en zu kön­nen, weil es ihm zu­ge­wandt er­fah­ren wird. Ver­stärkt wür­de die­ses be­ken­nen­de Ge­fühl durch die Teil­ha­be an der Ge­mein­schaft der Gläu­bi­gen und die An­er­ken­nung der ver­heis­se­nen Zu­wen­dung des Schöpfers.
Ich stel­le die drei Bü­cher ein­zeln vor und fas­se dann zusammen.

II. Harald Grill: „baustellen des himmels“

Harald Grill - Lyrik-Schriftsteller - Glarean Magazin
Ha­rald Grill

Der Ti­tel „Bau­stel­len des Him­mels“ ver­heisst ein sel­ten be­dich­te­tes The­ma. Die Ge­dich­te selbst be­inhal­ten die­sen Ti­tel kein ein­zi­ges Mal ex­pres­sis ver­bis, wie das an­sons­ten ge­gen­wär­tig gän­gi­ge Pra­xis der Ver­la­ge zu sein scheint. Aber der Him­mel wölbt sich über je­des Ge­dicht und spricht den Le­ser aus na­he­zu je­dem an. Das nen­ne ich eine ge­konn­te The­men­ge­stal­tung. Je­des ein­zel­ne be­schränkt sich mehr oder we­ni­ger auf ein rea­les Bild, das Ha­rald Grill ge­lun­gen me­ta­pho­risch nach vie­len Sei­ten durch­leuch­tet und fein­sin­nig for­mu­liert. Und zwar in ei­ner prä­gnan­ten und prä­zi­sen Spra­che, di­rekt und ge­fühlt im­mer aus dem Her­zen des Men­schen ge­se­hen. Ge­dich­te sind nach sei­ner An­schau­ung an­ge­lehnt an Träu­me. Das ken­nen wir von sei­nen Dia­lekt­ge­dich­ten, aber auch hier in der Hoch­spra­che führt sei­ne spar­ta­ni­sche Knapp­heit, lenkt sein de­zen­tes An­deu­ten, das sanf­te An­tip­pen zu neu­en, tie­fe­ren Denk­tipps und Gefühlsschichten.
Aus­sa­gen, die the­ma­tisch nach mei­nem Ver­ständ­nis am deut­lichs­ten the­men­re­le­vant sind:
Be­reits das ers­te „Be­such im Klos­ter“: Drei­ei­nig­keit ver­mensch­licht: Die Gött­lich­keit muss vor den Fuss­gän­gern am Ze­bra­strei­fen, den das Licht in den Kreuz­gang des Klos­ters wirft, an­hal­ten. Ne­ben die­ser frap­pie­ren­den Me­ta­pher fällt die sin­ni­ge Fol­ge­rung auf: Gott Va­ter, Sohn und Geist sind of­fen­bar in ei­ner Li­mou­si­ne un­ter­wegs, also auf den Stras­sen die­ser Erde. Aber eben auch nicht bar­fuss in Sandalen.In „Schick mir ein Foto“ wird der Him­mel als eine „an­de­re Art von Höl­le“ bezeichnet.

Respektvoll strahlender Glanz

Ha­rald Grill wur­de 1951 ge­bo­ren, wuchs in Re­gens­burg auf und lebt seit 1978 in Wald im Land­kreis Cham in der Ober­pfalz. Er war Päd­ago­gi­scher As­sis­tent und ist seit 1988 frei­er Schrift­stel­ler und Mit­glied des deut­schen PEN-Zen­trums. 2000/ 2001 un­ter­nahm er zwei Spa­zier­gän­ge, ein­mal vom Nord­kap her und da­nach von Sy­ra­kus zu Fuss nach Re­gens­burg, für das Pro­jekt „Zwei­mal heim­ge­hen“. Von Juli bis No­vem­ber 2015 reis­te er durch Ru­mä­ni­en und Bul­ga­ri­en bis Odes­sa. Grill hat Pro­sa, Ge­dich­te, Kin­der­bü­cher und Nach­dich­tun­gen pu­bli­ziert und ar­bei­tet fürs Thea­ter, Ra­dio und Fern­se­hen. Mit ver­schie­de­nen Kul­tur­prei­sen und Sti­pen­di­en wur­de er aus­ge­zeich­net. Eine aus­führ­li­che Bi­blio­gra­phie ist u. a. auf Ha­rald Grills Home­page zu finden.

Eine Bot­schaft ohne Biss ver­mit­tel­ten „Barockkirche(n)“, weil sie in Gold­pa­pier ein­ge­wi­ckel­te Pra­li­nen blei­ben. Auch das lese ich als amü­san­te kri­ti­sche An­mer­kung zum halb­her­zi­gen Ver­hal­ten kirch­li­cher Ge­pflo­gen­hei­ten und gleich­zei­tig als nost­al­gi­sche Er­in­ne­rung süs­se­rer Zeiten.
Schliess­lich noch „Vor dem Ein­schla­fen“: Es gibt am „Rand der Steil­küs­te mei­ner Welt“ ein Spann­tuch zwi­schen Him­mel und Erde. Die Ähn­lich­keit zum Spring­tuch, das Ret­ter in höchs­ter Not aus­brei­ten, ist vor­han­den. Je­doch das Tuch bei Grill ist be­reits ge­spannt, auf­ge­hal­ten von un­sicht­ba­ren Händen.
Ha­rald Grill ver­leiht sei­nen ly­ri­schen Bil­dern ei­nen re­spekt­voll strah­len­den Glanz, in­dem er Gott in die Welt der Men­schen in­te­griert und ihm da­durch Mensch­lich­keit at­tes­tiert. Das gibt den Ge­dich­ten lan­gen Nach­hall und in­ten­si­ve Nachhaltigkeit.

III. Jan Wagner: „Probebohrung im Himmel“

Jan Wagner - Lyrik-Schriftsteller - Glarean Magazin
Jan Wag­ner

Wag­ners Ge­dich­te for­mu­lie­ren knapp, aber poe­tisch flüch­ti­ge Au­gen­bli­cke in ei­ner Me­lan­ge aus wohl­über­leg­ter Sach­lich­keit und Er­kennt­nis­fun­ken ei­ner im All­täg­li­chen tran­szen­dent auf­blit­zen­den emo­tio­na­len Ma­gie. In dem be­tref­fen­den mit der un­ge­nau­en Orts­an­ga­be ti­tu­lier­ten Ge­dicht „Ham­burg – Ber­lin“ kommt für mich die­ses Da­hin­ter-Se­hen und dar­in Er­ken­nen-Kön­nen am deut­lichs­ten zu­ta­ge. Er sieht zwei Wind­rä­der und sieht auch, dass sie „eine pro­be­boh­rung im him­mel vor“(-nehmen). Und: „gott hielt den atem an“ – und ich hielt eben­so inne, um zu stau­nen und nach­zu­den­ken. Pro­be­boh­run­gen wer­den ge­wöhn­lich in den Bo­den ge­rich­tet, um nach Was­ser für Brun­nen oder Öl- und Gas­quel­len zu er­for­schen. Auch Boh­run­gen zum Erd­kern hin wer­den un­ter­nom­men. Je­den­falls kann nur dort ein Loch er­stellt wer­den, wo eine fes­te Grund­la­ge zum Durch­boh­ren vor­han­den ist. (Das „tiefs­te (zu­gäng­li­che) Loch“ auf der Erde wur­de bei ei­nem kon­ti­nen­ta­len Tief­bohr­pro­jekt [KTB] in Bay­ern bei Win­di­sche­schen­bach nörd­lich von Wei­den in der Ober­pfalz als Kon­takt­zo­ne zwei­er gros­ser Kon­ti­nen­tal­schol­len erbohrt).

Das nach oben, in die Luft, in un­fes­ten Stoff ge­rich­te­te Boh­ren im Ge­dicht von Jan Wag­ner ist für den ers­ten Ein­druck ein Sto­chern im Ne­bel – oder mensch­li­ches Be­mü­hen, in die Nähe des „Him­mels“ zu ge­lan­gen. Da­bei ist es nicht ent­schei­dend, ob das zu öko­lo­gi­schen Zwe­cken oder aus sons­ti­gen Grün­den ge­schieht. Beim zwei­ten Ge­dan­ken er­schliesst sich eine völ­lig neue Di­men­si­on, die un­sicht­ba­re Bohr­ker­ne zu­ta­ge för­dern könn­te – wenn man sich auf sie einlässt.
Wäh­rend ei­ner Zug­fahrt an der Stre­cke zwi­schen Ham­burg und Ber­lin hat der Au­tor die­se Be­ob­ach­tung ge­macht. Wind­rä­der als Zei­chen für Be­sin­nung auf na­tür­li­che En­er­gie­ge­win­nung, Re­duk­ti­on der Aus­beu­tung, ne­ga­tiv: zu über­di­men­sio­niert, nicht land­schafts­ge­mäss etc. Es muss ge­ar­bei­tet wer­den, öko­lo­gisch. Das ist eine dop­pel­te Baustelle.

Firmament und Himmel gehören zur Erde

Jan Wag­ner wur­de ge­bo­ren 1971 in Ham­burg und lebt seit 1995 in Ber­lin. Er ist Ly­ri­ker, Über­set­zer eng­lisch­spra­chi­ger Ly­rik so­wie Es­say­ist. Mit dem Ge­dicht­band „Pro­be­boh­rung im Him­mel“ de­bü­tier­te er 2001. Für sei­ne Ge­dich­te, die für Aus­wahl­bän­de, Zeit­schrif­ten und An­tho­lo­gien in über dreis­sig Spra­chen über­setzt wur­den, er­hielt er un­ter an­de­rem den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se (2015) und den Ge­org-Büch­ner-Preis (2017). Er ist Mit­glied der Deut­schen Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung, der Baye­ri­schen Aka­de­mie der Schö­nen Küns­te, der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und der Li­te­ra­tur Mainz, der Frei­en Aka­de­mie der Küns­te in Ham­burg so­wie des P.E.N.-Zentrums Deutschland.

Hier ist eine der bei­den Stel­len auf cir­ca 70 Sei­ten, an der Jan Wag­ner das Wort „Gott“ ge­braucht. Man kann die Wind­rä­der also durch­aus re­li­gi­ös deu­ten. Wes­we­gen auch im­mer der Schöp­fer die Luft an­hal­ten mag. Aus Furcht vor dem Ein­grei­fen der Men­schen ins All? Aus Stau­nen über den Ein­falls­reich­tum mensch­li­chen Geistes?
Spä­tes­tens beim dar­auf fol­gen­den Ge­dicht „Qued­lin­bur­ger Ca­pric­ci­os“ wird die Denk­wei­se lo­gisch le­gi­ti­miert. Bei Stark­re­gen in der Qued­lin­bur­ger Ge­gend sieht er Tau­ben auf dem First  des Qued­lin­bur­ger Doms, eine Ver­knüp­fung zum Him­mel er­scheint im dop­pel­ten Grau. Fir­ma­ment und Him­mel ge­hö­ren zur Erde und zum Men­schen, sie be­we­gen ein­an­der und soll­ten zu­sam­men­ge­hal­ten wer­den als „Nie­ten“ für „… schie­fer­dach und himmel …“
Das ge­lingt mei­nes Er­ach­tens nur ei­nem, der das Stau­nen über die all­um­fas­sen­de Di­men­si­on des Über­ir­di­schen im Welt­li­chen nicht ver­lernt, son­dern neu be­zie­hungs­wei­se an­ders ent­deckt hat. In­di­rekt, durch die Wör­ter, ist Wag­ners Dich­tung eine Ver­nei­gung vor den Na­tur­ge­wal­ten, die wis­sen, dass Men­schen sie nie fas­sen wer­den. Die­se Macht bleibt in­dif­fe­rent, sie wird kei­ner Ur­sa­che und kei­nem Ver­ur­sa­cher zu­ge­ord­net. Doch jene scheint stär­ker als die der Kreatur.
Eine sanf­te Kri­tik am Be­stehen­den kommt im Ge­dicht „Im Nor­den“ auf: Die Kir­chen bli­cken dort „… trot­zig in den himmel,/wartend dar­auf, dass gott als ers­ter blinzelt“.

IV. Anton G. Leitner: „Der Himmel von morgen“

Anton Leitner - Lyrik-Schriftsteller - Glarean Magazin
An­ton G. Leitner

Die Aus­wahl der 100 Ge­dich­te in „Der Him­mel von mor­gen“ und das The­ma tra­gen un­zwei­fel­haft die Hand­schrift des Her­aus­ge­bers An­ton. G. Leit­ner, der auch die Ly­rik­zeit­schrift „Das Ge­dicht“ in­iti­iert hat. Dar­aus hat er (vor­wie­gend aus dem Band 25 „Re­li­gi­on im Ge­dicht“) the­ma­tisch pas­sen­de Ge­dich­te ge­sam­melt und gibt mit sei­nem ei­ge­nen Bei­trag „Der Tod“ die Rich­tung vor. In sei­nen Ly­rik­tex­ten schreibt er im All­ge­mei­nen so, als sei­en Wör­ter As­so­zia­ti­ons­wo­gen und Denk­wel­len, die er in ei­nem be­we­gen­den Rhyth­mus schau­keln und über­schwap­pen lässt. For­mal fin­den sich nur drei ge­reim­te und me­tri­sche Ge­dich­te. An­sons­ten herr­schen lo­cke­rer Rhyth­mus und freie den­ke­ri­sche wie ge­stal­te­ri­sche Viel­falt vor.
Die An­tho­lo­gie ist als Quer­schnitt zeit­ge­mäs­ser Ly­rik zum The­ma „Gott und die Welt“ an­zu­se­hen. Dar­in zeigt sich ein Aqua­rell­bild hin­ter ent­fer­nen­dem Schlei­er, eine Ge­ne­ra­ti­on des Über­gangs in hof­fen­der teils ent­täusch­ter Er­war­tungs­hal­tung. So­wohl die Hof­fen­den als auch der Er­hoff­te sei­en er­schöpft. Im­mer­hin sind das Aus­sa­gen und nicht al­lein Ver­mu­tun­gen oder Re­vol­te ge­gen Be­stehen­des. Eine theo­lo­gi­sche Samm­lung oder sol­che Am­bi­tio­nen hegt die Samm­lung nicht. Es geht um Be­kennt­nis­se von 90 zeit­ge­nös­si­schen Lyriker/innen.
Aus­zug: Ge­rald Jet­zek: iro­ni­siert im „Öko­no­mi­schen Kon­zil“, dass er zu wis­sen glau­be, war­um „Glau­ben wich­ti­ger ist als Den­ken“. Ju­dith-Kat­ja Raab ist mit dem „Ket­ze­ri­schen Cre­do“ ver­tre­ten, Ge­org Lan­gen­horst mit „Tho­mas­zwei­fel“. Lutz Ra­the­now will mit dem „Schöp­fer“ re­den. Tan­ja Dückers wird sinn­lich beim „Ku­scheln mit Gott“.
Wenn so der „Him­mel von mor­gen“ aus­se­hen soll, dann ist nur ein Ne­bel­vor­hang zu se­hen, wo­hin­ge­gen der ba­ro­cke Him­mel auf Er­den fröh­lich und strah­lend ge­stal­tet wor­den ist. Der An­tho­lo­gie-Ti­tel ist dem zwei­ten Vers des Ge­dich­tes „Bau­plan, blass­oran­ge“ von Sa­bi­ne Mink­witz ent­lehnt. Auch hier taucht die „Bau­stel­le Him­mel“ auf.
Ich will aber nicht spe­ku­lie­ren, wie das ge­deu­tet wer­den könn­te. Ei­ni­ge Kern­aus­sa­gen aus der An­tho­lo­gie sol­len für sich selbst sprechen.

Moderne Lyrik des Unbeschreiblichen

An­ton G. Leit­ner wur­de 1961 in Mün­chen ge­bo­ren. Der ex­ami­nier­te Ju­rist ediert seit 1993 die Jah­res­schrift „Das Ge­dicht“. Seit 1984 aus­ser­dem mehr als 40 An­tho­lo­gien vor al­lem für die Ver­la­ge dtv, Han­ser, Gold­mann, Re­clam, Sankt Mi­cha­els­bund. Ne­ben her­aus­ge­be­ri­schen Tä­tig­kei­ten ver­öf­fent­lich­te An­ton G. Leit­ner bis­lang elf ei­ge­ne Ge­dicht­bän­de, drei Hör­bü­cher, zahl­rei­che Es­says, Kri­ti­ken, Kurz­ge­schich­ten, eine Er­zäh­lung und ein Kin­der­buch. Er ist Mit­glied der Münch­ner Turm­schrei­ber und der Va­len­tin-Karl­stadt-Ge­sell­schaft. Viel­fach wur­de er aus­ge­zeich­net, ne­ben an­de­ren 2016 mit dem „Tas­si­lo-Kul­tur­preis“ der Süd­deut­schen Zeitung.

Der Him­mel von mor­gen“ ist in vier Ab­schnit­te untergliedert.

I. Über Gott schwei­gen ein­ge­denk der Lei­den und des Unlogischen:
lo­gisch; Kopf­ge­spinst; er­schöpft vom Hof­fen; Gott sei nicht zu än­dern, also schwei­gen. Kutsch hegt „Ein­sicht“; öko­no­mi­sches Kon­zil; ket­ze­ri­sches, ka­pi­ta­lis­ti­sches Cre­do; Tho­mas-Zwei­fel; Der Alpha-bete.

II. Die er­in­ner­te Oma-Fröm­mig­keit mit den ein­zi­gen drei ge­reim­ten Ge­dich­ten ent­spre­chend der ver­ge­hen­den Generation:
ein Tau­flied etwa (ge­reimt) und tie­ri­sche Ge­be­te, eben­so das Lob der Beich­te (ge­reimt), Was­ser­läu­fer, tie­ri­sches Ar­che-Ge­bet, Karp­fen-Weih­nachts­ge­bet (ge­reimt) so­wie Kommunionerinnerungen.

III. Glau­bens­ein­topf mit Re­li­gi­ons-Al­ler­lei (al­ler­dings ohne Rezept):
Als Ge­bet sei das Wort Gott al­len ge­gönnt. Die Göt­ter sind dar­auf be­dacht, sich nicht zu nahe zu kom­men. „Ein Fünf­ter“ [= theo­lo­gi­sche Bot­schaft:] Gott will Neu­es er­fah­ren – „in mir“ (Gren­gel). Su­che nach der Per­le des Him­mel­rei­ches. Be­kreu­zi­gung der Fuss­ball­göt­ter. Er­schöpft vom Er­schaf­fen (teils ge­reim­ter Rap) und „Der Er­lö­ser schweigt“.

IV. Am Ende wird al­les gut:
Sin­nie­ren; saum­se­lig me­di­tie­ren. „Wer Ster­ne zählt, ver­zwei­felt“. „Se­lig, denn sie glau­ben nicht.“ Jo­nas Wal­fisch­bauch als Hei­mat (Jan Wag­ner). Fin­ni­sches Nord­licht scheint ins Ge­sicht. Nach­klang des Kreu­zes; Pa­pier­ge­läut; Psalm über „luft gott luft“; die Gna­de des Los­las­sens. Der Tod: sich mit dem „Nichts in blin­der Er­war­tung“ an­freun­den (A. G. Leit­ner). „Bau­plan, blass­oran­ge“. Nach der Er­schöp­fung sei dem Herrn eine Pau­se ge­gönnt, um neu zu­pa­cken zu können.

Zu­sam­men­ge­fasst: Die Mehr­zahl die­ser aus­ge­wähl­ten mo­der­nen Ly­ri­ker win­det sich um das Un­be­schreib­li­che, in­dem sie ihre re­li­giö­se Ana­mne­se spre­chen las­sen. Eine di­rek­te An­spra­che Got­tes, wie in der Form des Ge­bets, ist nicht zu fin­den, es sei denn in re­tro­spek­ti­vem Blick­win­kel. Man er­war­tet Got­tes Han­deln ohne ei­ge­nes Zu­tun. Das mag der gän­gi­gen Denk­wei­se der ge­gen­wär­ti­gen Ge­ne­ra­ti­on entsprechen.

V. Zusammenschau

Um dem Grund­te­nor auf die Schli­che zu kom­men, habe ich un­ter an­de­rem zwei the­men­re­le­van­te Be­grif­fe kon­kor­d­anz­mäs­sig in Au­gen­schein ge­nom­men. Die aus­ge­wähl­ten Ter­mi­ni „Schöp­fung, Schöp­fer, Him­mel“ sind kei­nes­falls re­prä­sen­ta­tiv zu ver­ste­hen und sie eig­nen sich nicht zu­al­ler­erst als poe­ti­sche Wort­wahl. Ich be­nut­ze sie le­dig­lich als Zu­falls­pro­ben, als Test­kri­te­ri­en, zu­mal oh­ne­hin kei­ner der be­trach­te­ten oder zi­tier­ten Ly­ri­ker den An­spruch der Christ­lich­keit re­kla­miert oder un­ter dem Aspekt ver­öf­fent­licht hat. Mei­ne Re­cher­chen er­he­ben eben­so we­nig wis­sen­schaft­li­chen An­spruch. Sie sind die Sicht­wei­sen durch die Lin­sen ei­nes der Ly­rik zu­ge­neig­ten Le­sers. Was fin­det sich bei der Su­che nach re­le­van­ten Aus­sa­gen? Es sind drei Nen­nun­gen von „Schöp­fung“ in der An­tho­lo­gie von Leit­ner, bei Grill kei­ne ein­zi­ge, bei Wag­ner eine. Der Be­griff „Schöp­fer“ ist in der An­tho­lo­gie zwei­mal er­wähnt. Wei­ter­hin ist fol­gen­de Häu­fig­keit fest­zu­stel­len: In den etwa 40 Sei­ten von Ha­rald Grills „bau­stel­len des him­mels“ kommt der Him­mel sechs- und Gott vier­mal vor. Bei Jan Wag­ners „Pro­be­boh­rung im Him­mel“ taucht auf den cir­ca 70 Sei­ten Gott drei­mal auf, der Him­mel 18-mal. In Leit­ners cir­ca 110-sei­ti­ger An­tho­lo­gie „Der Him­mel von mor­gen“ ist der Him­mel etwa 16-mal und Gott gut 30-mal zu zäh­len. Da­bei ist zu be­ach­ten, dass in den we­nigs­ten Fäl­len Him­mel als das pa­ra­die­si­sche Jen­seits ge­meint ist, son­dern meis­tens als Fir­ma­ment oder als Aus­ruf ge­braucht wird. Im Er­geb­nis ist das ein eher spar­sa­mer Um­gang mit den Zielbegriffen.

Vererdlichung des Jenseits

Die Au­toren ver­wen­den die gän­gi­gen Wör­ter als ge­läu­fi­ge Bil­der und sind im Üb­ri­gen be­müht das Jen­seits zu ver­erd­li­chen, wo­bei sie es nicht nach den Mass­stä­ben des Men­schen­au­ges aus­ma­len wol­len, um es gött­lich sein oder wer­den zu las­sen, wie etwa die ba­ro­cken Bau­meis­ter in ih­ren aus­ge­schmück­ten Got­tes­häu­sern. Jene hol­ten den Him­mel we­sent­lich bild­kräf­ti­ger in die Welt der Men­schen hin­ein. Da­durch wird eine Viel­falt in­di­vi­du­el­ler Vor­stel­lun­gen er­reicht, die To­le­ranz und De­mo­kra­tie sug­ge­rie­ren. Die ein­heit­li­che Li­nie zur ori­en­tie­ren­den Aus­ein­an­der­set­zung fehlt. Al­len­falls ein Trend zu lo­cke­ren Denk­wei­sen und Got­tes Ein­be­zie­hung als „Ma­cher“ ist zu erkennen.
Ge­le­gent­lich rin­gen ei­ni­ge Au­toren nach zeit­ge­mäs­sen Syn­ony­men. Ihre Bau­stel­len sind aber of­fen­sicht­lich noch lan­ge nicht so weit fort­ge­schrit­ten, ge­schwei­ge denn fer­tig­ge­stellt, dass die Ein­wei­hung ei­nes neu­en ver­bind­li­chen Sprach­ge­bäu­des von Gott im Him­mel ver­kün­det wer­den könnte.
Ly­ri­sches Re­den von Gott und Him­mel in den ge­nann­ten zeit­ge­mäs­sen Ge­dich­ten ist mit der Me­ta­pher „Bau­stel­len­mo­dus“ ly­risch tref­fend be­schrie­ben. (Die Be­rei­che Eso­te­rik und Me­di­ta­ti­on etc. wur­den hier be­wusst nicht be­rück­sich­tigt). Der Te­nor in den be­rück­sich­tig­ten Ge­dich­ten sind ir­di­sche Po­ems, nicht himm­li­sche oder re­li­giö­se Psalmodien. ♦

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