Jörg Schieke: Antiphonia (Gedicht)

Dynamische Lebensuhr am Ticken gehalten

von Hei­ner Brückner

Die Ly­rik in „An­ti­pho­nia“ von Jörg Schie­ke ist kein Lied zur Lau­te ge­zupf­ter, me­lo­di­scher Reim­lau­te, sie ist eher das Trom­mel­fell ei­ner Pau­ke, auf der sämt­li­che Wohl­lau­te und Dis­har­mo­nien ge­schla­gen werden.
Das Ly­ri­sche Ich über­nimmt in die­sen Ge­gen­lau­ten eine ge­gen­warts­na­he, mehr­na­tio­na­le Ex­em­pel­fa­mi­lie mit pro­gram­ma­ti­schen Vor­na­men – etwa Hein­rich (re­spek­ti­ve Hei­ner), oder auch Thor­ben. Als Al­ler­s­tes dach­te ich an Dok­tor Hein­rich im „Faust“. Doch dann muss­te ich le­sen: „… hat noch in keinem/weiblichen We­sen sei­ne Erkennungsmelodie/hinterlassen….“ Sol­che Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten tau­gen nicht für die­se Ade­lung. Aus­ser­dem wird er be­reits in ei­ner der nächs­ten un­ge­reim­ten Stro­phen zum „Fett­wanst Hei­ner“ degradiert.
Im zwei­ten Ka­pi­tel ist er der Er­fin­der von „Das An­ti­phon“ und wird zu ei­ner der Haupt­fi­gu­ren. Das wie­der­um weck­te in mir für ei­nen kur­zen Mo­ment den Ver­gleich mit dem Stimm-In­stru­ment des Os­kar in der „Blech­trom­mel“ von Gün­ter Grass oder an „Schla­fes Bru­der“ von Ro­bert Schnei­der. An­de­re Vor­na­men sind Ja­qui, das „Ri-Ra-Ras­se-Weib“, das sich als „Ran­da­lie­re­rin“ ent­puppt, oder Haka, ein tür­ki­scher Vor­na­me per­si­scher Her­kunft. An­sons­ten wim­melt es von Mam, Mom, Mum und Dad etc. Eine of­fen­sicht­lich mul­ti­na­tio­na­le Fa­mi­lie ist hier im Entstehen.

Gegensätzlichkeit als Unruhe der Lebensuhr

Jörg Schieke - Antiphonia - Gedicht - Poetenladen - Glarean MagazinDas buch­star­ke Pro­sa­ge­dicht „An­ti­pho­nia“ in sie­ben Abteilungen/Kapiteln be­ginnt mit der Ge­burt, und zwar so, dass ein Paar „aus Lie­be drei Kin­der ver­öf­fent­licht“. Apro­pos „ver­öf­fent­licht“: ein an­rei­zen­der Ein­stieg, der auf­hor­chen lässt und den Le­ser so­fort mit­nimmt. Nicht ge­plant oder ge­dacht oder ge­zeugt oder ge­bo­ren oder in die Welt ge­setzt – et­was be­reits Vor­han­de­nes wird in die Öf­fent­lich­keit als fer­tig, er­wach­sen, reif ent­las­sen, so­mit zu ei­ner öf­fent­li­chen Per­son. Wird der wei­te­re Ver­lauf eine Fa­bel, eine Fa­mi­li­en­sa­ga, ein Mär­chen ge­bä­ren? Je­den­falls er­ken­nen sich die Per­so­nen im Lau­fe der Ent­fal­tung alle ir­gend­wie und ir­gend­wann wie­der. Selbst­re­dend ge­hö­ren ein Hund und wei­te­re Kli­schee- re­spek­ti­ve Mode-Ac­ces­soires der Neu­zeit zu die­sem Ver­bund, der sich – Ach­tung Anti… ! – selbst in­fra­ge stellt, wi­der­spricht, aber durch sei­ne dy­na­mi­sche Ge­gen­sätz­lich­keit als Un­ru­he die Le­bens­uhr am Ti­cken hält. Die un­ge­wohn­ten Wort­kom­bi­na­tio­nen und -spie­le fal­len ins Auge, er­we­cken aber gleich­zei­tig eine mit­den­ken­de Span­nung, die die Krea­ti­vi­tät des Au­tors sehr schnell und mit Leich­tig­keit auf den Le­ser über­sprin­gen lässt.

Sprachlich gelungene Lyrik

Nie zu­vor habe ich so vie­le Man- und All­ge­mein­platz-Sät­ze, Apho­ris­men und Ka­len­der­sprü­che in ei­nem als Ge­dicht be­zeich­ne­ten Werk ge­fun­den. Jörg Schie­ke setzt sie in ei­nen Zu­sam­men­hang, in dem sie iro­nisch oder sa­ti­risch, aber nicht wie Ka­lau­er klin­gen. Denn ih­nen fol­gen so­gleich Ver­se wie bei­spiels­wei­se „Der Mond woll­te Ha­kan ein Ge­heim­nis anvertrauen“.
Sprach­lich ge­konnt, ach was, ich will eu­pho­risch sein: ge­lun­gen. Mich be­geis­tern ein­fach Wen­dun­gen wie „Kre­dit für eine Rei­se nach Kre­ta di Mal­lor­ca“ oder „Die Wim­per in … Schlaf ein­ge­packt“. Nicht we­ni­ger: „… aus dem Mac/gebrochene Ap­fel­tas­te…“ Je­des Wort ist zu be­to­nen, so wich­tig ist es an sei­nen Ort ge­setzt. Schie­ke schmet­tert pau­sen­los ein im­menses Sam­mel­su­ri­um an ak­tu­el­len Key­words auf das Blick- und Hör­feld. Ich wur­de von sei­nen Schmet­ter­sät­zen und der­ar­ti­gen Wort­se­quen­zen ge­trof­fen und spiel­te das Match bis zum Ende mit.

An­ti­pho­nia“ kommt mir vor wie die Kind­heits­wie­ge, die durch die Zei­ten­läu­fe schau­kelt, ge­le­gent­lich an­eckt, um da­durch neu­en Dri­ve zu be­kom­men oder wie­der in die Ba­lan­ce ge­stos­sen zu wer­den, bis sie er­neut ge­gen ei­nen Irr­witz stösst, der sie in leicht ge­än­der­ten Nu­an­cen mit neu­em Schwung und Ge­gen­schwung wie­gen lässt. Hin­zu kommt eine un­glaub­lich viel­sei­ti­ge The­men­la­dung. Man kann die­ses Ge­dich­t­epos im Flug durch­strei­fen, aber er­fas­sen wird man es nach mehr­ma­li­gem Le­sen und Stu­die­ren nicht so schnell, zu­min­dest nicht in sei­ner Kom­ple­xi­tät. Es bleibt ein lang­wäh­ren­der klin­gen­der Ton­satz, kom­po­niert aus dem Ge­gen­warts­wort­schatz in der Art von Call-and-re­spon­se-Ge­sän­gen. Das Ge­heim­nis um das „An­ti­phon“ wird erst auf Sei­te 62 gelüftet.

Die Alltagswelt imaginiert

Jörg Schieke - Autor von Antiphonia - Rezension im Glarean Magazin
Jörg Schie­ke (Geb. 1965 in Rostock)

Be­müht, mög­lichst vie­le Be­deu­tungs­schich­ten zu fas­sen, ohne sich bes­ser­wis­se­risch auf eine fest­zu­le­gen, lässt Schie­ke dem frei­en Geist Spiel­raum, sei­ne Er­kennt­nis ge­sell­schafts-, welt­po­li­tisch oder mensch­heits­ge­schicht­lich zu ge­wich­ten. Mir kommt die For­de­rung Karl Kro­lows an den Ly­ri­ker in den Sinn. Er sol­le ein „hei­te­rer Zau­be­rer sein, dem eine gan­ze Welt der Ima­gi­na­ti­on zur Ver­fü­gung steht“. Hei­ter sind Schie­kes Ver­se nicht über­wie­gend, aber sie ima­gi­nie­ren die All­tags­welt so­wie de­ren Über- oder Hin­ter­welt und ver­set­zen den Le­ser, nach­dem sie ihn kurz vom Spiel­feld ge­ho­ben ha­ben, wie­der zu­rück und hin­ein, al­ler­dings ein, zwei Schrit­te wei­ter als zuvor.
Ab dem drit­ten Ab­schnitt, nach der Ent­fal­tung der Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­se die­ser mul­ti­na­tio­na­len und viel­cha­rak­ter­li­chen Fa­mi­lie, geht es um Gold, Geld und hoch­ge­steu­er­te Pro­duk­ti­ons­pro­zes­se. Ku­rio­se Wort­schöp­fun­gen (etwa „Rau­fa­ser­ga­lee­ren“) zeich­nen die Ge­schich­te ei­ner to­tal ver­rück­ten Fa­mi­lie ali­as Ge­sell­schaft aus, die nicht er­ken­nen will, dass sie un­ter „… Zu viel Erinnerung//bei zu we­nig Ver­gan­gen­heit …“ leidet.

Durchkomponierte Prosa-Lyrik

Nach dem Le­sen deu­tet sich das pho­to­freie Co­ver als prä­gnan­te In­halts­an­ga­be. Drei mal drei Schei­ben mit vier Wort­rin­gen aus Ver­sen lie­gen an- und teils über­ein­an­der und um­schlies­sen Au­toren­na­men und Ti­tel so­wie Un­ter­ti­tel. Die mitt­le­re Schrift­far­be in zar­tem Wachs­grün, die bei­den lap­pen­den in ge­setz­ter Dru­cker­schwär­ze. Die Schei­ben rei­ben sich, ro­tie­ren und re­vol­tie­ren. Das Ti­tel­wort steht kopf, will auf die Füs­se ge­stellt wer­den. Es könn­ten aber auch Schall­wel­len aus Wör­tern sein, die sich im Buch­sta­ben­meer kon­zen­trisch aus­brei­ten wie mög­li­cher­wei­se der Stein der Wei­sen. Ein­präg­sa­mer ist die „An­ti­pho­nia“ gra­phisch wohl nicht um­zu­set­zen. Wenn das nicht der end­gül­ti­ge Be­weis für eine bis zur letz­ten Note durch­kom­po­nier­te Pro­sa­ly­rik ist, die der Leip­zi­ger Poe­ten­la­den-Ver­lag ge­outet hat… Wer üb­ri­gens ei­nen Aus­zug von „An­ti­pho­nia“ auch klang­lich wahr­neh­men möch­te, fin­det ei­nen rund drei­mi­nü­ti­gen Stream bei Lyrikline.org.

FAZIT: „An­ti­pho­nia“ von Jörg Schie­ke ist ein Pro­sa-Ge­dicht-Stück, das in wort­schöp­fe­ri­scher Sprach­ge­wandt­heit die ge­gen­wär­ti­ge Ge­sell­schaft und le­bens­prä­gen­den Ge­pflo­gen­hei­ten ab­bil­det. Wer Ge­dicht wei­ter­hin als me­lo­di­sche Text­form ver­steht, muss sei­ne Ty­pi­sie­rung weg­le­gen, um in den Voll­ge­nuss der neu­ar­ti­gen ly­ri­schen Ge­stal­tung zu kommen.

An­ti­pho­nia“ von Jörg Schie­ke ist ein Pro­sa-Ge­dicht-Stück, das in wort­schöp­fe­ri­scher Sprach­ge­wandt­heit die ge­gen­wär­ti­ge Ge­sell­schaft und le­bens­prä­gen­den Ge­pflo­gen­hei­ten ab­bil­det. Wer Ge­dicht wei­ter­hin als me­lo­di­sche Text­form ver­steht, muss sei­ne Ty­pi­sie­rung weg­le­gen, um in den Voll­ge­nuss der neu­ar­ti­gen ly­ri­schen Ge­stal­tung zu kommen. ♦

Jörg Schie­ke: An­ti­pho­nia – Ge­dicht, 80 Sei­ten, Pe­oe­ten­la­den-Ver­lag Leip­zig, ISBN 978-3-940691-93-4

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