Aldous Huxley: Essays Band II – Form in der Zeit

Über die Entmenschlichung der Gesellschaft

von Hei­ner Brückner

War­um soll­te man heu­te noch den Au­tor Al­dous Hux­ley (1894 bis 1963) le­sen? Sei­ne pro­vo­kan­ten, na­he­zu sar­kas­ti­schen Vi­sio­nen in „Schö­ne neue Welt“, dass der tech­ni­sche Fort­schritt die Mensch­heit ent­mensch­li­chen wer­de, sind, wenn man das so se­hen will, zum Gross­teil ve­ri­fi­ziert. Wenn­gleich die Mensch­heit sich mit­ent­wi­ckelt hat und sich auch der ex­plo­si­ons­ar­ti­gen Wei­ter­ent­wick­lung der High-Tech­no­lo­gie an­pas­sen wird. Das nennt man wohl Evolution.

Aldous Huxley - Essays 2 - Form in der Zeit - Cover - Piper Verlag - Rezension Glarean MagazinThe­ma­tisch neh­men die Wer­ke des eng­li­schen Jour­na­lis­ten, Thea­ter­kri­ti­kers und spä­te­ren Ro­man­ciers, der 1937 in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten aus­ge­wan­dert ist, vor­ran­gig die Ent­mensch­li­chung der Ge­sell­schaft durch wis­sen­schaft­li­che Se­lek­ti­on, Auf­zucht und Nor­mie­rung von Men­schen im Fort­schritt der Welt­staat-Ge­sell­schaft in ih­ren Fo­kus. Ge­ra­de des­we­gen soll­te man die Hin­ter­grün­de der Denk­welt die­ses Vi­sio­närs ken­nen ler­nen. Eine hin­rei­chen­de Mög­lich­keit bie­ten sei­ne Es­says im 2. Band der Rei­he, die ak­tu­ell der Pi­per-Ver­lag ver­öf­fent­licht hat. Be­son­ders was die For­men von Li­te­ra­tur, Ma­le­rei und Mu­sik sei­ner Zeit be­trifft, wäh­rend der ers­te Es­say-Band vor­wie­gend Rei­se­be­rich­te ge­sam­melt hat. Es­says und we­ni­ge Ge­dich­te aus Buch­aus­ga­ben und Zeit­schrif­ten von 1923 bis 1971 wur­den zu­sam­men­ge­stellt. In­ten­si­vie­ren und ver­tie­fen kann der Le­ser die Tex­te an­hand des mit­ge­lie­fer­ten aus­führ­li­chen Anmerkungsapparates.

Wirkung und Grenzen der Kunst

Literarischer Visionär und Gesellschaftskritiker: Aldous Huxley (1894-1963)
Li­te­ra­ri­scher Vi­sio­när und Ge­sell­schafts­phi­lo­soph: Al­dous Hux­ley (1894-1963)

Im Vor­wort, das nicht nur eine Vor­re­de ist, son­dern be­reits als Es­say ver­stan­den wer­den darf, skiz­ziert er die Wirk­macht und Gren­zen der drei ge­nann­ten Kunst­for­men. Mu­sik und Ma­le­rei ver­mö­gen die Gleich­zei­tig­keit des Un­ver­ein­ba­ren aus­zu­drü­cken. Aber kann das die Li­te­ra­tur eben­so? „Wir kön­nen zu glei­cher Zeit mehr als ei­nes se­hen und mehr als ei­nes hö­ren, doch lei­der Got­tes kön­nen wir nicht mehr als ei­nes auf ein­mal le­sen.“ Er habe des­we­gen vor­ge­zo­gen, „… tan­gen­ti­al, über Kunst zu schrei­ben“. Der Ge­gen­stand der Poe­sie müs­se aus dem „in­ne­ren Sein“ des Dich­ters kom­men, auch wenn sein Uni­ver­sum „nur eine klei­ne Pro­vinz“ be­an­spru­chen kann. Sei­nen Geist stützt er beim Schrei­ben auf eine Samm­lung gu­ter Bücher.
Hux­ley ist stets be­müht in den Es­says die Sicht der ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung über den Zeit­geist hin­aus in der Zu­kunft ins Vi­sier zu neh­men. Das Cha­os, in dem das Ge­gen­teil en­det, hat er in sei­nen Ro­ma­nen ver­an­schau­licht. Vor al­lem in der „Schö­nen neu­en Welt“(1932). Dort ent­wi­ckel­te sich aus rei­nem Ver­gnü­gungs-In­ter­es­se eine Or­gie, an de­ren Ende der Prot­ago­nist nach dem Auf­wa­chen Sui­zid begeht.

Verständlich erklärt und brillant geschrieben

Nicht nur sei­ne Denk­art als Schrift­stel­ler bringt er uns nä­her, er ver­mit­telt auch die Ba­sics ei­ner Theo­rie von Li­te­ra­tur und Kunst, in­dem er ver­ständ­lich er­klärt und bril­lant, of­fen ge­stän­dig und un­ge­schminkt vom Ge­müt und von der Am­bi­va­lenz schrift­stel­le­ri­schen Schrei­bens und des ei­ge­nen so­wie des Le­sers An­spruch an sei­ne The­ma­tik und For­ma­tik er­zählt. Er lässt dar­in die Ei­tel­keit des Au­tors und Kri­tik­ver­dros­sen­heit nicht un­er­wähnt. Ne­ben­bei ist eine ex­klu­si­ve Short­list ei­ner in­di­vi­du­el­len Li­te­ra­tur­ge­schich­te des 18. bis 20. Jahr­hun­derts und kri­ti­sche An­mer­kun­gen bis hin zu Re­zen­sio­nen be­deu­ten­der Wer­ke der Welt­li­te­ra­tur ent­stan­den. Das leis­tet die Wür­di­gung be­rühm­ter Klas­si­ker, aber vor al­lem auch we­ni­ger be­kann­ter Au­toren, die Hux­ley so­mit in den Rang der Ex­klu­si­vi­tät er­hebt. Nur we­ni­ge sei­en an­ge­führt: Die Ita­lie­ner, die „aus hun­dert­jäh­ri­gen Ge­denk­fei­en Le­bens­freu­de“ schöp­fen, oder sein Lands­mann Ed­ward Lear mit sei­nem „Non­sen­se“, der ihm als ei­ner der we­ni­gen „auf eine zwei­te Lek­tü­re Lust“ macht. Oder der „Wüst­ling“ Bau­de­lai­re als „gros­ser Phi­lo­soph“. Die­se An­deu­tun­gen sol­len ge­nü­gen, um auf die Sphä­re der un­be­ding­ten Les­bar­keit Huxley’scher Es­says auf­merk­sam zu ma­chen und dar­auf, „dass das Le­ben es wert ist, ge­lebt zu werden“.

Was ist eigentlich „modern“?

FAZIT: Die in gut nach­voll­zieh­ba­rem und les­ba­rem Er­zähl­stil, ohne aka­de­misch-tro­cke­ne Wis­sen­schaft­lich­keits­al­lü­ren ver­fass­ten Es­says von Al­dous Hux­ley „Form in der Zeit“ er­schlies­sen den Hin­ter­grund des Denk­ho­ri­zonts und der Er­le­bens­welt des Dich­ters und kom­men­tie­ren ge­konnt sub­jek­tiv wich­ti­ge Epo­chen und ihre kul­tur­his­to­ri­schen Ver­tre­ter in der Li­te­ra­tur, Ma­le­rei und (bruch­stück­haft) Mu­sik der drei ver­gan­ge­nen Jahrhunderte.

Was für die Li­te­ra­tur gilt, stim­me auch für die Bil­den­de Kunst. In die­sem Ab­schnitt gibt Hux­ley eine Ant­wort auf die Fra­ge, was ei­gent­lich „mo­dern“ heisst und wer oder was ein Ma­ler sei. Aus­ge­wählt wur­den vor­wie­gend Es­says zu Breu­ghel, El Gre­co und Goya. Und er be­schäf­tigt sich mit dem Ver­hält­nis von Kunst und Re­li­gi­on am „rät­sel­haf­ten Fall der Ba­rock­kunst und des Ka­tho­li­zis­mus im 17. Jahr­hun­dert“. Im Ba­rock fühl­ten sich die Künst­ler ver­mut­lich „Zur Er­kun­dung des Über­mäs­si­gen ver­an­lasst“. Am Ende spiel­ten vie­le, auch ge­gen­sätz­li­che De­ter­mi­nan­ten die ent­schei­den­de Rol­le. Selbst im Zeit­al­ter der Atom­phy­sik blüh­ten As­tro­lo­gie und der Glau­be an Zah­len. Hux­ley ge­langt zu dem Schluss, dass Kunst und re­li­giö­ses Le­ben eher im Ne­ben­her als in der Ver­schmel­zung existierten.
Am kür­zes­ten fällt die Ru­brik über Mu­sik aus. Beet­ho­ven habe sei­nes Er­ach­tens Glück­se­lig­keit im „Be­ne­dic­tus“ zum Aus­druck ge­bracht. Im All­ge­mei­nen sei aber die Wahr­heit ei­nes Mu­sik­stü­ckes nicht iso­liert zu be­trach­ten, folg­lich auch nicht in Wor­te zu fas­sen. „Der Rest ist Schwei­gen“ – so ein Es­say-Ti­tel. Und Ge­su­al­do mit „Va­ria­tio­nen über ein mu­si­ka­li­sches Thema“.

Die in gut nach­voll­zieh­ba­rem und les­ba­rem Er­zähl­stil, ohne aka­de­misch-tro­cke­ne Wis­sen­schaft­lich­keits­al­lü­ren ver­fass­ten Es­says von Al­dous Hux­ley er­schlies­sen den Hin­ter­grund des Denk­ho­ri­zonts und der Er­le­bens­welt des Dich­ters und kom­men­tie­ren ge­konnt sub­jek­tiv wich­ti­ge Epo­chen und ihre kul­tur­his­to­ri­schen Ver­tre­ter in der Li­te­ra­tur, Ma­le­rei und (bruch­stück­haft) Mu­sik der drei ver­gan­ge­nen Jahrhunderte. ♦

Al­dous Hux­ley: Es­says Band II – Form in der Zeit, Über Li­te­ra­tur, Kunst, Mu­sik, 336 Sei­ten, Pi­per Ver­lag, ISBN 978-3-492-50111-8

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Ge­sell­schafts­kri­tik auch das Zi­tat der Wo­che: Von den Deck­män­tel­chen „Mo­der­ni­sie­rung“ und Flexiblisierung“

Ein Kommentar

  1. Gute Re­view! Und das hu­ma­nis­ti­sche An­lie­gen von Hux­ley, so­weit in die­sen Es­says zum Aus­druck kom­mend, gut dar­ge­stellt. Ich mei­ne auch, dass die „Ent­mensch­li­chung der Ge­sell­schaft“ hin zur om­ni­prä­sen­ten Ver­ding­li­chung des Hu­ma­nen das al­ler­grös­te Pro­blem der zu­künf­ti­gen Mensch­heit wer­den wird. Noch viel dra­ma­ti­sche als Hun­ger und Krieg. Wenn jetzt schon Ro­bo­ter die Al­ten­pfle­ge über­neh­men müssen:
    https://www.rundschau-online.de/aus-aller-welt/moderne-altenpflege-roboter-als-entertainer-und-pfleger-im-altenheim-29825340
    Wer­de mir wohl die­se Es­says zu­le­gen. Dan­ke! Ingo

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