Thomas Luther: Schachtraining – Das U10-Projekt

Informativ für Kinder- und Jugendschach-Trainer

von Thomas Binder

Der aus Er­furt stam­men­de Gross­meis­ter Tho­mas Lu­ther (u.a. Deut­scher Ein­zel­meis­ter 1993) muss dem Le­ser nicht mehr vor­ge­stellt wer­den. In letz­ter Zeit hat er sei­nen Tä­tig­keits­schwer­punkt auf die Ar­beit als Trai­ner ge­legt. Im Im­pres­sum wird er als FIDE-Se­ni­or-Trai­ner und Lec­tu­rer prä­sen­tiert. Mit „Das U10-Pro­jekt“ legt er ein Werk vor, das aus die­sem Blick­win­kel höchs­ten An­sprü­chen ge­recht wird. Da­bei passt auch das äus­se­re Um­feld her­vor­ra­gend: Lay­out, Lek­to­rat und Schreib­stil be­stä­ti­gen den Ge­samt­ein­druck ei­nes sorg­fäl­tig er­stell­ten und rund­um ge­lun­ge­nen Werkes.

Thomas Luther - Schachtraining für Kids - Das U10-Projekt - Jugendschach Verlag DresdenZu­nächst sei je­doch mit gleich zwei mög­li­chen Miss­ver­ständ­nis­sen auf­ge­räumt, die der Ti­tel ver­ur­sa­chen könn­te. Ich dach­te spon­tan an das ak­tu­ell vom Deut­schen Schach­bund ge­push­te Pro­jekt zur Aus­bil­dung jun­ger Schach­ta­len­te mit sehr ho­hem Leis­tungs­an­spruch durch die Schach­schu­le von GM Jus­su­pow. Dazu hat das vor­lie­gen­de Buch je­doch eben­so we­nig ei­nen Be­zug, wie es sich auf die im Ti­tel an­ge­spro­che­ne Al­ters­klas­se be­schränkt. Auch Trai­ner und Be­treu­er et­was äl­te­rer Schach­spie­ler kön­nen aus die­ser Ar­beit viel Wis­sens­wer­tes und in­ter­es­san­te An­re­gun­gen entnehmen.

Fehlerursachen in der Altersklasse U10

Im ers­ten Teil des Bu­ches stel­len Lu­ther und sei­ne Co-Au­toren quan­ti­ta­ti­ve Er­geb­nis­se ih­rer Stu­die vor. An­hand aus­ge­wähl­ter Deut­scher und Welt-Meis­ter­schaf­ten bis zur Al­ters­klas­se U10 un­ter­su­chen sie das in die­sem Al­ter er­reich­te Spiel­ni­veau und be­wer­ten die Feh­ler­ur­sa­chen. Der zwei­te Ab­schnitt prä­sen­tiert um­fang­reich (ca. 50 Sei­ten) und sehr fun­diert ty­pi­sche Spiel­si­tua­tio­nen. Da wird deut­lich er­kenn­bar, wo die De­fi­zi­te jun­ger Schach­spie­ler lie­gen, und wie man sie ge­zielt an­ge­hen kann. Um die jun­gen Spie­ler nicht an­hand ih­rer schwä­che­ren Leis­tun­gen zu „de­mon­tie­ren“, sind die­se Par­tien kon­se­quent an­ony­mi­siert, al­ler­dings je­weils durch die Be­nen­nung des Tur­niers und die An­ga­be von Elo-Zah­len dokumentiert.

Es fol­gen ca. 120 Sei­ten un­ter dem Ti­tel „Un­se­re Tests“. Für den prak­tisch ori­en­tier­ten Schach­trai­ner ist dies si­cher der an­re­gends­te Teil, kann er doch hier ge­eig­ne­te Auf­ga­ben für sei­ne ei­ge­ne Ar­beit über­neh­men. Die ins­ge­samt 230 Test­stel­lun­gen sind in fünf Grup­pen un­ter­teilt, zu­nächst nach wach­sen­der Schwie­rig­keit für ein­zel­ne Leis­tungs­grup­pen, dann in ei­nem se­pa­ra­ten End­spiel-Teil. Auch in die­sem Ka­pi­tel blei­ben die Spie­ler an­onym. Die je­wei­li­gen Lö­sungs­be­spre­chun­gen kön­nen eben­so wie der vo­ri­ge Ab­schnitt je­weils für sich als klei­ne Lek­ti­on zum an­ge­spro­che­nen Mo­tiv ver­wen­det werden.

Wissenschaftlich anspruchsvolle Betrachtung

Thomas Luther - Glarean Magazin
Tho­mas Luther

In ei­nem kür­ze­ren vier­ten Ka­pi­tel „Ta­lent und Wun­der­kin­der“ kehrt Lu­ther zur prin­zi­pi­el­len und wis­sen­schaft­lich an­spruchs­vol­len Be­trach­tung zu­rück, stellt sei­ne Ge­dan­ken und Er­fah­run­gen zur Dis­kus­si­on. Ähn­lich prä­sen­tiert sich das ab­schlies­sen­de Ka­pi­tel „Trai­ning und Trai­ner“ mit Ge­dan­ken zu zweck­mäs­si­gen Trai­nings­an­sät­zen und zur Ar­beit des Trainers.
Da­zwi­schen liegt noch ein Ab­schnitt „Der nächs­te Schritt“, in dem Lu­ther an­hand ei­ni­ger Po­si­tiv-Bei­spie­le (jetzt mit Na­mens­nen­nung) ver­deut­licht, wie man sich den Leis­tungs­fort­schritt zur nächs­ten Al­ters­klas­se u12 vor­stel­len kann. Die­ser Ver­gleich ist frei­lich nicht ganz wi­der­spruchs­frei: Hat­te man in der U10 vor­wie­gend die Un­zu­läng­lich­kei­ten de­mons­triert, wer­den jetzt „leuch­ten­de Ein­zel­bei­spie­le“ vor­ge­führt, wo sich doch si­cher auch hier noch reich­lich „Ge­pat­ze“ ge­fun­den hätte.

Betont kritische Beurteilungen

Es gibt we­ni­ge Punk­te, an de­nen ich mit dem Au­tor in kon­tro­ver­sen Dia­log tre­ten möch­te. So geht er manch­mal mit den Spie­lern all­zu hart ins Ge­richt – viel­leicht auch, weil er auf ein­zel­ne Par­tien schaut statt auf gan­ze Per­sön­lich­kei­ten. Dras­ti­sches Bei­spiel ist eine – zu­ge­ge­ben grot­ten­schlech­te – Par­tie aus der U10-WM 2014:
1.e4 c5 2.Lc4 Sc6 3.Sf3 a6 4.Sg5(?) e6 5.Df3?? Dxg5 6.d3?? Dxc1 7.Ke2? Sd4#
Lu­ther kom­men­tiert nun u.a: „Kin­dern auf die­ser An­fän­ger­stu­fe tut man mit ei­ner WM-Teil­nah­me ver­mut­lich nichts Gu­tes […] dies hier ist ab­so­lut nicht akzeptabel.“
Ich habe mir nun die ge­rin­ge Mühe ge­macht, den Spie­ler zu iden­ti­fi­zie­ren und et­was ge­nau­er hin­zu­schau­en. Es han­delt sich um ein Kind aus Ke­nia. Die vor­ge­stell­te Par­tie ist ein Ex­trem­bei­spiel, un­ter sei­nen üb­ri­gen WM-Par­tien sind durch­aus „nor­ma­le“ U10-Par­tien. Er hat in die­sem Tur­nier im­mer­hin 4,5 Punk­te aus 11 Par­tien er­reicht und sich als ei­ner der jüngs­ten Spie­ler im hin­te­ren Mit­tel­feld plat­ziert. Im Jahr da­vor ver­trat er sein Land be­reits bei der U8-Welt­meis­ter­schaft. Der Ver­gleich bei­der Tur­nie­re zeigt eine deut­lich po­si­ti­ve Ent­wick­lung des Jungen.

Probeseite aus Thomas Luther: Das U10-Projekt (Schachtraining für Kids)
Pro­be­sei­te aus Tho­mas Lu­ther: Das U10-Pro­jekt (Schach­trai­ning für Kids)

Grosse Leistungsstreuung bei Kindern

Mit Blick auf mei­ne ei­ge­nen Trai­ner-Er­fah­run­gen ist der vor­ge­stell­te Fall ein schö­ner Be­leg für zwei Be­ob­ach­tun­gen, die ich re­gel­mäs­sig mache:

  • Kin­der die­ser Al­ters­klas­se ha­ben un­ab­hän­gig vom ab­so­lu­ten Spiel­ni­veau von Par­tie zu Par­tie eine enor­me Leis­tungs­streu­ung. Die „ge­fühl­te“ Spiel­stär­ke kann selbst in­ner­halb ei­nes Tur­niers um mehr als 500 Elo-Punk­te schwanken.
  • Bei un­vor­her­ge­se­he­nen Er­eig­nis­sen re­agie­ren die­se Kin­der ir­ra­tio­nal. Ra­tio­nal wäre es ge­we­sen, nach dem ers­ten Fi­gu­ren­ver­lust ent­we­der auf­zu­ge­ben oder mit vol­ler Kon­zen­tra­ti­on und Kampf­geist eine Wen­de zu ver­su­chen – in die­ser Al­ters­klas­se kei­nes­wegs ein aus­sichts­lo­ses Un­ter­fan­gen. Statt des­sen wird im Blitz­tem­po wei­ter­ge­spielt und Feh­ler an Feh­ler ge­reiht, bis zum dras­ti­schen Ende.

Erst mit der all­ge­mei­nen per­sön­li­chen Rei­fung etwa ab der Al­ters­klas­se U14 er­rei­chen die jun­gen Schach­spie­ler auf ih­rem je­wei­li­gen Leis­tungs­le­vel ein „er­wach­se­neres“ Pro­fil und eine grös­se­re Leis­tungs­kon­stanz. Es wäre in­ter­es­sant zu se­hen, wenn Lu­ther mit sei­nem wis­sen­schaft­lich ge­präg­ten In­stru­men­ta­ri­um die­se Ent­wick­lungs­etap­pen nä­her un­ter­sucht und ent­spre­chen­de Schluss­fol­ge­run­gen anbietet.

Lehrreich und angenehm zu lesen

FAZIT

Schach­trai­ning für Kids – Das U10-Pro­jekt“ von GM Tho­mas Lu­ther und Co-Au­toren rich­tet sich vor­wie­gend an Trai­ner, die jun­ge und jüngs­te Schach­spie­ler mit ho­hem Leis­tungs­an­spruch un­ter­rich­ten. Es bie­tet fun­dier­te Un­ter­su­chun­gen zur Spiel­stär­ke in die­sem Al­ters­be­reich, un­ter­sucht die Feh­ler­quel­len und gibt ih­nen eine gros­se Aus­wahl an Test- bzw. Lehr­stel­lun­gen an die Hand. In­halt­li­ches Ni­veau und äus­se­re Ge­stalt wer­den dem ho­hen An­spruch der Au­toren gerecht.

Ins­ge­samt bleibt auch für ei­nen er­fah­re­nen Ju­gend­trai­ner ein sehr lehr­rei­ches und an­ge­nehm zu le­sen­des Buch aus ei­nem bis­lang kaum ab­ge­deck­ten Wis­sens­seg­ment. Die Lek­tü­re ist al­ler­dings vor al­lem in den „theo­re­ti­schen“ Ka­pi­teln an­spruchs­voll, Lu­ther schreibt recht dicht und setzt stän­di­ge Auf­merk­sam­keit und ge­wis­se Vor­kennt­nis­se vor­aus – für Schach­spie­ler ja wohl kei­ne un­bil­li­ge Anforderung.
Wich­tigs­te Ziel­grup­pen des Bu­ches sind Kin­der- und Ju­gend­schach­trai­ner. Auch wenn sie über die im Ti­tel ge­nann­te Al­ters­klas­se hin­aus tä­tig sind, ist das Buch eine frucht­ba­re In­spi­ra­ti­on. El­tern, die ihre Spröss­lin­ge auf dem Start in die Schach­kar­rie­re be­glei­ten, be­kom­men ei­nen Ein­druck vom Her­an­ge­hen ei­nes leis­tungs­ori­en­tier­ten Trai­ners, soll­ten sich da­bei aber im­mer über die ei­ge­nen An­sprü­che im Kla­ren sein. Nicht je­der wird sei­ne Schütz­lin­ge zu ei­ner Deut­schen oder gar Welt-Meis­ter­schaft füh­ren, ein Buch wie die­ses wird ihm den­noch vie­le in­ter­es­san­te Im­pul­se vermitteln. ♦

Tho­mas Lu­ther: Schach­trai­ning für Kids – Das U10-Pro­jekt, Ju­gend­schach-Ver­lag Dres­den, 252 Sei­ten, ISBN 978-3-944710-32-7

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Ju­gend­schach-Päd­ago­gik und -For­schung auch über Ma­ri­on Bönsch-Kau­ke: Klü­ger durch Schach

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