Andreas Wieland: Famulus (Novelle)

Ein Buch über Verluste

von Bernd Giehl

Wenn ich mir den Au­tor An­dre­as Wie­land vor­stel­le, dann sehe ich ihn in ei­ner ein­fa­chen Block­hüt­te in den Ber­gen vor ei­nem Blatt Pa­pier sit­zend. Er grü­belt. Zwar hat er schon Dut­zen­de von Sei­ten sei­nes neu­en Werks „Famu­lus“ ge­schrie­ben, aber die lie­gen wohl ver­staut im ver­schlos­se­nen Kü­chen­schrank, und den Schlüs­sel hat er sei­ner Frau ge­ge­ben, die ihn um den Hals trägt. Sie kennt ihn. Je­den Tag sitzt er ab sechs Uhr in der Früh‘ am Schreib­tisch, mit Blick zum klei­nen Fens­ter und ringt mit den Wor­ten, die sich sträu­ben und die Fäus­te bal­len. Die ihn manch­mal grün und blau schla­gen, so­dass er hinkt. Wenn er ei­nen An­fall hat, ist es schon vor­ge­kom­men, dass al­les, was er ge­schrie­ben hat, im Ofen zu Asche ver­glüht ist. Da­her der Schlüssel.

Ein Mann jenseits der sechzig

Mög­lich, dass kein Wort an die­sem Por­trät stimmt und Wie­land an ei­ner lär­men­den Stras­sen­kreu­zung in Chur wohnt, wo alle drei Mi­nu­ten eine Stras­sen­bahn vor­bei bim­melt. Falls es dort Stras­sen­bah­nen gibt; ich war nie dort. Ver­mut­lich stimmt das Por­trät nicht, weil Wie­land kein me­di­en­scheu­er Dich­ter ist und auch nicht als welt­ent­rück­ter Klaus­ner sei­ne Bü­cher schreibt. Er hat an Wett­be­wer­ben teil­ge­nom­men, ei­nen Preis ge­won­nen, er be­treibt eine Ga­le­rie; es gibt Pres­se­fo­tos. Mein Por­trät be­schreibt eher den „Famu­lus“, ei­nen Mann jen­seits der sech­zig, der aus dem Fens­ter sei­ner Berg­klau­se sei­ner jun­gen Frau zu­sieht, die ihr Kind trägt und ihm zu­winkt. Er woll­te kein Kind. Aber er liebt sie. Auf­rich­tig. Auch an­de­re Frau­en hat er be­gehrt, aber sie ha­ben ihn nicht erhört.

Tagebuch in der Novelle

Wäh­rend­des­sen schreibt er ein Ta­ge­buch, das wir im „Famu­lus“ le­sen kön­nen. Der Ich-Er­zäh­ler be­schreibt nicht, wie er ar­bei­tet, aber ich könn­te mir vor­stel­len, dass er alle zehn Mi­nu­ten auf­steht und sich ei­nen Tee kocht. Oder sich aus der Räu­cher­kam­mer et­was zum Es­sen holt. Und dann nach­sieht, ob noch Feu­er im Herd brennt und er die Tür zur Räu­cher­kam­mer wie­der ver­schlos­sen hat. Er sucht nach er­le­se­nen Bil­dern. Streicht wie­der aus, was er ge­schrie­ben hat. For­mu­liert neu. Er be­sitzt kei­nen Com­pu­ter. Nicht mal ei­nen Tri­umph Ad­ler Al­phatro­nic PC mit 8 Bit aus dem Jahr 1984 nach der Sintflut.
Famu­lus ist ein Buch über Ver­lus­te. Manch­mal kommt man sich selbst ab­han­den. So­gar im Fe­bru­ar. Der ist der Lieb­lings­mo­nat des Famu­lus. Weil er da wo­mög­lich sei­ne Frau ken­nen­ge­lernt hat, de­ren Na­men er nicht weiss, oder weil da sei­ne Toch­ter ge­bo­ren ist. Es spielt kei­ne Rol­le. Aber er wird sie ver­lie­ren, weil der Fe­bru­ar nicht dau­ert, und weil sie frü­her oder spä­ter ge­hen wird. Manch­mal tas­tet er sich bis in den März vor, aber es geht nur an­satz­wei­se. Er wird ster­ben, oder sie wird ge­hen. Was es ist oder ob es Grün­de gibt, spielt kei­ne Rol­le. Es ist, wie es ist, und so ist die­se No­vel­le ein Buch auf der Gren­ze zwi­schen Le­ben und Tod. Und es ist die­se Gren­ze, die den 63jährigen Famu­lus, den Mann ohne Na­men am meis­ten interessiert.

Dann kommen die Engel, sie sind schrecklich“

Zwi­schen­durch aber wehrt er sich, Hat sei­ne An­fäl­le. „Will end­lich ih­ren Na­men wis­sen. Schreie sie an. Ist nicht das ers­te Mal Habe ich ihr ge­sagt, dass ich sie lie­be? Sie und ihn? Sie und den Fe­bru­ar? Oder woll­te ich es nur tun? Sie schweigt. Spricht nicht mehr. Schreie sie er­neut an. Sage ihr wüs­te Wor­te. Pas­sen nicht zu ihr. Zu mir auch nicht. Will ver­let­zen. Will wis­sen, wie sie heisst. End­lich wis­sen, wie sie heisst. Ist nur ein Name. Famu­lus, sage ich zu mir. Be­ru­hi­ge dich. Aber ich will wis­sen, wo­hin sie geht (S.18).
Dann kom­men die En­gel. Sie sind schreck­lich, Schreck­lich und fremd. Ei­nen küsst er. Sie heis­se „Ma­ria“, sagt sie. Aber es ist nicht sei­ne Frau. Er „will sie schla­gen. Sie an­spu­cken. Sage ihr, dass sie sich hü­ten soll. Und ver­schwin­den.“ (S. 20)

Verführerisch-anschmiegsame Sprache

Andreas Wieland (Geb. 1969)
An­dre­as Wie­land (Geb. 1969)

So könn­te man sei­ten­lang wei­ter zi­tie­ren. Das Buch lädt dazu ein. Sei­ne Spra­che schmiegt sich an. Ist ver­füh­re­risch, auch da, wo sie hart wird, von Dor­nen er­zählt oder da­von, dass die An­ge­be­te­te mer­ken wird, dass er eine frem­de Frau im Arm ge­hal­ten hat. Auch er möch­te da­von­schwim­men ohne Ge­schich­te, so wie Frischs Gan­ten­bein. Es wird ihm nicht gelingen.
„Famu­lus ist ein Buch der Lie­be. Eben­so wie des Has­ses. Auch die Spra­che kann man lie­ben und has­sen, weil sie ein­engt. Fest­legt. Nicht die Luft brennt, son­dern der Sand in den Dü­nen. So­gar das Meer brennt lich­ter­loh. (S 28) Das es im Hoch­ge­bir­ge nicht gibt, aber wen in­ter­es­siert das: man kann ja träu­men. Dass der Famu­lus da­von er­zählt, er wäl­ze sich im Sand, lässt dar­auf schlies­sen, dass ihm die Gren­ze zwi­schen Phan­ta­sie und Wirk­lich­keit im­mer mehr ver­schwimmt. An man­chen Stel­len, vor al­lem ge­gen Ende hin träumt er sich ans Meer. Spürt die Gischt auf sei­ner Haut. Träumt sich in die Wei­te, die er nie er­le­ben wird. Zu­min­dest ist es we­nig wahr­schein­lich Da­für ist er viel zu sehr ge­fan­gen in sei­nem In­ne­ren. Das ihm ja zu­gleich auch Frei­heit be­deu­tet, egal wie ge­fan­gen er sonst sein mag. Viel­leicht gibt es die Frau und das Kind nur in sei­nem Ta­ge­buch. Viel­leicht lebt er an ei­ner be­leb­ten Kreu­zung in Chur statt im Hochgebirge.

Traum-Orte illustriert

Der Il­lus­tra­tor Clau­dio Ca­prez nimmt die Spra­che des Bu­ches, die zu­gleich reich ist und doch im­mer um die sel­ben Mo­ti­ve kreist, gut auf. Sei­ne Zeich­nun­gen sind durch­ge­hend in blau, beige und oran­ge ge­hal­ten und zei­gen sti­li­sier­te Buch­ten, mal mit den Haupt­per­so­nen, mal ohne sie. Es sind Traum­or­te, die nie­mals zu er­rei­chen sind oder erst, wenn der Fe­bru­ar end­gül­tig Ge­schich­te ist. Nur die letz­te Sei­te ist blau und grün (S.32). Aber das ist kei­ne Sei­te, die „Famu­lus“ der Me­lan­cho­li­ker je (in sich) fin­den könn­te. Dazu müss­te er wirk­lich ge­hen. Nach aus­sen. Weg von sich selbst.

Ein Leben nur im Tagebuch

Die kurze, aber tiefgründige, in einer manchmal verführerisch-anschmiegsamen, dann wieder harten Sprache verfasste Novelle "Famulus" von Andreas Wieland ist ein Buch über die Liebe und den Hass. Ein Buch aber auch über Verluste, die seelische (Un-)Tiefen aufwühlen.
Die kur­ze, aber tief­grün­di­ge, in ei­ner manch­mal ver­füh­re­risch-an­schmieg­sa­men, dann wie­der har­ten Spra­che ver­fass­te No­vel­le „Famu­lus“ von An­dre­as Wie­land ist ein Buch über die Lie­be und den Hass. Ein Buch aber auch über Ver­lus­te, die see­li­sche (Un-)Tiefen auf­wüh­len. Il­lus­tra­tor Clau­dio Ca­prez nimmt die Buch-Wel­ten „traum-haft“ auf.

Denn er lebt ja nur in sei­nem Ta­ge­buch. Das er fort­wäh­rend schreibt, die Fin­ger schwarz von Tin­te. Schwarz wie das Meer, von dem er träumt. Das er, Be­woh­ner der Gip­fel der Hoch­al­pen, aber nie er­rei­chen wird, egal wie sehr er sich dort­hin sehnt. Es sei denn, er kann wirk­lich ein An­de­rer werden.
An die­ser Stel­le habe ich eine An­fra­ge an den Au­tor. Ich zweif­le, ob ich das Buch „Famu­lus“ ge­nannt hät­te. Der Famu­lus Wag­ner, ur­sprüng­lich eine Fi­gur aus Goe­thes „Faust“ ist ein be­schränk­ter Mensch, fast eine Ma­rio­net­te, der Faust bei sei­nen Aus­flü­gen ins ge­nia­lisch Un­be­kann­te nicht fol­gen kann. Auch ein sechs­ar­mi­ger In­dus­trie­ro­bo­ter der Fir­ma KUKA hiess „Famu­lus“. Ro­bo­ter ha­ben kei­nen ei­ge­nen Wil­len, son­dern wer­den von Soft­ware ge­steu­ert. Auch sie sind „Ma­rio­net­ten“, ab­hän­gig vom Wil­len ei­nes Ingenieurs.

Famulus der Faust-Schüler

Ge­wiss, der „Famu­lus“ lebt wie Fausts Schü­ler in ei­ner Bü­cher­welt. In ge­wis­sem Sinn ist er „be­schränkt“. Aber wür­de auch die­ser Famu­lus ei­nen Geist für den Vor­trag aus ei­ner grie­chi­schen Tra­gö­die hal­ten? Ich glau­be nicht. Soll­te man ihn wirk­lich Famu­lus nen­nen? Er weiss doch selbst um sei­ne Ein­schrän­kun­gen und will sie be­sie­gen (S.27). Ei­nem „Wag­ner“ wür­de das nie in den Sinn kom­men. Noch im nach Hau­se ge­hen hört er „schö­ne Klän­ge“ (S. 27). Er wird über sich hin­aus­kom­men, den Fe­bru­ar ver­las­sen. Der März klopft schon an. Wird sich ver­las­sen, die Frau, das Kind, wird ster­ben und auf­er­ste­hen und alle wer­den le­ben. Nicht nur in schwar­zer Tin­te. Er wird in See ste­chen. ei­nen Ha­fen an­steu­ern und Frau und Kind neu fin­den (S.31). Da­her auch das Bild in blau und grün am Ende. Ein Hoff­nungs­bild. So vie­le Züge, die über den „Famu­lus“ hin­aus­füh­ren. Zu­min­dest lese ich das in Wie­lands Buch.

Die Abgründe der eigenen Seele

Müss­te die­ser Famu­lus also nicht eher „Pe­ter“ heis­sen, (nach dem ös­ter­rei­chi­schen Dich­ter Pe­ter Ros­ei, (ge­bo­ren 1946), weil auch er in den Ab­grün­den der ei­ge­nen See­le wohnt? Oder viel­leicht noch bes­ser „Odys­seus“, weil er über sie hin­aus will? Viel­leicht nicht ein­mal nach Itha­ka, weil er das ja schon kennt.
Ich weiss nicht wie Wie­land es sieht. Er hat mit dem Ti­tel ei­nen star­ken Hin­weis ge­ge­ben, aber manch­mal wis­sen Fi­gu­ren mehr als der Autor.
Das al­les wird An­dre­as Wie­land mir ver­mut­lich nicht dan­ken, weil Au­toren sich un­gern in Schub­la­den ein­sper­ren las­sen, in de­nen schon an­de­re Au­toren hau­sen. Sie wün­schen sich ihre ei­ge­ne Schub­la­de, in der sie un­ge­stört woh­nen und wüh­len kön­nen. Aber kei­ne Sor­ge, Herr Wie­land. Die sei Ih­nen ge­gönnt. Bit­te, gerne. ♦

An­dre­as Wie­land: Famu­lus – No­vel­le, Il­lus­triert von Clau­dio Ca­prez, 39 Sei­ten, 110th Ver­lag (Chi­chi­li Agen­cy), ISBN 978-3-95865-780-9

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch von An­dre­as Wie­land: Vom Kof­fer in den Mund (Kurz­pro­sa)

… so­wie zum The­ma No­vel­le über Ralf Gün­ther: Als Bach nach Dres­den kam

Ein Kommentar

  1. JOURNALISTISCHE STREICHELEINHEITEN

    Mei­ne Antwort:
    Lie­ber Herr Giehl, 

    recht herz­li­chen Dank für Ihre Re­zen­si­on. Ich weiß dies sehr zu schät­zen. Na ja, das mit der Berg­hüt­te wäre zu schön ge­we­sen. Die Ge­schich­te wur­de in ei­nem Haus (ei­gent­lich mehr Turm als Haus) in der Bünd­ner Herr­schaft ge­schrie­ben. Ohne Lärm, kei­ne Stra­ßen­bahn, an­gren­zend die Weinberge. 

    Ihre Ein­schät­zung zum Titel
    Aber war­um nur, sehr ge­ehr­ter Herr Giehl, soll­te die­ses Buch nicht „Famu­lus“ hei­ßen dür­fen? Nur weil schon Schrift­stel­ler zu­vor, das aus dem la­tei­ni­schen stam­men­de Wort be­nutzt haben?? 

    (lat. „Ge­hil­fe“, „Die­ner“, „Knecht“, Plu­ral famuli/famulae, ver­wandt mit fa­mi­lia, ei­gent­lich „Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ger“) Wiki

    Lässt doch so ei­ni­ges of­fen. Mei­ner Mei­nung nach, ist al­les an­de­re eine un­nö­ti­ge Kon­di­tio­nie­rung. Folg­lich Einschränkung.
    Ich nen­ne mich Wie­land. Ob­schon vie­le vor mir schon so hie­ßen. (nicht zu ernst neh­men, lie­ber Herr Giehl ; ) Sar­kas­mus soll der Tu­gend nahe sein) Wie­land der Schmid. Chris­toph Mar­tin Wie­land. Ul­rich Wie­land. An­dre­as Wieland. 

    Wer vie­les bringt, wird man­chem et­was brin­gen“, heißt es im „Vor­spiel auf dem Thea­ter“ zu Goe­thes „Faust“. Aber das wis­sen Sie bestimmt…

    Mit freund­li­chen Grüßen
    An­dre­as Wieland

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