Johann Voss: Warum noch Gedichte? (Essay)

Die Provokation der modernen Poesie

Eine Meditation

von Johann Voss

Das Ma­te­ri­al, mit dem wir ar­bei­ten, ist ein Sys­tem von Zi­ta­ten. Al­les ist ir­gend­wo und ir­gend­wie schon ein­mal ge­braucht, im schlimms­ten Fall miss­braucht, im bes­ten Fall ver­braucht wor­den. Spra­che ist die mit­teil­sa­me Brü­cke von ei­ner Sub­jek­ti­vi­tät zur an­de­ren. Spra­che ist Me­lo­die der See­le, im­mer auf dem Weg zu ih­rer Ver­voll­komm­nung. Am Ende könn­te sie, das wäre ein Ent­wurf, hin­über­glei­ten in die Voll­kom­men­heit der Stil­le. Dort könn­te sie, die Stil­le, sich selbst ge­nü­gen. Dort könn­te die See­le mit ih­ren quä­len­den Fra­gen des Wo­her und Wo­hin sich selbst ge­nü­gen, be­freit von je­der Le­bens­angst, von je­der To­des­angst, heim­ge­kehrt in die schwe­ben­de Schwe­re­lo­sig­keit, in die kos­mi­sche Höh­le des Mut­ter­lei­bes. In die­ser Voll­kom­men­heit end­lich könn­te die Lie­be sich selbst ge­nü­gen. Die Lie­ben­den könn­ten sich in­ein­an­der ver­strö­men jen­seits des Den­kens, auf­ge­ho­ben in dem sprach­lo­sen Be­wusst­sein der Ver­wand­lung, zu­gleich Meer und Fluss zu sein, und sei es nur für die Ewig­keit ei­nes Herz­schla­ges. An die­sem Ort, jen­seits der Sil­ben, fern der Lau­te, ver­gin­ge der Mensch vor Glück. Hier wäre er end­lich am Ziel, hier wäre end­lich Hei­mat. Al­les Be­schwe­ren­de wäre ab­ge­streift: Das waf­fen­be­setz­te Ge­wand des Has­ses, der muf­fi­ge Man­tel der Macht, das schä­bi­ge Hemd des Hohns, der Alb der Angst. Hier könn­te der Mensch sich end­lich an der Schön­heit sei­ner Blös­se er­freu­en, in­mit­ten wei­den­der Scha­fe und dö­sen­der Lö­wen. Hier wäre end­lich der Rück­voll­zug in das Glück voll­kom­me­ner Schuld­un­fä­hig­keit voll­endet: Hier wäre end­lich das Paradies!
Aber die­ses Ka­pi­tel der Ge­schich­te der Mensch­wer­dung ist noch nicht auf­ge­schla­gen. Wir müs­sen es noch er­denken, müs­sen es noch be­schrei­ben. Und wenn wir es be­schrie­ben ha­ben, ei­nes Ta­ges, dann erst be­ginnt die Her­aus­for­de­rung, dann erst be­ginnt die ei­gent­li­che Ar­beit der Ver­wand­lung. Denn dann sagt die Uto­pie zu ih­rem Er­fin­der, zu ih­rer Er­fin­de­rin: Du hast mich er­dacht, nun also lebe so, wie du mich er­dacht hast.

Ausgangspunkt der Poesie: Angst

Ingeborg Bachmann - Glarean Magazin
„ohne sor­ge sei ohne sor­ge“: In­ge­borg Bachmann

Hier, an die­sem Schnitt­punkt von Mo­ral, Re­li­gi­on, Psy­cho­lo­gie, Po­li­tik und Sprach­ar­beit be­ginnt die Pro­vo­ka­ti­on. Wir wis­sen: Es gibt eine li­te­ra­ri­sche Wirk­lich­keit, das ist pa­pie­re­ne Phan­ta­sie. Und es gibt die wirk­li­che Wirk­lich­keit, das ist das dump­fe Ge­bräu der Schän­dun­gen und Nie­der­träch­tig­kei­ten, der Nie­der­wer­fung ein­zel­ner Men­schen oder gan­zer Völ­ker; das ist ein Netz aus dum­mer Über­heb­lich­keit, Selbst­zwei­fel und Angst.
Ja, im­mer wie­der Angst, Angst ist in uns, Angst ist um uns, Angst be­un­ru­higt uns mit Fra­gen, Angst nö­tigt uns, Ant­wor­ten zu su­chen. Kaum ha­ben wir sie ge­fun­den, ach was, vor lau­ter Be­drängt­heit her­vor­ge­stam­melt oder her­aus­ge­schrie­en, kaum ha­ben wir uns ein we­nig ent­spannt auf den sanf­ten Kis­sen ei­ner bei­läu­fi­gen Ge­wiss­heit, dann be­ginnt sie von neu­em, die Ver­wand­lung. Un­ru­hen drin­gen durch, be­mäch­ti­gen sich un­ser aus al­len Rich­tun­gen des Ru­he­la­gers und ver­wan­deln es in ein Na­gel­bett neu­er, schmer­zen­der Fra­gen. An die­sem Ort, in die­ser Ver­wand­lung, in die­sem Schmerz be­ginnt die Pro­vo­ka­ti­on der Poe­sie. In die­ser Me­ta­mor­pho­se be­ginnt die Poe­sie der Pro­vo­ka­ti­on. Wir alle ken­nen die nach­klin­gen­den Fra­gen, die an sol­chen Or­ten des Zu­sam­men­strö­mens für das Sein in der Welt for­mu­liert wor­den sind. Ich er­in­ne­re an In­ge­borg Bach­manns Ge­dicht „Re­kla­me“, wel­ches Wahr­heit (um nichts we­ni­ger geht es!) aus­schliess­lich im Fra­gen und Be­fra­gen sucht:

Re­kla­me

Wo­hin aber ge­hen wir
ohne sor­ge sei ohne sorge
wenn es dun­kel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sol­len wir tun
hei­ter und mit musik
und denken
hei­ter
an­ge­sichts ei­nes Endes
mit musik
und wo­hin tra­gen wir
am besten
uns­re Fra­gen und den Schau­er al­ler Jahre
in die Traum­wä­sche­rei ohne sor­ge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille

ein­tritt

Ich rufe in Er­in­ne­rung die ers­te der „Dui­ne­ser Ele­gi­en“ von Rai­ner Ma­ria Ril­ke, die an­hebt mit der Frage:

Wer, wenn ich schriee, hör­te mich denn aus der Engel
Ordnungen?

Aus dem be­rühm­ten „Lie­bes­lied“ des­sel­ben Au­tors zi­tie­re ich jene Fra­gen, die das Ge­dicht er­öff­nen und die es beschliessen:

Wie soll ich mei­ne See­le hal­ten, dass
sie nicht an dei­ne rührt? Wie soll ich sie
hin­he­ben über dich zu an­dern Dingen?
[…] Auf wel­ches In­stru­ment sind wir gespannt?
Und wel­cher Spie­ler hat uns in der Hand?
O süs­ses Lied.

Erich Fried - Glarean Magazin
„Was wer­de ich ganz zu­letzt sa­gen oder schrei­ben?“: Erich Fried

Ich er­in­ne­re an das Ge­dicht „Ent­schei­dungs­fra­ge“ von Erich Fried. Der Au­tor schrieb es bei vol­lem Be­wusst­sein an­ge­sichts sei­nes be­vor­ste­hen­den To­des, der Kör­per war schon be­fal­len von Krebs, aber noch in Atem ge­hal­ten mit Hil­fe schnel­ler Ri­tua­le der Ret­tung, mit re­tar­die­ren­der, schmerz­lin­dern­der Medizin.

Ent­schei­dungs­fra­ge

Was wer­de ich
ganz zuletzt
sagen
oder schreiben?

Sa­gen:
„Ich habe doch eigentlich
schon al­les geschrieben?“

Oder schrei­ben:
„Ich habe doch eigentlich
noch gar nichts
gesagt?“

Ich er­in­ne­re an das Ge­dicht „Die Lö­sung“ von Ber­tolt Brecht. Be­kannt­lich de­mons­trier­ten am 17. Juni 1953 strei­ken­de Ar­bei­ter in der Sta­lin­al­lee in Ost­ber­lin für die Be­he­bung ih­rer ma­te­ri­el­len Not. Der Ar­bei­ter­dich­ter Kuba, zu je­ner Zeit staats­hö­ri­ger Se­kre­tär des DDR-Schrift­stel­ler­ver­ban­des, ver­teil­te ein Flug­blatt an die Strei­ken­den, in dem er schlicht­weg die Be­rech­ti­gung des Streiks ver­nein­te, und in dem er den „Mau­rern, Ma­lern und Zim­mer­leu­ten“ Ver­trau­ens­bruch vor­warf und ih­nen ein schlech­tes Ge­wis­sen ein­zu­re­den ver­such­te. Brecht re­agier­te mit ei­nem Ge­dicht, das am Ende mit ei­ner der­ben, sar­kas­tisch-iro­ni­schen Fra­ge nichts we­ni­ger an­zwei­felt als das ge­sell­schaft­li­che Sys­tem der DDR:

Die Lö­sung

Nach dem Auf­stand des 17. Juni
Liess der Se­kre­tär des Schriftstellerverbandes
In der Sta­lin­al­lee Flug­blät­ter verteilen,
Auf de­nen zu le­sen war, dass das Volk
Das Ver­trau­en der Re­gie­rung ver­scherzt habe
Und es nur durch ver­dop­pel­te Arbeit
Zu­rück­er­obern kön­ne. Wäre es da
Nicht doch ein­fa­cher, die Regierung
Lös­te das Volk auf und
Wähl­te ein anderes?

An­mer­kung am Ran­de: Brecht starb 1956; das Ge­dicht wur­de zu sei­ner Leb­zeit be­kannt­lich nicht veröffentlicht…

Zentrum der Poesie: Die Frage

Bertold Brecht - Dramatiker - Dichter - Glarean Magazin
„Wäre es nicht ein­fa­cher, die Re­gie­rung lös­te das Volk auf und wähl­te ein an­de­res?“: Ber­told Brecht

Man sieht, Pro­vo­ka­ti­on in der Poe­sie ist über­all: In den Ver­sen über den Zau­ber der Lie­be bei Ril­ke; in der Rei­he erns­ter, exis­ten­ti­el­ler Fra­gen „an­ge­sichts ei­nes En­des“ bei In­ge­borg Bach­mann; in den rück­be­sin­nen­den Fra­gen an­ge­sichts des To­des bei Erich Fried; nicht zu­letzt in der scharf­zün­gi­gen Re­fle­xi­on der po­li­ti­schen Ver­hält­nis­se im real exis­tie­ren­den So­zia­lis­mus, auf dem Poe­sie­po­dest dar­ge­bo­ten von Ber­tolt Brecht.
Leicht ist er­kenn­bar, was die­se vier Ge­dich­te ge­mein­sam ha­ben. Je­des Ge­dicht en­det mit ei­ner Fra­ge, und so­mit en­det kei­nes. Je­des Ge­dicht weist viel­mehr weit über sein The­ma hin­aus, es gibt die Mühe der Ant­wort­su­che wei­ter. Es ist Zwi­schen­sta­ti­on auf ei­nem lan­gen Weg, an des­sen Ziel die Voll­endung ver­heis­sungs­voll leuch­tet – Licht­jah­re entfernt.
Den Ge­dich­ten ge­mein­sam ist also der Duk­tus der Be­un­ru­hi­gung. Das ver­meint­lich Ver­trau­te wird auf Ge­fähr­dun­gen hin ab­ge­tas­tet – das Für-Wahr-Ge­hal­te­ne Neue wird mit ei­ner Ge­gen­fra­ge ent­blösst und als Macht­miss­brauch gespiegelt.
Mo­der­ne Ge­dich­te, wol­len sie in ei­ner mo­der­nen Welt zu Wort und zu Wert kom­men, sind meist Fra­ge­ge­dich­te. Aus­ge­rich­tet auf Gül­tig­keit, sind sie nicht an­ge­wie­sen auf das aus­ser­li­te­ra­ri­sche Merk­mal der Dau­er. Die Vor­stel­lung, das gül­ti­ge Ge­dicht müs­se bis ans Ende al­ler Tage gül­tig sein, ist Aus­druck der Geis­tes­hal­tung je­ner, wel­che die Kunst aus dem Le­ben aus­la­gern, sie ge­wis­ser­mas­sen auf eine In­sel ver­ban­nen. Dort kom­mu­ni­zie­ren die Kunst­pro­duk­te nur noch künst­lich mit­ein­an­der, sie sind ver­lo­ren in sich selbst, und sie ge­hen schliess­lich am aus­ge­hen­den Atem ei­nes ver­lot­ter­ten, dem Kö­nig Kom­merz un­ter­wor­fe­nen Kul­tur­be­triebs zu­grun­de – sang- und klang­los, ohne Be­deu­tung. Die­se mo­der­ne To­ten­fei­er der Ly­rik, der Li­te­ra­tur schlecht­hin, ist ge­kenn­zeich­net vor al­lem durch das Be­kennt­nis zum Be­kann­ten. Die sol­chen Ver­sen un­ter­leg­ten Recht­fer­ti­gun­gen sind un­schwer als Tau­to­lo­gien zu ent­lar­ven: Das Alte ist gut, weil es alt ist; das Gute ist gut, weil es gut ist. Und um­ge­kehrt heisst das dann frag­los: Das Neue ist schlecht, weil es neu ist. An die­sem von Wahr­heits­su­che und Streit­kul­tur be­frei­ten Ort kommt nur ei­nes zur Welt: die ly­ri­sche Tot­ge­burt. Wir alle ken­nen den 100’000sten Auf­guss je­nes No­vem­ber­ge­dich­tes, das un­er­schro­cken ver­kün­det: „Ne­bel ist. Das Jahr geht zu Ende. Das Le­ben geht zu Ende.“ Das ist na­tür­lich eine Ent­de­ckung, das hat noch nie­mand emp­fun­den… Und Ril­ke, Ge­or­ge, Hes­se, Ka­schnitz und an­de­re ha­ben das al­les noch nicht ge­sagt… Hier fin­det Tra­di­ti­on in der Ly­rik im schlech­ten Sin­ne statt, denn hier wird nach­ge­macht, ja nach­ge­äfft, die Pein­lich­keit nimmt zu mit je­der wei­te­ren nach­ge­stell­ten Pose.

Antrieb der Poesie: Das Lesen

Die Pfle­ge der Tra­di­tio­nen um der Tra­di­ti­on wil­len ist nicht die Be­ru­fung der Poe­ten. Da sehe doch lie­ber der ört­lich zu­stän­di­ge Ge­sang­ver­ein zu. Halt aber: Auch die Sän­ger in die­ser Run­de emp­fin­den den Ver­we­sungs­ge­ruch sol­cher Lie­der, die uns heu­ti­gen Men­schen nichts mehr zu sa­gen ha­ben. Lust und Lau­ne schwin­den da­hin, nur der Reiz der schö­nen Me­lo­die, vor al­lem aber die Re­so­nanz der See­le auf die Schwin­gun­gen des Stimm­schos­ses im Chor ret­ten den Text bis in un­se­re Tage.
Wer also der Be­hä­big­keit und der geis­ti­gen Eng­füh­rung die­ser schlech­ten Tra­di­ti­on ent­kom­men will, muss vor al­lem ei­nes: Le­sen. Im­mer wie­der le­sen, kreuz und quer le­sen, drun­ter und drü­ber le­sen, vor und rück­wärts le­sen: Hym­nen von Höl­der­lin; Ge­sän­ge von Pa­blo Ne­ru­da; Spott­ver­se von Ber­tolt Brecht oder Erich Müh­sam; re­li­giö­se Ge­dich­te von Do­ro­thee Söl­le; po­li­ti­sche von Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger, Pe­ter Paul Zahl, Vol­ker von Thör­ne oder Erich Fried; ar­tis­ti­sche Se­man­tik­se­zie­run­gen von Jandl; Lie­bes­ge­dich­te von Wolf Wond­rat­schek, An­ge­la Hoff­mann, In­ge­borg Bach­mann oder Ulla Hahn; Apho­ris­men von Ge­org Chris­toph Lich­ten­berg oder Arn­fried As­tel; See­fah­rer­ge­dich­te von Jo­han­nes Schenk; Psal­men von Er­nes­to Car­denal; poe­ti­sche Bro­sa­men von Rose Aus­län­der – und so weiter.

Ja, wir müs­sen es zur Kennt­nis neh­men: Das Feld der Poe­sie wur­de schon vor uns be­stellt. Das Ge­dicht, das je­mand schrei­ben möch­te, steht viel­leicht schon auf ei­nem an­de­ren Blatt, mag dort zu Ruhm und Ehre ge­kom­men oder auch still ver­welkt sein. Nicht nur die Spra­che, auch die Poe­sie ist ein Sys­tem von Zi­ta­ten. Dar­in liegt die Ge­fahr: nur Tra­di­tio­nel­les im Sin­ne der Nach­bil­dung zu schaf­fen. Dar­in liegt zu­gleich die Pro­vo­ka­ti­on: Neu­es, bis­her nicht Ge­sag­tes, Un­er­hör­tes zu entdecken.

Rainer Maria Rilke - Glarean Magazin
„Wie soll ich mei­ne See­le hal­ten, dass sie nicht an dei­ne rührt?“: Rai­ner Ma­ria Rilke

Wenn es Tra­di­ti­on im schlech­ten Sin­ne gibt, dann muss es auch eine Tra­di­ti­on im gu­ten Sin­ne ge­ben, so könn­te man viel­leicht mut­mas­sen. Die­se Fra­ge ist mit ei­nem deut­li­chen Ja zu be­ant­wor­ten. Tra­di­ti­on im gu­ten Sin­ne fin­det sich in je­ner Ly­rik, die sich im­mer wie­der aufs neue den noch nicht ein­ge­lös­ten, den vom Le­ben noch nicht ein­ge­hol­ten Uto­pien wid­met. Und die Hal­tung sol­cher Ge­dich­te ist jene, wel­che die vier oben­ste­hen­den Ge­dich­te von Ril­ke, Bach­mann, Fried und Brecht durch­zieht: eine fra­gen­de, beunruhigende.
Da­bei geht es na­tür­lich nicht dar­um, zu be­un­ru­hi­gen um der Be­un­ru­hi­gung wil­len. Wer die­sen Au­to­ma­tis­mus un­ter­stel­len woll­te, gäbe sich selbst als Au­to­mat zu er­ken­nen. Das Wort ist ein Ver­mächt­nis der Schöp­fung, es ist ein Se­gen und zu­gleich eine Last. Wenn es uns zum Se­gen ge­reicht, dann ist das Wort Hil­fe, in sich tra­gend den Zau­ber des Ver­wan­delns. Das se­gens­rei­che Wort kann Trost sein, nie­mals aber V er­trös­tung. Das trös­ten­de Ge­dicht ist im­mer ein pro­vo­ka­ti­ves Ge­dicht. Die Pro­vo­ka­ti­on kommt aus je­nen Be­zir­ken un­se­res Seins, die zwar be­schrie­ben, nicht aber ge­lebt sind.
Da­bei geht es kei­nes­wegs um for­ma­le, hand­werk­li­che Ex­pe­ri­men­te. Über Bau­for­men und Tech­ni­ken muss der Ly­ri­ker ver­fü­gen, um für sein Ge­dicht des­sen ein­zig­ar­ti­ges Sprach­kleid zu ent­wer­fen. Bleibt das Ge­dicht je­doch rei­ne Form­sa­che, so hat es nichts, aber auch kei­nen Gran zu tun mit gül­ti­ger Pro­vo­ka­ti­on. Die­se näm­lich spricht aus dem Ge­dicht nach Mass­ga­be des In­halts, des The­mas. Und weil das The­ma der Poe­sie das Le­ben ist, und weil wir hof­fen dar­auf, die­ses Rät­sel Le­ben mit Wor­ten wür­dig zu be­grei­fen, zu ge­stal­ten, so ver­steht sich ein zwei­ter Tat­be­stand von selbst: Je­des Wort ist poe­sie­fä­hig. Das ver­meint­lich pri­va­te Wort, das po­li­ti­sche Wort, das an­stän­di­ge und das un­an­stän­di­ge Wort, das häss­li­che Wort, das Zau­ber­wort, das Sehn­suchts­wort, das from­me Wort, das got­tes­läs­ter­li­che Wort, das All­tags­wort, das Freu­den­wort, das Trau­er­wort, das Ster­bens­wort – mit die­sen und an­de­ren Wor­ten gibt das pro­vo­zie­ren­de Ge­dicht zu er­ken­nen: Ich bin auf dem Weg. Und auf die Fra­ge „Wo­hin?“ ant­wor­tet es: Auf dem Weg zu nichts we­ni­ger als ei­ner bes­se­ren Welt. Das pro­vo­zie­ren­de Ge­dicht lässt nichts und nie­man­den in Ruhe, es ist un­er­müd­lich. Wir aber, wenn un­ser Fleisch müde, un­ser Geist schlaff ist, wir mö­gen der ver­ständ­li­chen Ver­su­chung er­lie­gen und aus­ru­fen: „Wann schreibt end­lich je­mand et­was Schö­nes?! Wo bleibt das Po­si­ti­ve?!“ Dar­auf gibt es nur eine gül­ti­ge Ant­wort: Das Schö­ne ist von der Su­che nach Wahr­heit, Ge­rech­tig­keit und Lie­be nicht zu tren­nen. Das Schö­ne ist im­mer im Wer­den, es ist all­ge­schlecht­lich, es ist Mühe und Ar­beit – es ist auf dem Wege. Wer das Po­si­ti­ve liebt – und wer woll­te es nicht be­an­spru­chen! -, der soll zu­nächst die Ne­ga­ti­on im Ge­dicht kennt­lich ma­chen. Die Ne­ga­ti­on im Ge­dicht ist rei­ne Pro­vo­ka­ti­on, stets ge­rich­tet auf ei­nen Er­kennt­nis­ent­wurf für das Po­si­ti­ve: aus dem Le­bens­wort kann Le­bens­wert wer­den für Leib und Seele.

Ziel der Poesie: Der Wandel

"Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte": Ernst Bloch
„Der Mensch lebt noch über­all in der Vor­ge­schich­te“: Ernst Bloch

Mit der Zeit än­dert sich die Poe­sie. Mit der Zeit än­dert sich die Theo­rie der Poe­sie. Folg­lich än­dert sich auch das Wert­ge­fü­ge der Äs­the­tik. Wil­helm von Zuc­cal­magli­os „Kein schö­ner Land in die­ser Zeit“, von ir­gend­ei­nem Chor viel­leicht nur des Chor­zau­bers we­gen ohne Nach­den­ken ge­sun­gen, ist an­ge­sichts ster­ben­der Wäl­der, ver­sal­ze­ner Flüs­se, er­sti­cken­der Mee­re und Neo­na­zi-Ver­blen­dung be­reits wie­der eine Uto­pie, mit­hin eine Pro­vo­ka­ti­on. Es gibt gros­se Bei­spie­le für die Pro­vo­ka­ti­on durch das Wort. Zu hof­fen ist, und dies trotz des ri­tu­el­len Rum­mels und der an­hei­schi­gen An­bie­de­run­gen in den Kir­chen, dass eine christ­li­che Au­toren­see­le sich im­mer noch und im­mer wie­der von der Un­ru­he­stif­tung „Berg­pre­digt“ er­schüt­tern lässt. Zu hof­fen ist auch, dass ein poe­ti­scher Geist un­ter uns Au­torIn­nen sich im­mer wie­der be­un­ru­higt, also pro­vo­ziert fühlt, etwa von Kants Fra­ge: „Was ist Auf­klä­rung?“, oder von Blochs Phi­lo­so­phie, an de­ren Ende eine Pro­vo­ka­ti­on steht, nämlich:

Der Mensch lebt noch über­all in der Vor­ge­schich­te, ja al­les und je­des steht noch vor der Er­schaf­fung der Welt, als ei­ner rech­ten. Die wirk­li­che Ge­ne­sis ist nicht am An­fang, son­dern am Ende, und sie be­ginnt erst an­zu­fan­gen, wenn Ge­sell­schaft und Da­sein ra­di­kal wer­den, das heisst sich an der Wur­zel fassen.
Die Wur­zel der Ge­schich­te aber ist der ar­bei­ten­de, schaf­fen­de, die Ge­le­gen­hei­ten um­bil­den­de und über­ho­len­de Mensch. Hat er sich er­fasst und das Sei­ne ohne Ent­äus­se­rung und Ent­frem­dung in rea­ler De­mo­kra­tie be­grün­det, so ent­steht in der Welt et­was, das al­len in die Kind­heit scheint und wor­in noch nie­mand war: Hei­mat. (Ernst Bloch, Das Prin­zip Hoff­nung, Frank­furt 1974)

Wenn wir an die­sem mit Hei­mat be­zeich­ne­ten Ort an­ge­langt sein wer­den, wird Poe­sie als Pro­vo­ka­ti­on, wird Spra­che über­haupt ver­zicht­bar sein. Viel­leicht, wäre hin­zu­zu­fü­gen; denn auch im Pa­ra­dies könn­te es not­wen­dig sein, nach je­nen Ver­su­chun­gen Aus­schau zu hal­ten, an de­ren Ende der Rück­fall in die Bar­ba­rei stünde.
Die Poe­sie und die Theo­rie der Poe­sie müs­sen be­frag­bar er­schei­nen und wan­del­bar, und dies so, wie das Men­schen­bild im Poe­ti­schen be­frag­bar und wan­del­bar zu ent­wer­fen ist. Aus der Be­frag­bar­keit und aus dem Wan­del be­zieht die mo­der­ne Poe­sie ihre Gültigkeit. ♦


Jo­hann Voss

Geb. 1951 in Theene/D; Ger­ma­nis­tik- und Sport-Stu­di­um; zahl­rei­che Ly­rik-Ver­öf­fent­li­chun­gen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, Ar­bei­ten für den Rund­funk; lebt als Leh­rer und Schrift­stel­ler in Wefensleben/D

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma „Schrei­ben von Ly­rik“ auch den Auf­satz von Vera Si­mon: Was macht ein gu­tes Ge­dicht aus?

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