Musik-Zitat der Woche von Christoph Drösser

Von der Psychologie der Erwartung

Chris­toph Drösser

Die The­se, dass wir in der Mu­sik vor al­lem eine Be­stä­ti­gung un­se­rer Er­war­tun­gen su­chen, wird ei­ni­ge Mu­sik­fans viel­leicht erst ein­mal er­stau­nen. Ist die Mu­sik­in­dus­trie nicht ge­prägt von der Jagd nach dem im­mer Neu­en? Nach neu­en Stars und Stern­chen, nach dem nächs­ten Hit? Sind die ein­ge­fleisch­tes­ten En­thu­si­as­ten nicht im­mer auf der Su­che nach der heis­ses­ten New­co­mer-Band, nach dem neu­es­ten Sound?

Wohl wahr – aber der Zwang zur stän­di­gen Ro­ta­ti­on in den Hit­pa­ra­den ist zu­nächst ein­mal ein wirt­schaft­li­cher. Tat­säch­lich bie­ten die Plat­ten­fir­men ih­ren Kun­den zu 99 Pro­zent mehr von dem an, was sie schon mö­gen: die neue Plat­te des schon be­kann­ten Sän­gers, der – Gott be­wah­re! – mög­lichst kei­ne sti­lis­ti­schen Ex­pe­ri­men­te macht, son­dern die in ihn ge­setz­ten Er­war­tun­gen be­dient.  Künst­ler wie Neil Young, Joni Mit­chell oder Prin­ce ha­ben schon Är­ger mit ih­ren La­bels be­kom­men, weil ihre neu­es­ten Auf­nah­men nicht dem Stil ent­spra­chen, den das Pu­bli­kum an­geb­lich er­war­te­te.  Die Ra­dio­sen­der spie­len zu­neh­mend nur noch „die gröss­ten Hits  der 8oer, 9oer (und das Bes­te von heute)“.
Die meis­ten Lai­en hö­ren auch ir­gend­wann auf, den neu­es­ten  Trends zu fol­gen, und rich­ten sich in ih­rem mu­si­ka­li­schen Lieb­lings­gen­re ge­müt­lich ein. Und die Fans der klas­si­schen Mu­sik er­freu­en sich an ei­nem Ka­non von Kom­po­si­tio­nen, der in den letz­ten hun­dert Jah­ren kaum er­gänzt wor­den ist.
Aber na­tür­lich hat die Über­ra­schung ih­ren Platz in der Mu­sik. Wir wol­len beim Trai­ning un­se­res Zu­kunfts­sinns ja auch her­aus­ge­for­dert wer­den. Mu­sik, die alle Er­war­tun­gen zu­ver­läs­sig be­dient, ist lang­wei­lig und al­len­falls als Fahr­stuhl- oder „Ambient“-Musik einsetzbar.

Christoph Drösser - Glarean Magazin
Chris­toph Drösser

Mu­si­ker ha­ben un­ter­schied­li­che Mit­tel, für Über­ra­schun­gen zu sor­gen, ih­nen ste­hen dazu alle Pa­ra­me­ter der Mu­sik zur Ver­fü­gung: Me­lo­die, Rhyth­mus, Har­mo­nie, Klang­far­be. Als Bob Dy­lan beim New­port Folk Fes­ti­val 1965 sei­ne akus­ti­sche Gi­tar­re ge­gen eine elek­tri­sche tausch­te, vom Folk zum Rock wech­sel­te und da­mit sei­nen Sound ent­schei­dend ver­än­der­te, er­reg­te das gros­ses Auf­se­hen, ein Teil sei­ner al­ten Fans woll­te die­se Ab­kehr vom Ge­wohn­ten nicht nach­voll­zie­hen und wand­te sich von ihm ab. Die Beat­les ver­let­zen in ih­ren Songs stän­dig Kon­ven­tio­nen: me­tri­sche in Yes­ter­day (das The­ma hat die krum­me Zahl von sie­ben Tak­ten), me­lo­di­sche (For No One en­det nicht auf dem Grund­ton, son­dern auf der 5. Stu­fe), har­mo­ni­sche (der Dur-Ak­kord der 4. Stu­fe wird häu­fig ge­gen ei­nen Moll-Ak­kord aus­ge­tauscht, etwa in Mi­chel­le). In der klas­si­schen Mu­sik ist der so­ge­nann­te Trug­schluss ein be­lieb­tes Mit­tel, den Hö­rer kurz­fris­tig an der Nase her­um­zu­füh­ren: Statt zum Grund­ak­kord führt die har­mo­ni­sche Wen­dung zum par­al­le­len Moll-Ak­kord (zum Bei­spiel A-Moll statt C-Dur), das Stück kann da­mit noch nicht en­den, und so folgt eine wei­te­re Ka­denz von Har­mo­nien bis zum er­lö­sen­den Grundakkord.
Sol­che Ka­den­zen, also har­mo­ni­sche und me­lo­di­sche Wen­dun­gen, ha­ben selbst die sim­pels­ten Kom­po­si­tio­nen. Jede Har­mo­nie, die nicht dem Grund­ak­kord ent­spricht, führt weg vom Gleich­ge­wicht, sie macht deut­lich: Hier kann das Stück nicht auf­hö­ren, es muss ir­gend­wie wei­ter­ge­hen. Man­che die­ser Har­mo­nien und man­che Me­lo­dien er­zeu­gen be­son­ders stark das, was die Mu­si­ker „Span­nung“ nen­nen, eine Si­tua­ti­on, in der der Hö­rer sich nach ei­ner Auf­lö­sung sehnt.

Da­vid Hu­ron hat die Psy­cho­lo­gie der Er­war­tung in eine Theo­rie ge­fasst, die er ITPRA nennt (von den eng­li­schen Wör­tern ima­gi­na­ti­on, ten­si­on, pre­dic­tion, re­spon­se und app­rai­sal). Eine Theo­rie, die nicht nur für die Mu­sik gilt, aber ins­be­son­de­re da­für an­wend­bar ist:

I: In der lma­gi­na­ti­ons­pha­se stel­len wir uns vor, wie eine Si­tua­ti­on aus­ge­hen könn­te, ima­gi­nie­ren die Ge­füh­le, die das bei uns aus­lö­sen wür­de, und die mög­li­chen Re­ak­tio­nen darauf.

T: Die Span­nung steigt. Un­ser Kör­per be­rei­tet sich auf mög­li­che Re­ak­tio­nen vor (Flucht? An­griff?), die Mus­keln wer­den an­ge­spannt, all­ge­mein steigt un­se­re Aufmerksamkeit.

P: Nach­dem das Er­eig­nis ein­ge­tre­ten ist, be­wer­ten wir un­se­re Vor­her­sa­ge: War sie kor­rekt, oder ist al­les ganz an­ders ge­kom­men? Ent­spre­chend ist die emo­tio­na­le Ant­wort po­si­tiv oder negativ.

R: Nun gilt es zu re­agie­ren. Die ers­te Re­ak­ti­on ist spon­tan und un­be­wusst, also zum Bei­spiel das Auf­stel­len der Na­cken­haa­re oder ein Flucht­re­flex. Wir kön­nen sie nicht steu­ern, und es ist sehr schwie­rig, ein­mal ge­lern­te Re­fle­xe wie­der abzulegen.

A: Erst mit ei­ner ge­wis­sen Ver­zö­ge­rung be­wer­ten wir die Si­tua­ti­on und kom­men zum Bei­spiel zu der Ein­schät­zung, dass ei­gent­lich al­les ein blin­der Alarm und der Flucht­re­flex völ­lig über­zo­gen war. In die­ser Pha­se ler­nen wir auch für die Zu­kunft, sie be­stimmt letzt­lich, wie wir das ge­sam­te Er­eig­nis emo­tio­nal bewerten.

So kön­nen wir zum Bei­spiel eine Ach­ter­bahn­fahrt, wäh­rend der wir tau­send Ängs­te aus­zu­ste­hen hat­ten, letzt­lich als lust­voll be­ur­tei­len – „Noch­mal!“ ruft das Kind. Und na­tür­lich gilt für die Mu­sik prak­tisch im­mer, dass das Hör­erleb­nis im Nach­hin­ein als auf­re­gend, aber un­ge­fähr­lich be­wer­tet wird.
Was folgt aus der Theo­rie der Er­war­tung für Mu­si­ker und Kom­po­nis­ten? Dass sie gut dar­an tun, die Me­cha­nis­men zu ver­ste­hen, die sie bei ih­ren Hö­rern aus­lö­sen. Es muss ja nicht das Ziel der Mu­sik sein, „gute“ Ge­füh­le zu er­zeu­gen. Ein gros­ser Teil der Mu­sik des 20. Jahr­hun­derts war, nicht zu­letzt durch die ka­ta­stro­pha­len Er­fah­run­gen zwei­er Welt­krie­ge, auch dar­auf ge­rich­tet, ein ge­wis­ses Un­wohl­sein aus­zu­lö­sen, „ne­ga­ti­ve“ Emo­tio­nen, un­auf­ge­lös­te Span­nun­gen. Das darf Kunst na­tür­lich – sie darf scho­cken, ängs­ti­gen, so­gar be­lei­di­gen. Und na­tür­lich sind die Er­war­tun­gen des Pu­bli­kums nichts Sta­ti­sches: al­lein da­durch, dass man ge­wis­sen Klän­gen aus­ge­setzt ist, fügt man sie sei­nem in­ne­ren „mu­si­ka­li­schen Le­xi­kon“ hin­zu, und beim nächs­ten Hö­ren sind sie schon gar nicht mehr so fremd.
Die Vor­stel­lung al­ler­dings, man kön­ne das Pu­bli­kum mu­si­ka­lisch um­er­zie­hen und dazu brin­gen, Zwölf­ton­mu­sik auf der Stras­se zu pfei­fen, muss ir­rig blei­ben, dazu ist un­se­re bio­lo­gi­sche Sucht nach der Er­fül­lung un­se­rer Er­war­tun­gen ein­fach zu gross. ♦

Aus Chris­toph Drös­ser: Hast du Töne? – War­um wir alle mu­si­ka­lisch sind, Ro­wohlt Ver­lag 2009

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin auch das „Zi­tat der Wo­che“ von Ur­su­la Pe­trik: Von den Kon­takt­schwie­rig­kei­ten der Neu­en Musik

… und zum The­ma Neue Mu­sik auch über Ko­mi­t­as: Se­ven Songs (Kla­vier – CD)

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