Neue Schachzeitschrift Caissa gegründet

Neues Magazin für die schachhistorische Forschung

von Wal­ter Eigenmann

Wer im On­line-Jah­re des Herrn 2016 ein neu­es Print-Me­di­um auf den Markt wirft, das aus­ge­rech­net Schach­his­to­rie zum Ge­gen­stand hat, ist ent­we­der ver­rückt, oder naiv, oder ein Ch­ess-Jun­kie, oder Mil­lio­när, oder das al­les zu­sam­men. Der Neun­kir­che­ner Alt­his­to­ri­ker Dr. Ma­rio Zieg­ler ist (wahr­schein­lich) nichts von al­le­dem – und trotz­dem wag­ten er und sei­ne Mit­ar­bei­ter vom Cha­tur­an­ga-Ver­lag, mit „Cais­sa“ eine halb­jähr­li­che 100-sei­ti­ge „Zeit­schrift für Schach- und Brett­spiel­ge­schich­te“ ins Le­ben zu ru­fen. Vor kur­zem prä­sen­tier­te Zieg­ler im Ver­bund mit dem Salz­bur­ger Co-Her­aus­ge­ber Prof. Dr. Rai­ner Bu­land nun die ers­te „Caissa“-Nummer.

Caissa- Cover-Erstausgabe-Glarean MagazinWer soll „Cais­sa“ – nicht zu ver­wech­seln mit der gleich­na­men ehe­ma­li­gen „Schach­rund­schau Cais­sa“, die 1955 mit der Deut­schen Schach­zei­tung fu­sio­nier­te – ei­gent­lich le­sen? In sei­nem Vor­wort zur Erst­aus­ga­be um­reisst der In­iti­ant und Chef­re­dak­teur Ma­rio Zieg­ler die In­ten­ti­on des Ma­ga­zins: „Cais­sa will eine Platt­form schaf­fen, auf der For­schungs­er­geb­nis­se der un­ter­schied­lichs­ten Dis­zi­pli­nen im Be­reich der Schach- und Brett­spiel-Ge­schich­te prä­sen­tiert wer­den kön­nen und da­durch ein Bild vom ge­gen­wär­ti­gen Stand der For­schung deut­lich wird“. Die Zeit­schrift sol­le „die ge­sam­te Schach- und Brett­spiel-Ge­schich­te von den ers­ten An­fän­gen bis in die jüngs­te Ver­gan­gen­heit, ein­schliess­lich Ver­wei­sen auf Brett­spie­le in der Kunst und Li­te­ra­tur“ berücksichtigen.

Vermisst: Ein übergeordnetes Konzept der Schachforschung

Schach-Mario-Ziegler-Glarean-Magazin
„Die ge­sell­schaft­li­che Be­wer­tung des Spiels für gan­ze Epo­chen der Ge­schich­te steht noch aus“: „Caissa“-Initiant und -Her­aus­ge­ber Ma­rio Zieg­ler (*1974)

Da­bei or­tet Zieg­ler De­fi­zi­te in der ak­tu­el­len Schach­ge­schichts-For­schung, z.B. die man­geln­de In­sti­tu­tio­na­li­sie­rung der zahl­rei­chen, aber in ih­rer Ver­ein­ze­lung wir­kungs­lo­sen Solo-Pro­jek­te: Es exis­tier­ten be­deu­ten­de na­tio­na­le und in­ter­na­tio­na­le „Grup­pie­run­gen, die sich den ver­schie­de­nen Aspek­ten der Brett­spie­le und ins­be­son­de­re des Schach­spiels wid­men – eine Ver­net­zung all die­ser Be­mü­hun­gen sucht man je­doch nach wie vor ver­geb­lich“. Die meis­ten die­ser In­itia­ti­ven sei­en pri­va­tem En­ga­ge­ment ge­schul­det, ver­misst wer­de ein „über­ge­ord­ne­tes Kon­zept“. Auch im uni­ver­si­tä­ren Be­reich wür­den die Brett­spie­le als For­schungs­ge­gen­stand kaum wahr­ge­nom­men: „Auch wenn im­mer wie­der Teil­aspek­te in den Blick ge­nom­men wer­den, so ist doch be­zeich­nend, dass etwa die ge­sell­schaft­li­che Be­wer­tung des Spiels für gan­ze Epo­chen der Ge­schich­te noch nicht auf­ge­ar­bei­tet ist“. Ex­pli­zi­te Ziel­grup­pen von „Cais­sa“ sind dem­entspre­chend „Bi­blio­the­ken, Wis­sen­schaft­ler und in­ter­es­sier­tes Fach­pu­bli­kum im Be­reich der Ge­schichts-, Sprach- und Kulturwissenschaften“.

Breites thematisches Spektrum

„Caissa“-Autor und Gross­meis­ter Ro­bert Hüb­ner ar­bei­te­te akri­bisch di­ver­se Par­tien des le­gen­dä­ren Matches Blackb­ur­ne-Stei­nitz von 1822 auf und re­cher­chier­te erst­mals ver­schol­len ge­glaub­te Notationen

Wel­ches the­ma­tisch viel­fäl­ti­ge Un­ter­su­chungs­feld sich da­bei für „Cais­sa“ auf­tut, stellt be­reits die Pre­miè­re-Aus­ga­be des Ma­ga­zins un­ter Be­weis: Vom ers­ten „Wett­kampf zwi­schen Blackb­ur­ne und Stei­nitz“ (Au­tor: Ro­bert Hüb­ner) über ein Por­trait des be­deu­ten­den un­ga­ri­schen Schach­spie­lers und Re­dak­teurs Las­lo Toth (Ivan Bot­t­lik) bis hin zur „NS-Ideo­lo­gie im Brett­spiel“ (An­to­nella Zie­wacz) und ei­nem Rück­blick auf die „Wen­de­jah­re 1989-90 in der Zeit­schrift ‚Schach'“ (Bernd Grä­f­rath) deckt die Erst­aus­ga­be ein schach­his­to­risch wie -wis­sen­schaft­lich eben­so he­te­ro­ge­nes wie in­for­ma­ti­ves Spek­trum ab. Hin­zu kom­men die un­ver­zicht­ba­ren Re­zen­sio­nen und Ver­lags-An­kün­di­gun­gen ein­schlä­gi­ger Fach­li­te­ra­tur, vor al­lem aber zahl­lo­se, durch­wegs sorg­fäl­tig ge­wähl­te und qua­li­ta­tiv her­vor­ra­gen­de Bild-Do­ku­men­ta­tio­nen zu je­dem Artikel.

Die in­ter­na­tio­na­le Aus­rich­tung des Ban­des un­ter­strei­chen da­bei jene Bei­trä­ge, die nicht nur in eng­li­scher Spra­che kurz zu­sam­men­ge­fasst, son­dern gleich aus­schliess­lich im eng­li­schen Ori­gi­nal ab­ge­druckt wer­den. Zu er­wäh­nen ist hier ein schö­ner Es­say von Pe­ter J. Mon­té, der den my­thi­schen bzw. gött-li­chen Ur­gün­den des Schach­spiels in den alt­per­si­schen, -grie­chi­schen und -rö­mi­schen Kul­tu­ren in Wort und Bild nach­spürt, so­wie ein kom­plett eng­lisch ver­fass­ter Ab­riss von Adri­an Har­vey „So­cial par­ti­ci­pa­ti­on in the game of ch­ess“, der kennt­nis­reich das Schach­spiel als be­deu­ten­der Teil der „ge­ho­be­nen“ Frei­zeit­kul­tur im Eng­land des 18. Jahr­hun­derts bis in un­se­re heu­ti­gen Tage der schach­li­chen „Durch­drin­gung“ al­ler Ge­sell­schafts­schich­ten untersucht.

Schach in den Büchern des Deutschen Barock und der frühen Neuzeit

Schachhistoriker Siegfried Schönle fahndete umfangreich und wissenschaftlich exakt dokumentiert nach Spuren und Belegen zum Schachspiel in Drucken aus dem 17. Jahrhundert
Schach­his­to­ri­ker Sieg­fried Schön­le fahn­de­te um­fang­reich und wis­sen­schaft­lich ex­akt do­ku­men­tiert nach Spu­ren und Be­le­gen zum Schach­spiel in Dru­cken aus dem 17. Jahrhundert

Im Zen­trum die­ser Erst­aus­ga­be steht aber die 44-sei­ti­ge „an­no­tier­te Bi­blio­gra­phie“ über das „Schach in Bü­chern aus der Zeit des Deut­schen Ba­rocks und der frü­hen Neu­zeit“ des Kas­se­ler Schach­li­te­ra­tur-Samm­lers Sieg­fried Schön­le. Mit Akri­bie und um­fang­rei­chem Quel­len-Nach­weis stellt der Au­tor eine Fül­le von Bü­chern bzw. Re­prints aus die­ser Zeit mit ex­pli­zi­tem Schach­be­zug zu­sam­men, do­ku­men­tiert fast alle entspr. Pu­bli­ka­tio­nen mit Co­ver- und/oder De­tail-Be­bil­de­rung, stellt den all­ge­mein-kul­tu­rel­len und li­te­ra­risch-bel­le­tris­ti­schen Spu­ren der Buch-In­hal­te nach, för­dert schach­kul­tu­rell Be­lang­lo­ses eben­so wie schach­his­to­risch Rich­tungs­wei­sen­des zu­ta­ge und do­ku­men­tiert so ei­nen il­lus­tren, ja manch­mal bi­zar­ren Bil­der­bo­gen des Phä­no­mens Schach im Werk zahl­rei­cher For­scher und Schrift­stel­ler je­ner Zeit.

Printtechnische und typographische Qualität

„Ge­sell­schafts­spie­le spie­geln den Zeit­geist ei­ner Epo­che wie­der und sind da­durch his­to­ri­sche Quel­len für An­sich­ten und Ent­wick­lun­gen ei­ner Ge­sell­schaft“: An­to­nella Zie­wacz be­leuch­tet den Kul­tur­miss­brauch des Spiels wäh­rend der Nazi-Diktatur

So viel­fäl­tig der his­to­ri­sche Mix die­ser ers­ten, in ei­ner Start­auf­la­ge von 5’000 Ex­em­pla­ren ge­druck­ten „Caissa“-Nummer da­her­kommt, so sehr hält da­bei das Out­fit des Ban­des mit. Das im drei­spal­ti­gen Lay­out prä­sen­tier­te und durch­wegs far­big be­bil­der­te Heft ist so­wohl vom Print als auch von der Ty­po­gra­phie her äus­sert qua­li­täts­voll auf­ge­zo­gen. So­gar die de­tail­ver­lieb­te Par­tien-Kom­men­tie­rung ei­nes Ro­bert Hüb­ner mit ih­rer Va­ri­an­ten-Ver­schach­te­lung kommt pro­blem­los les­bar da­her, wo­bei die wein­ro­te Far­be der Dia­gramm­dru­cke eine schö­ne op­ti­sche Fi­nes­se dar­stellt. Man merkt dem Heft auf je­der Sei­te den pro­fes­sio­nel­len An­spruch an, den Her­aus­ge­ber und Dru­cke­rei an die­ses Ma­ga­zin stel­len. Ein spe­cial com­pli­ment geht an die­ser Stel­le auch an R. Do­bicki & S. Schä­fer für das er­le­se­ne Grafikdesign.

Fazit-Rezensionen_Glarean Magazin
Die neu­ge­grün­de­te Zeit­schrift „Cais­sa“ wid­met sich der his­to­risch-wis­sen­schaft­li­chen For­schung des Schachs und der Brett­spie­le. Die Erst­aus­ga­be do­ku­men­tiert ein­drück­lich ein brei­tes the­ma­ti­sches Spek­trum und eine er­le­se­ne Qua­li­tät so­wohl in druck­tech­ni­scher wie in gra­fi­scher Hin­sicht. Für die his­to­risch-wis­sen­schaft­lich In­ter­es­sier­ten un­ter den Schach-Adep­ten ist „Cais­sa“ zwei­fel­los das neue Referenz-Printmedium.

Wer als Ama­teur- oder Tur­nier-Spie­ler mal schach­kul­tu­rell über den Rand sei­nes klei­nen 64-feld­ri­gen Bret­tes hin­aus­bli­cken woll­te, der griff bis heu­te vor­zugs­wei­se zu ei­nem an­de­ren, eben­falls qua­li­täts­vol­len Schach-Pe­ri­odi­kum, näm­lich „Karl„. Seit kur­zem wird also nun mit „Cais­sa“ auch für die his­to­risch-wis­sen­schaft­lich In­ter­es­sier­ten un­ter den Schach-Adep­ten eine will­kom­me­ne und qua­li­ta­tiv pro­fes­sio­nel­le Er­gän­zung zur Ver­fü­gung ste­hen, die zu­mal mit ei­nem Ein­zel­preis von 15 Euro pro Band das Bud­get ab­so­lut fair be­las­tet. Für die­se Le­ser­schicht ist „Cais­sa“ zwei­fel­los das neue Re­fe­renz-Print­me­di­um – auch oder ge­ra­de in un­se­ren mo­der­nen Ta­gen der kurz­le­bi­gen Live-Tur­nier-News und des Blog-Häppchen-Schachs… ♦

Ma­rio Zieg­ler (Hrsg.): Cais­sa – Zeit­schrift für Schach- und Brett­spiel­ge­schich­te Num­mer 1/2016 (Erst­aus­ga­be), 94 Sei­ten, Cha­tur­an­ga Ver­lag, ISSN 2363-8214

Le­sen Sie im Glarean Ma­ga­zin zum The­ma Schach-Ge­schich­te auch über
Isaac Lip­nitz­ky: Fra­gen der mo­der­nen Schachtheorie

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