Mario Andreotti: „Kunst geht nach Brot“ (Literaturbetrieb)

… die Kunst geht nach Brot“

von Mario Andreotti

.Der et­was son­der­ba­re me­ta­pho­ri­sche Ti­tel mei­nes heu­ti­gen Vor­trags „…die Kunst geht nach Brot“ mag Sie, ge­schätz­te Zu­hö­ren­de1), zu­nächst ir­ri­tiert ha­ben. Gleich­wohl ha­ben Sie na­tür­lich so­fort ge­merkt, wo­her der Satz stammt: aus Gott­hold Ephra­im Les­sings bür­ger­li­chem Trau­er­spiel „Emi­lia Ga­lot­ti“ näm­lich. Es ist gleich zu Be­ginn des Stücks die Ant­wort des Ma­lers Con­ti auf die Fra­ge von Prinz Het­to­re, was die Kunst denn ma­che. Les­sing ver­wen­det hier ein Sprich­wort, das schon für das 16.Jahrhundert be­zeugt ist.

Auftraggeber“ von Malerei, Musik und Literatur

Fra­gen wir uns kurz, was die­ses Sprich­wort denn ei­gent­lich aus­sagt. Et­was im Grun­de Ein­fa­ches, wür­de ich mei­nen: Es sagt aus, dass die Kunst, also etwa Ma­le­rei und Mu­sik, aber auch die Li­te­ra­tur so et­was wie ei­nen ‚Auf­trag­ge­ber‘ hat. Bis zur Mit­te des 18.Jahrhunderts war die­ser Auf­trag­ge­ber der Fürs­ten­hof; In­tel­lek­tu­el­le und Kul­tur­schaf­fen­de wur­den, in­dem die Fürs­ten ih­ren Le­bens­un­ter­halt be­strit­ten und als ihre Mä­ze­ne auf­tra­ten, an die Höfe ge­bun­den, wa­ren von ih­nen ab­hän­gig. Fried­rich Schil­ler etwa hat die­se Ab­hän­gig­keit auf be­son­ders kras­se Wei­se zu spü­ren be­kom­men: Als er ohne Ein­wil­li­gung von Her­zog Karl Eu­gen der Ur­auf­füh­rung sei­nes ers­ten Dra­mas „Die Räu­ber“ im Mann­hei­mer Na­tio­nal­thea­ter bei­wohn­te, hat ihn das 14 Tage Ar­rest ge­kos­tet. Karl Eu­gen ver­bot ihm, wei­ter­hin Dra­men zu schrei­ben, was Schil­ler be­kannt­lich zur Flucht über Mann­heim nach Frank­furt ver­an­lasst hat.
Seit der zwei­ten Hälf­te des 18.Jahrhunderts, dem Auf­stieg des Bür­ger­tums und der Ent­ste­hung ei­nes mo­der­nen Ur­he­ber­rechts, ist es zu­neh­mend der freie Markt mit sei­nen Vor­ga­ben, sind es die Ver­le­ger, Lek­to­ren und Li­te­ra­tur­agen­ten, ist es nicht zu­letzt auch die Li­te­ra­tur­kri­tik, die zum Auf­trag­ge­ber der Kunst – ge­nau­er ge­sagt, der Li­te­ra­tur – wird. Wir spre­chen dann recht ei­gent­lich von ei­nem Li­te­ra­tur­be­trieb. Von die­sem Li­te­ra­tur­be­trieb, wie wir ihn heu­te ken­nen, soll in mei­nem Vor­trag die Rede sein.

Gründe für den modernen Literaturbetrieb

Literaten-Abhängigkeit von den Mächtigen&Reichen: Arrest für Schiller wegen dessen
Li­te­ra­ten-Ab­hän­gig­keit von den Mächtigen&Reichen: Ar­rest für Schil­ler we­gen des­sen „Räu­ber“

Das setzt, ver­ehr­te Hö­re­rin­nen und Hö­rer, al­ler­dings vor­aus, dass wir zu­nächst ein we­nig zu­rück­bli­cken in eine Zeit, da Li­te­ra­tur noch kein Be­trieb, das Buch noch kei­ne Ware und die Li­te­ra­tur­kri­tik noch nichts mit der Ver­mark­tung von Bü­chern, mit Mar­ke­ting, zu tun hat­te. Da­bei geht es mir nicht um Nost­al­gie, nicht um Kul­tur­pes­si­mis­mus oder gar um Un­ter­gangs­stim­mung. Ich möch­te le­dig­lich auf­zei­gen, wie die Ent­wick­lung in den letz­ten dreis­sig, vier­zig Jah­ren – der Zeit, die ich be­ruf­lich als Ger­ma­nist über­bli­cken kann – ver­lau­fen ist, was sich ver­än­dert hat und was den heu­ti­gen Li­te­ra­tur­be­trieb ausmacht.

Unerbittlicher Verdrängungskampf auf dem Buchmarkt: Die Frankfurter Buchmesse
Un­er­bitt­li­cher Ver­drän­gungs­kampf auf dem Buch­markt: Die Frank­fur­ter Buchmesse

Was gab es also und was gab es nicht, da­mals, in den sech­zi­ger, sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts, als ich auf dem Ge­biet der Li­te­ra­tur und des Li­te­ra­tur­be­trie­bes die ers­ten Schrit­te mach­te. Es gab die Au­torin­nen und Au­toren, die Bü­cher schrie­ben, mehr Män­ner noch im­mer als Frau­en; es gab die Ver­la­ge, oder, bes­ser ge­sagt, die Ver­le­ger, fast aus­schliess­lich Män­ner, die die­se Bü­cher her­aus­brach­ten; es gab die Kri­ti­ke­rin­nen und Kri­ti­ker, auch hier mehr Män­ner als Frau­en, wel­che die Bü­cher re­zen­sier­ten; und es gab die Buch­hand­lun­gen oder, bes­ser ge­sagt, die Buch­händ­le­rin­nen und Buch­händ­ler, die da­für sorg­ten, dass die Bü­cher auch un­ter die Leu­te ka­men. Hier wa­ren die Frau­en in der Überzahl.

Verdrängungskampf in der Buchbranche

Band 200x5
„Nicht nur das Ver­hält­nis der Ge­schlech­ter hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­än­dert; an­ders ge­wor­den sind auch der Stel­len­wert der Buch-Bran­chen und der Um­gang, den sie mit­ein­an­der pflegen.“

Al­les wie heu­te, sind Sie, ver­ehr­te An­we­sen­de, viel­leicht ge­neigt zu sa­gen. Aber das stimmt nicht ganz. Nicht nur das Ver­hält­nis der Ge­schlech­ter hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­än­dert; an­ders ge­wor­den sind auch der Stel­len­wert der ein­zel­nen Bran­chen und der Um­gang, den sie mit­ein­an­der pfle­gen. Et­was ver­all­ge­mei­nert lässt sich sa­gen, dass frü­her al­les et­was per­sön­li­cher als heu­te war und et­was ge­mäch­li­cher zu und her ging. Da gab es zum Bei­spiel die Frank­fur­ter Buch­mes­se im Herbst. Auf die­sen Ter­min hin lies­sen die Ver­la­ge ihre Bü­cher er­schei­nen. Das heisst, der Herbst fand auch wirk­lich im Herbst statt und nicht schon im Juli oder Au­gust, wie dies heu­te der Fall ist, weil der Ver­drän­gungs­kampf auf dem Buch­markt so un­er­bitt­lich ge­wor­den ist und je­der je­dem zu­vor­kom­men will. Da­durch, dass es seit ei­ni­gen Jah­ren zwei Pro­gram­me pro Jahr gibt und zwei Buch­mes­sen – die gros­se im Ok­to­ber in Frank­furt und die an­de­re, et­was klei­ne­re im März in Leip­zig und dazu noch den „Sa­lon du li­v­re“ in Genf und die Buch­mes­se in Ba­sel – hat sich die­se Si­tua­ti­on wei­ter zu­ge­spitzt. Neue Bü­cher er­schei­nen heu­te das gan­ze Jahr hin­durch. Die Fol­gen sind denn auch klar: Buch­händ­ler, Re­zen­sen­ten und na­tür­lich auch die Le­ser se­hen sich mit ei­ner nicht ab­reis­sen­den Flut von Neu­erschei­nun­gen kon­fron­tiert, die sie kaum mehr zu über­bli­cken und schon gar nicht mehr zu be­wäl­ti­gen vermögen.

Bedrohliche Masse von 80’000 neuen Buchtiteln jährlich

Zwei der letzten grossen Verleger-Persönlichkeiten: Siegfried Unseld (†2002) und Daniel Keel (†2011)
Zwei der letz­ten gros­sen Ver­le­ger-Per­sön­lich­kei­ten: Sieg­fried Un­seld (†2002) und Da­ni­el Keel (†2011) (Wikipedia/M.Boirar)

Über 80‘000 neue Ti­tel wer­den je­weils an der Buch­mes­se in Frank­furt vor­ge­stellt. Auch wenn man von die­ser Zahl die Koch-, Rei­se- und Rat­ge­ber­bü­cher, die Fach­li­te­ra­tur und die Bild­bän­de ab­zieht, bleibt im­mer noch eine be­droh­li­che Mas­se üb­rig, und es fällt zu­neh­mend schwe­rer, mit dem nö­ti­gen Re­spekt und der nö­ti­gen Dif­fe­ren­ziert­heit an das ein­zel­ne Buch her­an­zu­ge­hen. Feuil­le­ton­re­dak­tio­nen und frei­schaf­fen­de Re­zen­sen­ten wis­sen längst nicht mehr, wie sie sich der Bü­cher­flut ent­le­di­gen sol­len, die da wäh­rend des gan­zen Jah­res über sie her­ein­bricht. Sie mö­gen sich manch­mal nach je­nen Zei­ten zu­rück­seh­nen, als es etwa in Zü­rich noch Ver­le­ger wie ei­nen Pe­ter Schif­fer­li, den Grün­der des Ar­che Ver­lags, gab, der die neu­en Bü­cher, in bun­tes Sei­den­pa­pier ge­wi­ckelt, je­weils ei­gen­hän­dig auf den Re­dak­tio­nen vorbeibrachte.
Das Ver­schwin­den von Ver­le­ger­per­sön­lich­kei­ten wie Pe­ter Schif­fer­li er­scheint mir für die Ent­wick­lung der gan­zen Bran­che sym­pto­ma­tisch. Den meis­ten nach dem Zwei­ten Welt­krieg neu ge­grün­de­ten oder nach Deutsch­land zu­rück­ge­kehr­ten Ver­la­gen stan­den noch bis weit in die 1970er Jah­re hin­ein Per­sön­lich­kei­ten vor, die Bü­cher lieb­ten, et­was von Li­te­ra­tur ver­stan­den, mit Au­toren um­zu­ge­hen wuss­ten, ei­nen Rie­cher für jun­ge Ta­len­te hat­ten und im güns­tigs­ten Fall auch ei­ni­ger­mas­sen ge­schäfts­tüch­tig wa­ren. Ver­lags­na­men wie Fi­scher, Suhr­kamp, Ro­wohlt, Hay­mon, Beck, Han­ser oder Dio­ge­nes wa­ren mit solch her­aus­ra­gen­den Per­sön­lich­kei­ten ver­bun­den: mit Lieb­ha­bern, ja Be­ses­se­nen, die Bü­cher ma­chen woll­ten, gute Bü­cher, er­folg­rei­che Bü­cher, und die des­halb ihre Au­toren pfleg­ten wie Renn­stall­be­sit­zer ihre Pferde.
Mit Sieg­fried Un­seld und Da­ni­el Keel sind in den letz­ten Jah­ren zwei der letz­ten die­ses Schlags ge­stor­ben. Bei Han­ser gibt es seit 2013 Mi­cha­el Krü­ger nicht mehr und auch Egon Am­mann, der Grün­der des re­nom­mier­ten Am­mann Ver­lags, der vor fünf Jah­ren auf­ge­löst wur­de, ist von der li­te­ra­ri­schen Büh­ne ab­ge­tre­ten: al­les Ver­le­ger­per­sön­lich­kei­ten, die den Ver­la­gen ih­ren ganz per­sön­li­chen Stem­pel auf­ge­drückt ha­ben. Mit ih­nen geht wohl eine Tra­di­ti­on zu Ende, die von der en­gen, bis­wei­len ein Le­ben über­dau­ern­den Be­zie­hung zwi­schen dem Ver­le­ger und sei­nen Au­toren lebte.

Manager statt Verlegerpersönlichkeiten

Stefan Holtzbrinck - Thomas Rabe - Buch-Konzerne Holtzbrinck und Bertelsmann - Glarean Magazin
„Von Bü­chern, von Au­toren, von Li­te­ra­tur häu­fig kei­ne Ah­nung“: Die Buch­kon­zern-Chefs und Mul­ti­mil­lio­nä­re Ste­fan Holtz­brinck (Holtz­brinck) und Tho­mas Rabe (Ber­tels­mann)

An die Stel­le von Ver­le­ger­per­sön­lich­kei­ten, mei­ne Da­men und Her­ren, sind heu­te Ver­lags­ma­na­ger oder Kon­zern­chefs ge­tre­ten. Die bun­te Pa­let­te von Ver­lags­na­men und Ver­lags­pro­gram­men ist nicht viel mehr als schö­ner Schein, der dar­über hin­weg­täu­schen soll, dass die Un­ter­neh­men Ber­tels­mann und Holtz­brinck mitt­ler­wei­le fast den gan­zen deut­schen Buch­markt un­ter sich auf­tei­len. Die ein­zel­nen Ver­la­ge ver­su­chen zwar noch Ver­lags­pro­fi­le auf­recht zu er­hal­ten und sich den An­schein ei­ner ge­wis­sen Ei­gen­stän­dig­keit zu ge­ben. Doch wenn man ge­nau­er hin­schaut, merkt man, dass sich hin­ter der Viel­falt das knall­har­te Ma­nage­ment von Bran­chen­rie­sen ver­birgt. Die star­ken Män­ner – es sind fast aus­schliess­lich Män­ner -, die an der Spit­ze die­ser Kon­zer­ne ste­hen, kom­men nicht sel­ten aus bran­chen­fer­nen Un­ter­neh­men. Sie be­herr­schen die gol­de­nen Re­geln von Um­satz­stei­ge­rung und Ge­winn­ma­xi­mie­rung; von Bü­chern, von Au­toren, von Li­te­ra­tur über­haupt ha­ben sie häu­fig kei­ne Ah­nung. Müs­sen sie auch nicht ha­ben, denn ihre Auf­ga­be be­steht dar­in, den Cash­flow zu stei­gern und sat­te Ge­win­ne zu er­zie­len. Sie tun es vor al­lem, in­dem sie ihre Lek­to­ren, de­ren Auf­ga­be es bis­her war, Au­toren zu ent­de­cken und Trends auf­zu­spü­ren, mit kon­kre­ten Um­satz­vor­ga­ben dazu ver­pflich­ten, Ver­kaufs­er­fol­ge an­stel­le von li­te­ra­ri­scher Qua­li­tät zu ge­ne­rie­ren. Lek­to­ren sind denn auch im­mer mehr mit Fra­gen des Mar­ke­tings und der Pres­se­ar­beit be­schäf­tigt, so dass ihre Ar­beit am Text zu kurz kommt. Stil­le Bü­cher, schwie­ri­ge Bü­cher, Ly­rik zum Bei­spiel oder ex­pe­ri­men­tel­le Tex­te, ha­ben in ei­nem solch aus­schliess­lich markt­ori­en­tier­ten Sys­tem kaum mehr eine Chan­ce. Und gäbe es, vor al­lem un­ter jun­gen Ver­le­gern, nicht im­mer noch und im­mer wie­der hoff­nungs­lo­se Idea­lis­ten und Selbst­aus­beu­ter, wir be­kä­men bald nur noch Bü­cher vor­ge­setzt, die eine Auf­la­ge von 100‘000 Ex­em­pla­ren oder mehr rechtfertigen.

Zunehmende Merkantilisierung des Buchhandels

Als gute Literatur in die Liga der Bestseller aufgestiegen: Marlene Streeruwitz (Österreich), Wilhelm Genazino (Deutschland), Ruth Schweikert (Schweiz)
Als gute Li­te­ra­tur in die Liga der Best­sel­ler auf­ge­stie­gen: Mar­le­ne Stre­eru­witz (Ös­ter­reich), Wil­helm Gen­a­zi­no (Deutsch­land), Ruth Schwei­kert (Schweiz)

Die Ent­wick­lung im Buch­han­del leis­tet die­sem Trend zu­sätz­lich Vor­schub. Auch hier hat in den letz­ten Jah­ren eine zu­neh­men­de Mer­kan­ti­li­sie­rung und, par­al­lel dazu, eine star­ke Kon­zen­trie­rung auf we­ni­ge Gross­be­trie­be – Hu­gen­du­bel in Deutsch­land, Mo­ra­wa in Ös­ter­reich, Orell-Füss­li in der Schweiz – statt­ge­fun­den. In die­sen Buch- und Mul­ti­me­dia-Kauf­häu­sern gibt es zwar noch Ni­schen für Lieb­ha­ber gu­ter Li­te­ra­tur; das gros­se Ge­schäft je­doch macht man mit Thril­lern, Kri­mis und Ro­man­zen so­wie mit Sach­bü­chern, wel­che die Welt er­klä­ren und die Lö­sung un­se­rer Le­bens­pro­ble­me vom Lie­bes­kum­mer bis zur Fett­lei­big­keit versprechen.
Wenn es ab und zu ein wirk­lich gu­tes Stück Li­te­ra­tur, in Deutsch­land etwa ein Wil­helm Gen­a­zi­no oder ein Da­ni­el Kehl­mann, in Ös­ter­reich ein Arno Gei­ger oder eine Mar­le­ne Stre­eru­witz, in der Schweiz eine Ruth Schwei­kert oder ein Ralph Dut­li, in die Liga der Best­sel­ler schafft, grenzt das an ein Wun­der. Und es ist auch hier ei­ni­gen Idea­lis­ten un­ter den Ver­le­gern zu ver­dan­ken, wenn die Li­te­ra­tur nicht auf das Ni­veau ei­ner Isa­bel Al­len­de, ei­ner Char­lot­te Link oder ei­nes Mar­tin Su­ter schrumpft und der Buch­markt sich an­sons­ten von Dan Brown, Don­na Leon oder Ro­sa­mun­de Pilcher ernährt.

Verpackung statt Inhalte

Ähn­lich wie das Ver­lags­we­sen und der Buch­han­del hat sich auch der Ver­trieb von Li­te­ra­tur ver­än­dert. Was frü­her als kon­ven­tio­nel­le Wer­bung in Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten so­wie als dis­kre­te Be­zie­hungs­pfle­ge in der Buch­händ­ler- und Kri­ti­ker­sze­ne da­her­kam, hat sich längst zu ei­nem gross­an­ge­leg­ten Pro­mo­ti­ons-Zir­kus aus­ge­wach­sen. Der Pu­bli­ka­ti­on ei­nes Ti­tels – das klingt mo­der­ner als „Buch“ – ge­hen Wer­be­kam­pa­gnen vor­aus, wie sie bis­lang nur im Film­ge­schäft üb­lich wa­ren. Längst wer­den nicht mehr nur Ver­lags­pro­spek­te, Le­se­pro­ben und Vor­aus­exem­pla­re ver­schickt, son­dern es wer­den CDs oder DVDs pro­du­ziert, die ähn­lich den Ma­king-ofs er­folg­rei­cher Spiel­fil­me mit Le­se­pro­ben und Aus­schnit­ten von Auf­trit­ten so­wie In­ter­views mit dem Au­tor auf­war­ten. Be­glei­tend hin­zu kommt als ei­gen­stän­di­ger, sehr lu­kra­ti­ver Markt die Hör­buch­pro­duk­ti­on, ohne die die Pro­mo­ti­on ei­nes er­folg­rei­chen Ti­tels über­haupt nicht mehr denk­bar ist. Dies ganz im Ge­gen­satz zum E-Book-Markt, der in den letz­ten Jah­ren bei uns, an­ders als im an­gel­säch­si­schen Raum, nur sehr be­schei­den ge­wach­sen ist.

Hart umkämpfter Markt

Band 200x5
„Die ein­zel­nen Ver­la­ge ver­su­chen zwar noch Ver­lags­pro­fi­le auf­recht zu er­hal­ten und sich den An­schein ei­ner ge­wis­sen Ei­gen­stän­dig­keit zu ge­ben. Doch wenn man ge­nau­er hin­schaut, merkt man, dass sich hin­ter der Viel­falt das knall­har­te Ma­nage­ment von Bran­chen­rie­sen ver­birgt. Die star­ken Män­ner – es sind fast aus­schliess­lich Män­ner -, die an der Spit­ze die­ser Kon­zer­ne ste­hen, kom­men nicht sel­ten aus bran­chen­fer­nen Un­ter­neh­men. Sie be­herr­schen die gol­de­nen Re­geln von Um­satz­stei­ge­rung und Ge­winn­ma­xi­mie­rung; von Bü­chern, von Au­toren, von Li­te­ra­tur über­haupt ha­ben sie häu­fig kei­ne Ahnung.“

Die ers­ten, von den ver­lags­ei­ge­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­ant­wort­li­chen und Pu­blic Re­la­ti­ons-Spe­zia­lis­ten klug or­ga­ni­sier­ten und ge­tim­ten Be­spre­chun­gen er­schei­nen häu­fig schon vor dem Er­schei­nen des Bu­ches in nam­haf­ten Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten. Und wenn das Buch dann end­lich auf dem Markt ist, wird der Au­tor auf ei­nen lan­des­wei­ten oder gar in­ter­na­tio­na­len Le­se­ma­ra­thon ge­schickt, auf den ab­ge­stimmt in Ra­dio und Fern­se­hen ent­spre­chen­de Por­träts und In­ter­views er­schei­nen, wel­che die öf­fent­li­che Wir­kung von Au­tor und Buch wie in ei­nem Spie­gel­saal mul­ti­pli­zie­ren. Der enor­me Auf­wand scheint sich zu rech­nen – und muss es auch. Denn nicht sel­ten ste­hen hin­ter sol­chen Er­folgs­ti­teln fünf- oder gar sechs­stel­li­ge Vor­schüs­se. Wer das wie­der ein­spie­len und erst noch Ge­winn da­von­tra­gen will, muss sich auf dem hart um­kämpf­ten Markt mäch­tig ins Zeug legen.

Tipp an Debütanten: Literaturagentur vorschalten

Dass Ge­schäf­te die­ser Grös­sen­ord­nung längst nicht mehr zwi­schen dem Au­tor und sei­nem Ver­le­ger ge­tä­tigt wer­den, ge­hört eben­falls zu den Neue­run­gen, die den Li­te­ra­tur­be­trieb in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­än­dert ha­ben. Heu­te sind es die Li­te­ra­tur­agen­ten, die zwi­schen den Au­toren und den Ver­le­gern ver­mit­teln, die den rich­ti­gen Au­tor, das rich­ti­ge Buch mit dem rich­ti­gen Ver­lag zu­sam­men­brin­gen und schliess­lich auch die Ver­trä­ge samt Vor­schüs­sen, Ho­no­rar­an­sät­zen, Auf­la­gen­hö­he und Ne­ben­rech­ten aus­han­deln. Sie ver­lan­gen da­für zwi­schen 10 und 20% des Au­toren­ho­no­rars. Rund 85% der li­te­ra­ri­schen Er­fol­ge ge­hen heu­te über den Schreib­tisch von Agen­ten. Un­be­kann­ten Au­toren ist drin­gend zu emp­feh­len, ihr Ma­nu­skript nicht di­rekt an ei­nen Ver­lag, son­dern an eine Li­te­ra­tur­agen­tur zu schi­cken. Re­nom­mier­te Ver­la­ge er­hal­ten heu­te je­den Tag bis zu zehn un­ver­lang­te Ma­nu­skrip­te, so dass ihre Lek­to­ren kaum mehr Zeit fin­den, sich durch die Sta­pel von Tex­ten zu ar­bei­ten. Also wird die­se Ar­beit meist von jun­gen, un­er­fah­re­nen und schlecht be­zahl­ten Prak­ti­kan­ten über­nom­men. Die Chan­cen, dass ein Ma­nu­skript auf die­se Wei­se in die Hän­de ei­nes Ver­le­gers ge­langt, der es ver­öf­fent­li­chen möch­te, sind da­her ver­schwin­dend klein. Li­te­ra­tur­agen­ten hin­ge­gen ha­ben gute Kon­tak­te zu den Ver­la­gen und ih­ren Lek­to­ren. Wenn sie ein Ma­nu­skript zur Prü­fung schi­cken, wis­sen die Ver­la­ge, dass es sich lohnt, ei­nen Blick in den Text zu wer­fen. So lan­det das Ma­nu­skript nicht auf den rie­si­gen Sta­peln, die von den Prak­ti­kan­ten ge­prüft wer­den, son­dern di­rekt auf dem Schreib­tisch der Lektoren.

Auffallen um jeden Preis

Zoe Jenny - Glarean Magazin
„Muss­te zeit­wei­se von 500 Fran­ken mo­nat­lich le­ben“: Schwei­zer Senk­recht-Star­te­rin Zoë Jen­ny („Das Blütenstaubzimmer“)

Hohe Auf­la­gen, mei­ne Da­men und Her­ren, er­reicht am ehes­ten, wem es ge­lingt, in der Sze­ne so rich­tig auf­zu­fal­len: ent­we­der durch die Art, wie er sich gibt, oder durch die The­men, die er be­han­delt. Ro­ma­ne, die sich au­to­bio­gra­fisch le­sen las­sen oder die sich skan­dal­träch­tig ge­nug ge­ben, die vor al­lem se­xu­el­le Ta­bus bre­chen, aber auch sol­che, die Ele­men­te ei­ner Kri­mi­nal­sto­ry ent­hal­ten oder von Mi­gra­ti­ons­ge­schich­ten han­deln und die zu­dem süf­fig ge­schrie­ben sind, ha­ben sich da­bei als be­son­ders ver­käuf­lich er­wie­sen. In­zes­tuö­se Lie­bes­be­zie­hun­gen, Ge­heim­dienst­ein­sät­ze, Ver­schwö­rungs­theo­rien und Dro­gen­ex­zes­se spu­ken durch nicht we­ni­ge Bü­cher, die in den letz­ten Jah­ren in­ter­na­tio­nal von sich re­den mach­ten. Es ge­hört zu den un­ge­schrie­be­nen Ge­set­zen des li­te­ra­ri­schen Mark­tes, dass ein Schrift­stel­ler, will er nicht in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten, alle zwei Jah­re ein Buch ver­öf­fent­li­chen muss.

Band 200x5
„Ins­ge­samt lässt sich sa­gen, dass jün­ge­re Au­torin­nen und Au­toren von den Ver­la­gen, aber auch von den kul­tu­rel­len In­sti­tu­tio­nen er­fah­rungs­ge­mäss stär­ker un­ter­stützt wer­den als äl­te­re. Be­son­ders schwer ha­ben es die Ly­ri­ker: zum ei­nen auf­grund der ge­rin­gen Auf­la­gen – in der Re­gel zwi­schen 300 und 500 Bü­chern – so­wie der feh­len­den Ne­ben­rechts­ver­wer­tung, also der Ver­wer­tung in Film, Fern­se­hen und im Hör­funk, und zum an­dern, weil im­mer mehr Ver­la­ge aus rein öko­no­mi­schen Er­wä­gun­gen – ein Ge­dicht­band stellt für sie ein un­ter­neh­me­ri­sches Ri­si­ko dar – die Ly­rik aus ih­rem Ver­lags­pro­gramm kippen.“

Bei all dem, ver­ehr­te An­we­sen­de, fällt auf, dass die Au­toren und mehr noch die Au­torin­nen im­mer jün­ger wer­den. Ge­ra­de­zu ko­me­ten­haft sind sie in den letz­ten Jah­ren auf­ge­stie­gen, eine Zoë Jen­ny, eine Ju­dith Her­mann, eine Do­ro­thee El­mi­ger, eine He­le­ne He­ge­mann, eine Char­lot­te Ro­che, eine Kat­ja Brun­ner, ein Pe­ter We­ber, ein Chris­ti­an Kracht, ein Da­ni­el Kehl­mann und wie sie alle heis­sen. Die Frau­en un­ter ih­nen sind meist schön, die Män­ner hat­ten eine schwie­ri­ge Kind­heit oder wa­ren sonst wie ge­schä­digt. Ins­ge­samt lässt sich sa­gen, dass jün­ge­re Au­torin­nen und Au­toren von den Ver­la­gen, aber auch von den kul­tu­rel­len In­sti­tu­tio­nen er­fah­rungs­ge­mäss stär­ker un­ter­stützt wer­den als äl­te­re. Be­son­ders schwer ha­ben es die Ly­ri­ker: zum ei­nen auf­grund der ge­rin­gen Auf­la­gen – in der Re­gel zwi­schen 300 und 500 Bü­chern – so­wie der feh­len­den Ne­ben­rechts­ver­wer­tung, also der Ver­wer­tung in Film, Fern­se­hen und im Hör­funk, und zum an­dern, weil im­mer mehr Ver­la­ge aus rein öko­no­mi­schen Er­wä­gun­gen – ein Ge­dicht­band stellt für sie ein un­ter­neh­me­ri­sches Ri­si­ko dar – die Ly­rik aus ih­rem Ver­lags­pro­gramm kip­pen. Al­ler­dings lässt sich heu­te, al­len öko­no­mi­schen Be­den­ken zum Trotz be­ob­ach­ten, dass die Ly­rik ein im­mer grös­ser wer­den­des Pu­bli­kum er­obert. Ly­ri­ker ge­win­nen nam­haf­te Aus­zeich­nun­gen, wie jüngst Jan Wag­ner, der den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se er­hal­ten hat.

Massenhafter Verschleiss von jungen Autoren

Doch zu­rück zu den jun­gen Au­torin­nen und Au­toren. Das Pro­blem all die­ser Jung­ta­len­te und Senk­recht­star­ter am Li­te­ra­tur­him­mel ist nicht die man­geln­de Be­ga­bung und auch nicht der feh­len­de Er­folg. Im Ge­gen­teil: bei­des ist oft­mals im Über­mass vor­han­den. Das Pro­blem ist viel­mehr der Ver­schleiss, dem sie durch den Li­te­ra­tur­be­trieb, wie er sich heut­zu­ta­ge prä­sen­tiert, aus­ge­setzt sind. Da wer­den jun­ge Men­schen, die kaum der Pu­ber­tät ent­wach­sen sind, so hem­mungs­los ins Ram­pen­licht ge­zerrt, mit Vor­schuss­lor­bee­ren be­dacht, mit Prei­sen über­häuft und von Le­se­ter­min zu Le­se­ter­min ge­hetzt, bis sie im Tau­mel zwi­schen Selbst­über­schät­zung und Ver­sa­gens­angst den Bo­den un­ter den Füs­sen ver­lie­ren. Ver­lags­lek­to­ren, Li­te­ra­tur­agen­ten und Kri­ti­ker reis­sen sich um sie, und bis sie ge­merkt ha­ben, wie schnell man sie fal­len lässt, wenn der Er­folg aus­bleibt, ist es oft schon zu spät.

„Wer es schafft, im ‚Li­te­ra­tur­club‘ des Schwei­zer Fern­se­hens – oder frü­her in Elke Hei­den­reichs ZDF-Fern­seh­sen­dung ‚Le­sen!‘ – er­wähnt zu wer­den, hat fürs ers­te ausgesorgt.“

Das Phä­no­men ist nicht ganz neu, hat sich aber in den letz­ten Jah­ren enorm zu­ge­spitzt. Eine jun­ge Au­torin, ein Au­tor pu­bli­ziert ein ers­tes Buch. Das Buch hat Er­folg. Die Re­zen­sio­nen sind en­thu­si­as­tisch, die Buch­händ­ler be­geis­tert. Es fol­gen Le­se­rei­sen, Ein­la­dun­gen zu Wett­be­wer­ben, ers­te re­nom­mier­te Prei­se, In­ter­views am Ra­dio und Auf­trit­te am Fern­se­hen. Es win­ken Vor­schüs­se und lu­kra­ti­ve Ver­trä­ge mit gros­sen Ver­lags­häu­sern – das gan­ze Pro­gramm eben, das ab­läuft, wenn ein in­ter­es­san­ter Erst­ling die ge­lang­weil­te Sze­ne auf­mischt. Dass es nach ei­nem sol­chen De­büt kaum mehr Stei­ge­rungs­mög­lich­kei­ten gibt und das In­ter­es­se nach dem zwei­ten, spä­tes­ten aber nach dem drit­ten Buch nor­ma­ler­wei­se mas­siv ab­nimmt, das sagt den jun­gen Au­toren in der Re­gel nie­mand. Man lässt sie viel­mehr ab­he­ben, sonnt sich in ih­rem Ruhm, sahnt kräf­tig ab und ver­gisst, sie auf ein Le­ben nach dem Kult vor­zu­be­rei­ten. Wenn sie dann da­ste­hen, ohne Le­bens­er­fah­rung, ohne Be­ruf und viel­fach auch ohne Geld, er­lischt das In­ter­es­se an ih­nen ziem­lich schnell. Schwei­zer Au­toren wie Pe­ter We­ber oder Zoë Jen­ny kön­nen ein Lied da­von sin­gen. Die Letz­te­re, vor Jah­ren für ih­ren Erst­ling „Das Blü­ten­staub­zim­mer“ von der Kri­tik noch hoch­ge­ju­belt, zur Best­sel­ler­au­torin ge­macht, zum Star aus­ge­ru­fen, hat sich im Wo­chen­ma­ga­zin „Die Schwei­zer Il­lus­trier­te“ kürz­lich dar­über be­klagt, dass sie mit ih­rer klei­nen Toch­ter der­zeit von 500 Schwei­zer­fran­ken mo­nat­lich le­ben müs­se. Au­toren ha­ben es mit ih­rem zwei­ten Buch er­fah­rungs­ge­mäss üb­ri­gens am schwers­ten, weil es im­mer am Er­folg ih­res De­büts ge­mes­sen und zu­gleich von der Er­war­tungs­hal­tung des Neu­en und An­ders­ar­ti­gen be­stimmt wird.

Band 200x5
„Die Gren­zen zwi­schen be­stell­ter PR und un­ab­hän­gi­ger Li­te­ra­tur­kri­tik sind in letz­ter Zeit im­mer flies­sen­der ge­wor­den. Auf den In­ter­net-Sei­ten von On­line-Buch­händ­lern, aber auch in den ver­schie­de­nen „Literaturclub“-Sendegefässen des In- und Aus­lan­des, wo an die Stel­le äs­the­ti­scher Wer­tun­gen häu­fig rei­ne Ge­schmacks­ur­tei­le tre­ten, sind sie mei­ner Mei­nung nach ein­deu­tig über­schrit­ten. Me­di­en­be­dürf­nis­se und Ver­lags­in­ter­es­sen sind der­mas­sen kon­gru­ent ge­wor­den, dass Kri­tik nicht mehr so sehr der Mei­nungs­bil­dung als viel­mehr der Um­satz­stei­ge­rung dient.“

Der Li­te­ra­tur­be­trieb, lie­be Zu­hö­re­rin­nen und Zu­hö­rer, ist ein har­tes Ge­schäft. Auf­la­gen und Ver­kaufs­zah­len sind letzt­lich das Ein­zi­ge, was in die­sem Busi­ness wirk­lich zählt. Wie man sie er­reicht, ob mit ei­nem Skan­dal, mit ech­ter Qua­li­tät oder mit Pro­mo­ti­on, die die­se bloss vor­täuscht, ist se­kun­där. Wer es schafft, im „Li­te­ra­tur­club“ des Schwei­zer Fern­se­hens – oder frü­her in Elke Hei­den­reichs Fern­seh­sen­dung „Le­sen!“ des ZDF – er­wähnt zu wer­den, hat fürs ers­te aus­ge­sorgt. Egal, wie über das Buch ge­re­det wird, Haupt­sa­che, es wird ge­re­det. Ver­la­ge wer­den im Vor­aus über die Ti­tel­wahl in Kennt­nis ge­setzt und hal­ten ent­spre­chen­de Men­gen lie­fer­ba­rer Ex­em­pla­re be­reit, um der am Tag nach der Sen­dung ein­set­zen­den Nach­fra­ge ent­spre­chen zu können.
Mit Li­te­ra­tur­kri­tik im her­kömm­li­chen Sin­ne ha­ben solch mas­sen­me­dia­le Übun­gen nichts mehr zu tun. Die Gren­zen zwi­schen be­stell­ter PR und un­ab­hän­gi­ger Kri­tik sind in letz­ter Zeit im­mer flies­sen­der ge­wor­den. Auf den In­ter­net-Sei­ten von On­line-Buch­händ­lern, aber auch in Sen­dun­gen wie dem „Li­te­ra­tur­club“, in dem an die Stel­le äs­the­ti­scher Wer­tun­gen häu­fig rei­ne Ge­schmacks­ur­tei­le tre­ten, sind sie mei­ner Mei­nung nach ein­deu­tig über­schrit­ten. Me­di­en­be­dürf­nis­se und Ver­lags­in­ter­es­sen sind der­mas­sen kon­gru­ent ge­wor­den, dass Kri­tik nicht mehr so sehr der Mei­nungs­bil­dung als viel­mehr der Um­satz­stei­ge­rung dient. Da­mit will ich nicht sa­gen, dass es heut­zu­ta­ge kei­ne gute, pro­fes­sio­nel­le Li­te­ra­tur­kri­tik mehr gebe. Es gilt nur, sie von ge­schickt ge­fer­tig­ter Pu­blic Re­la­ti­on zu unterscheiden.

Verwischte Grenzen zwischen PR und Literaturkritik

„Das poin­tier­te Ur­teil, die ge­wag­te Mei­nung, das küh­ne Ver­dikt sucht man heu­te viel­fach ver­ge­bens“: Kri­ti­ker-Le­gen­de Mar­cel Reich-Ra­ni­cki (1930-2013)

In der Li­te­ra­tur­kri­tik hat sich in den letz­ten zehn, zwan­zig Jah­ren ei­ni­ges ver­än­dert – und lei­der nicht im­mer zum Bes­se­ren. Schon 1989 sprach der Schwei­zer Schrift­stel­ler Hugo Loet­scher da­von, dass die „Zeit der In­stan­zen vor­bei“ sei und her­aus­ra­gen­de Kri­ti­ker­per­sön­lich­kei­ten wie Mar­cel Reich-Ra­ni­cki in Deutsch­land, Sig­rid Löff­ler in Ös­ter­reich und Kla­ra Ober­mül­ler in der Schweiz all­mäh­lich der Ver­gan­gen­heit an­ge­hör­ten. Ganz un­recht scheint mir Loet­scher mit die­ser Pro­gno­se nicht ge­habt zu ha­ben. Zwar hat die Zahl der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, also der Leu­te, die Bü­cher be­spre­chen, ge­gen­über frü­her eher zu­ge­nom­men. Gleich­zei­tig hat ihre Tä­tig­keit je­doch deut­lich an Pro­fil ein­ge­büsst. Das poin­tier­te Ur­teil, die ge­wag­te Mei­nung, das küh­ne Ver­dikt sucht man heu­te viel­fach ver­ge­bens. Da­für neh­men Buch­be­spre­chun­gen über­hand, die mehr oder we­ni­ger nichts­sa­gen­de und be­lie­big aus­wech­sel­ba­re Aus­sa­gen ent­hal­ten – Aus­sa­gen von Li­te­ra­tur­kri­ti­kern no­ta­be­ne, die sich von rei­ner Wer­bung kaum mehr un­ter­schei­den las­sen. Wenn da von ei­ner „flott er­zähl­ten Ge­schich­te“, von ei­nem Au­tor, „der das gros­se Gan­ze im Blick“ habe, von „leuch­ten­den Kom­po­si­tio­nen“ oder gar von ei­nem „hoch­ero­ti­schen Buch“ die Rede ist, so ist das nichts wei­ter als nichts­sa­gen­des Ge­schwätz, das dem Le­ser kei­ne wirk­li­che In­for­ma­ti­on über die Qua­li­tät des be­spro­che­nen Bu­ches bie­tet. Und wenn von ei­nem rei­nen Un­ter­hal­tungs­au­tor wie Mar­tin Su­ter in ZDF aspek­te ge­sagt wird, man hal­te ihn „im Mo­ment für ei­nen der bes­ten deutsch­spra­chi­gen Au­toren“, dann lässt sich mit Fug und Recht fra­gen, wie schlecht es denn um die zeit­ge­nös­si­sche deut­sche Li­te­ra­tur be­stellt sein müs­se, dass ein sol­cher Au­tor zu den Bes­ten ge­hört. Die Angst vor dem poin­tier­ten Ur­teil, vor der dif­fe­ren­zier­ten Mei­nung hängt zu ei­nem gros­sen Teil auch da­mit zu­sam­men, dass heut­zu­ta­ge kaum ein Kri­ti­ker noch all die Bü­cher, über die er schreibt, von A bis Z durch­liest. Oft­mals reicht die Zeit nur, um ein Buch quer zu le­sen. Die In­halts­an­ga­ben in die­sen Kri­ti­ken sind denn auch reich­lich dünn und oft­mals in De­tails auch falsch. In ih­rer Re­zen­si­on von Mar­tin Walsers Ro­man „Angst­blü­te“ spra­chen die Kri­ti­ker pau­schal von sti­lis­ti­scher Meis­ter­schaft, konn­ten da­bei aber nicht eine be­son­ders ge­lun­ge­ne For­mu­lie­rung an­füh­ren, um ihr Lob zu belegen.

Thomas Hürlimann - Schweizer Schriftsteller - Glarean Magazin
Brenz­li­ges Fa­mi­liä­res in die No­vel­le ein­ge­baut: Tho­mas Hürlimann

Mit dem Ab­tre­ten kom­pe­ten­ter, streit­lus­ti­ger und un­er­schro­cke­ner Kri­ti­ker­per­sön­lich­kei­ten ist die Li­te­ra­tur­sze­ne ohne Zwei­fel ein­tö­ni­ger ge­wor­den. Was fehlt, ist der Dis­put, die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung. Sie fin­det fast nur noch dann statt, wenn ein Skan­dal in der Luft liegt, wenn ein Tho­mas Hür­li­mann in sei­ner No­vel­le „Fräu­lein Stark“ Brenz­li­ges aus der ei­ge­nen Fa­mi­li­en­ge­schich­te preis­gibt oder wenn ein Gün­ter Grass in sei­nem au­to­bio­gra­fi­schen Ro­man „Beim Häu­ten der Zwie­bel“ nach über 60 Jah­ren be­kannt gibt, dass er als Sieb­zehn­jäh­ri­ger Mit­glied der Waf­fen-SS war, oder wenn ei­ner He­le­ne He­ge­mann oder ei­nem Urs Mann­hart von den Me­di­en vor­ge­hal­ten wird, Fremd­tex­te, ohne sie zu zi­tie­ren, in ihr Werk über­nom­men zu ha­ben. Was je­doch, von sol­chen Eklats ein­mal ab­ge­se­hen, all­mäh­lich ver­lo­ren ge­gan­gen ist, sind die Stim­men de­rer, die mit ih­rem Ur­teil her­aus­for­dern und ihre Le­ser dazu an­re­gen, so­wohl ei­ge­ne Kri­te­ri­en im Um­gang mit Li­te­ra­tur auf­zu­stel­len als auch die Kri­te­ri­en der Be­rufs­kri­ti­ker zu hinterfragen.

Ästhetische Kriterien guter Literatur

„Die Auf­fas­sung, Dich­tung sei stets ori­gi­nal, der Au­tor ein Ori­gi­nal­ge­nie, die bei den Au­toren wie bei den Kri­ti­kern bis heu­te her­um­geis­tert, hat in der neue­ren deut­schen Li­te­ra­tur selt­sa­me Blü­ten ge­trie­ben“: Jo­hann Gott­fried Her­der, Be­grün­der des li­te­ra­ri­schen Subjektivismus‘

Ver­ehr­te An­we­sen­de, äs­the­ti­sche Kri­te­ri­en zu be­nen­nen, nach de­nen Li­te­ra­tur be­ur­teilt wer­den kann, ist noch nie leicht ge­we­sen. Aber es gibt, wie noch zu zei­gen sein wird, sol­che Wer­tungs­kri­te­ri­en, sonst lies­sen sich die gröss­ten Di­let­tan­te­rei­en, wenn man sie nur lan­ge ge­nug an­preist, als Dich­tung, als Kunst aus­ge­ben. Ich sage das hier in al­ler Deut­lich­keit, weil sich bei sehr vie­len Au­toren, aber auch bei den Kri­ti­kern die Auf­fas­sung hart­nä­ckig hält, es gebe kei­ne ei­ni­ger­mas­sen ob­jek­ti­ven Kri­te­ri­en für die Be­wer­tung von Li­te­ra­tur. Es ist eine Auf­fas­sung, die aus dem spä­ten 18.Jahrhundert, aus der Zeit des „Sturm und Drang“ mit ih­rer star­ken Ten­denz zu In­di­vi­dua­lis­mus und Sub­jek­ti­vis­mus, stammt und die wir im deut­schen Sprach­raum – ich be­to­ne: im deut­schen Sprach­raum; für den an­gel­säch­si­schen Raum gilt das bei­spiels­wei­se nicht- of­fen­bar bis heu­te noch nicht über­wun­den ha­ben. Nach Jo­hann Gott­fried Her­der, dem ei­gent­li­chen Be­grün­der die­ser sub­jek­ti­vis­ti­schen Auf­fas­sung, ist jede Kunst, jede Dich­tung ori­gi­nal und je­der Dich­ter ein frei­schaf­fen­des, schöp­fe­ri­sches Ori­gi­nal­ge­nie, das kei­ner­lei poe­ti­schen Re­geln un­ter­wor­fen ist. So meint denn ein re­nom­mier­ter Schrift­stel­ler wie Tho­mas Hett­che noch in un­sern Ta­gen kurz und bün­dig, es gebe kei­ne äs­the­ti­schen Kri­te­ri­en für Tex­te – aus­ser ih­rem Ge­lin­gen. Und so ant­wor­te­te mir die No­bel­preis­trä­ge­rin El­frie­de Je­li­nek im Juli 2011 auf mei­ne Fra­ge, was denn für sie ein gu­ter Text sei, eben­so kurz und bün­dig, sie ken­ne kei­ne Re­gel, die sie auf­stel­len könn­te. Dies nur zwei Bei­spie­le, die für vie­le an­de­re stehen.

Autoren lernten schon immer von Autoren

Die Auf­fas­sung, Dich­tung sei stets ori­gi­nal, der Au­tor ein Ori­gi­nal­ge­nie, die bei den Au­toren wie bei den Kri­ti­kern bis heu­te her­um­geis­tert, hat in der neue­ren deut­schen Li­te­ra­tur selt­sa­me Blü­ten ge­trie­ben. Am sicht­bars­ten wird das an der un­um­stöss­li­chen Über­zeu­gung sehr vie­ler Au­toren, je­der ih­rer li­te­ra­ri­schen Tex­te müs­se ihr ur­ei­ge­nes Werk sein, dür­fe kei­ner­lei Über­nah­men, und sei­en es nur Be­zü­ge zu an­dern Tex­ten, be­inhal­ten, dür­fe vor al­lem nicht auf Ge­lern­tem be­ru­hen. Mir fällt im­mer wie­der auf, wie häu­fig Au­toren Ze­ter und Mor­dio schrei­en, sich in ih­rer Ein­zig­ar­tig­keit ver­ra­ten füh­len, wenn man sie dar­auf hin­weist, dass sich in ih­ren Tex­ten Spu­ren von Tex­ten an­de­rer Au­toren fin­den, dass sie – mit an­dern Wor­ten – von an­dern Au­toren ge­lernt ha­ben. Da­bei ha­ben das alle be­deu­ten­den Au­toren ge­tan: Schon der Alt­meis­ter Goe­the hat be­kannt, dass er bei Shake­speare ge­lernt hat. Für Ber­tolt Brecht ist es Al­fred Dö­b­lin, den er ein­mal so­gar sei­nen „un­ehe­li­chen Va­ter“ nennt, und Gün­ter Grass spricht von Al­fred Dö­b­lin als von „sei­nem Leh­rer“. Mar­tin Wal­ser hat im­mer wie­der auf Franz Kaf­ka ver­wie­sen, bei dem er viel über das We­sen des Pa­ra­do­xen ge­lernt habe. Ernst Jandl hat mit Blick auf sei­ne ex­pe­ri­men­tel­le Ly­rik bei der als „Mut­ter der Mo­der­ne“ be­kannt ge­wor­de­nen Ger­tru­de Stein ge­lernt. Und selbst Kaf­kas Pa­ra­beln wä­ren ohne Ro­bert Walsers frü­he Skiz­zen kaum denk­bar. Der Bei­spie­le wä­ren noch unzählige.

Guter Rat an Autoren: Haben Sie den Mut zum permanenten Lernen!

Band 200x5
„Mir fällt im­mer wie­der auf, wie häu­fig Au­toren Ze­ter und Mor­dio schrei­en, sich in ih­rer Ein­zig­ar­tig­keit ver­ra­ten füh­len, wenn man sie dar­auf hin­weist, dass sich in ih­ren Tex­ten Spu­ren von Tex­ten an­de­rer Au­toren fin­den, dass sie – mit an­dern Wor­ten – von an­dern Au­toren ge­lernt ha­ben. Da­bei ha­ben das alle be­deu­ten­den Au­toren ge­tan: Schon der Alt­meis­ter Goe­the hat be­kannt, dass er bei Shake­speare ge­lernt hat. Für Ber­tolt Brecht ist es Al­fred Dö­b­lin, den er ein­mal so­gar sei­nen ‚un­ehe­li­chen Va­ter‘ nennt und Gün­ter Grass spricht von Al­fred Dö­b­lin als von ’sei­nem Leh­rer‘. Mar­tin Wal­ser hat im­mer wie­der auf Franz Kaf­ka ver­wie­sen, bei dem er viel über das We­sen des Pa­ra­do­xen ge­lernt habe. Ernst Jandl hat mit Blick auf sei­ne ex­pe­ri­men­tel­le Ly­rik bei der als ‚Mut­ter der Mo­der­ne‘ be­kannt ge­wor­de­nen Ger­tru­de Stein ge­lernt. Und selbst Kaf­kas Pa­ra­beln wä­ren ohne Ro­bert Walsers frü­he Skiz­zen kaum denkbar.“

Was ich da­mit sa­gen will: Ha­ben Sie, mei­ne Da­men und Her­ren, wenn Sie prak­ti­zie­ren­de Au­torin, prak­ti­zie­ren­der Au­tor sind, kei­ne Angst da­vor, im Be­reich des li­te­ra­ri­schen Schrei­bens im­mer wie­der zu ler­nen. Sei es, in­dem Sie Ro­ma­ne, Er­zäh­lun­gen, Ge­dich­te an­de­rer zeit­ge­nös­si­scher Au­toren ganz be­wusst le­sen, oder in­dem Sie ab und zu ei­nen Blick in die deut­sche Li­te­ra­tur­ge­schich­te wer­fen und sich bei­spiels­wei­se fra­gen, wie die Ly­ri­ker des Ex­pres­sio­nis­mus ihre Ge­dich­te ge­macht ha­ben, wie ein Al­fred Dö­b­lin in sei­nem Ro­man „Ber­lin Alex­an­der­platz“ den in­ne­ren Mo­no­log ver­wen­det hat, oder in­dem Sie für ein­zel­ne Fra­gen, etwa für die Fra­ge nach der Ge­stal­tung von Fi­gu­ren, ein li­te­ra­ri­sches Sach­buch bei­zie­hen, oder in­dem sie nicht zu­letzt auch ein­mal an ei­nem Se­mi­nar für Au­torin­nen und Au­toren teil­neh­men. Selbst­ver­ständ­lich be­darf es für das li­te­ra­ri­sche Schrei­ben zu­nächst aus­rei­chen­der Be­ga­bung; wer da­für zu we­nig be­gabt ist wie bei­spiels­wei­se ich soll­te nicht dich­ten wol­len. Aber eben­so selbst­ver­ständ­lich dürf­te es sein, dass li­te­ra­ri­sches Schrei­ben we­ni­ger eine spi­ri­tu­el­le Er­fah­rung als viel­mehr ein Hand­werk, ja har­te Schreib­tisch­ar­beit ist, die von der Au­torin, vom Au­tor über­dies ein ho­hes Mass an Selbst­kri­tik, an Di­stanz zum ei­ge­nen Text er­for­dert. Ver­lags­lek­to­ren be­stä­ti­gen es im­mer wie­der und auch mei­ne Er­fah­rung als Do­zent für li­te­ra­ri­sches Schrei­ben zeigt es: Je bes­ser je­mand schreibt, des­to selbst­kri­ti­scher ist er, des­to mehr ist er auch be­reit zu ler­nen. Das soll­ten sich in ers­ter Li­nie all jene mer­ken, de­nen es beim Schrei­ben mehr um den Drang nach Selbst­ver­wirk­li­chung oder gar um eine Art Psy­cho­hy­gie­ne geht als dar­um, äs­the­ti­schen An­sprü­chen, be­stimm­ten li­te­ra­ri­schen Wer­tungs­kri­te­ri­en zu genügen.

Die literarische Wertung von Texten

Da­mit, ver­ehr­te An­we­sen­de, ist das längst er­war­te­te Stich­wort ge­fal­len, das in ei­nem Re­fe­rat über den ak­tu­el­len Li­te­ra­tur­be­trieb nicht feh­len darf: die Fra­ge nach der li­te­ra­ri­schen Wer­tung von Tex­ten näm­lich. Las­sen Sie mich auch dazu ei­ni­ges ausführen:
In der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft strei­tet man sich bis heu­te, ob es so et­was wie all­ge­mein­gül­ti­ge, ver­bind­li­che Mass­stä­be für die Wer­tung li­te­ra­ri­scher Tex­te gibt. Im Ver­lau­fe der Re­zep­ti­ons­ge­schich­te ha­ben sich zwei ein­an­der dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setz­te ex­tre­me Po­si­tio­nen her­aus­ge­bil­det: Da fin­det sich zu­nächst eine his­to­risch äl­te­re Po­si­ti­on, wo­nach es fes­te, zeit­los gül­ti­ge Kri­te­ri­en gibt, die uns er­lau­ben, ‚gute‘ und ,schlech­te‘ Tex­te, also bei­spiels­wei­se Kitsch und äs­the­tisch wert­vol­le Li­te­ra­tur, klar von­ein­an­der zu un­ter­schei­den. Es ist die Po­si­ti­on der sog. Re­gel­poe­tik, ei­ner Poe­tik, die von Mar­tin Opitz im 17. Jahr­hun­dert durch die gan­ze Ge­schich­te der äl­te­ren Ger­ma­nis­tik hin­durch bis zu Emil Staiger, ei­nem mei­ner da­ma­li­gen Leh­rer in Zü­rich, reicht. Und da ist die ge­naue, his­to­risch noch sehr jun­ge Ge­gen­po­si­ti­on, die heu­te vor al­lem von den Ver­tre­tern post­mo­der­ner In­ter­pre­ta­ti­ons­theo­rien ein­ge­nom­men wird. Da­nach gibt es kei­ne ver­bind­li­chen Mass­stä­be für die li­te­ra­ri­sche Wer­tung, be­ru­hen die Ur­tei­le über die äs­the­ti­sche Qua­li­tät li­te­ra­ri­scher Tex­te auf mehr oder we­ni­ger sub­jek­ti­ven Geschmacksentscheidungen.

Die literarischen Wertmassstäbe im Laufe der Zeit

Jahrelang als dilettantischer Provokateur und
Jah­re­lang als di­let­tan­ti­scher Pro­vo­ka­teur und „Ver­der­ber der Ju­gend“ ge­schmäht, schliess­lich doch in­ter­na­tio­nal ge­fei­ert: Ernst Jandl als bei­spiel­haf­tes „Op­fer“ wech­sel­haf­ter li­te­ra­ri­scher Reputation

Wel­che der bei­den ge­gen­sätz­li­chen Po­si­tio­nen, ver­ehr­te An­we­sen­de, ist nun rich­tig? Kei­ne, wür­de ich sa­gen. Denn gäbe es so et­was wie zeit­los gül­ti­ge Mass­stä­be, wel­che Epo­che wür­de die­se Mass­stä­be denn set­zen? Etwa die deut­sche Klas­sik mit Goe­the und Schil­ler, wie Emil Staiger in sei­ner Zür­cher Preis­re­de von 1966 ge­meint hat? Wenn das zu­trä­fe, dann könn­te man die ge­sam­te mo­der­ne Li­te­ra­tur in die Wüs­te schi­cken. Was aber, wenn es kei­ner­lei ver­bind­li­chen Wer­tungs­kri­te­ri­en gibt? Wie lässt es sich dann er­klä­ren, dass man sich in der Li­te­ra­tur­kri­tik über die äs­the­ti­sche Qua­li­tät be­stimm­ter Tex­te, z.B. ei­ner Er­zäh­lung von Franz Kaf­ka, durch­aus ei­nig ist? Sie se­hen, mei­ne Da­men und Her­ren, es scheint doch so et­was wie Wert­mass­stä­be zu ge­ben. Aber – und das un­ter­schei­det die­se Mass­stä­be von je­nen an­geb­lich all­ge­mein­gül­ti­gen der ‚al­ten‘ Re­gel­poe­tik – sie grün­den nicht in ir­gend­ei­ner Zeit­lo­sig­keit, son­dern ganz im Ge­gen­teil in ei­nem his­to­ri­schen Wan­del, ver­än­dern sich also im Lau­fe der Geschichte.

Ethisch-politische Aspekte anstelle von ästhetischen

Nur so er­klärt es sich bei­spiels­wei­se, dass Ernst Jandls Sprech­ge­dich­te in den 1950er Jah­ren von der Li­te­ra­tur­kri­tik als „kul­tu­rel­le Pro­vo­ka­ti­on son­der­glei­chen“ emp­fun­den und Jandl sel­ber als „Ver­der­ber der Ju­gend“ ge­schmäht wur­de, so dass man ihn in den Fol­ge­jah­ren von Pu­bli­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten in Ös­ter­reich aus­schloss – wäh­rend der glei­che Au­tor zwan­zig Jah­re spä­ter zu den wich­tigs­ten und an­er­kann­tes­ten Au­toren im deut­schen Sprach­raum ge­hör­te, den man mit öf­fent­li­chen Eh­run­gen und Prei­sen, vom Gros­sen Ös­ter­rei­chi­schen Staats­preis bis hin zum Büch­ner-Preis ge­ra­de­zu über­häuf­te. So sehr kön­nen sich li­te­ra­ri­sche Wert­mass­stä­be im Lau­fe der Zeit eben än­dern. Ih­nen lie­gen wech­seln­de axio­lo­gi­sche Wer­te zu­grun­de, d.h. Mass­stä­be, die Tex­te als ,wert­voll‘ er­schei­nen las­sen, sie als Wert er­kenn­bar ma­chen. Ein solch axio­lo­gi­scher Wert kann sich auf rein äs­the­ti­sche, aber auch auf ethisch-po­li­ti­sche Aspek­te ei­nes Werks be­zie­hen. So hat­te zum Bei­spiel der Boy­kott Ber­tolt Brechts und sei­ner Thea­ter­stü­cke zwi­schen 1953 und 1962 in West­deutsch­land und noch dras­ti­scher hier in Ös­ter­reich nichts mit des­sen li­te­ra­ri­schem Ta­lent, aber sehr viel mit sei­nem Ein­tre­ten für den Kom­mu­nis­mus und vor al­lem mit sei­ner Sym­pa­thie für das DDR-Re­gime zu tun, seit er ab 1948 in Ost-Ber­lin leb­te. Es wa­ren also nicht äs­the­ti­sche, son­dern viel­mehr ethisch-po­li­ti­sche Wert­mass­stä­be, an de­nen man im Zei­chen des Kal­ten Krie­ges Brechts Werk mass. Dies, lie­be Hö­re­rin­nen und Hö­rer, nur als ein Bei­spiel, das zei­gen soll, dass häu­fig Wert­mass­stä­be an ein li­te­ra­ri­sches Werk an­ge­legt wer­den, die sich auf rein ethisch-po­li­ti­sche Aspek­te und kei­nes­wegs auf äs­the­ti­sche be­zie­hen. Eine Chris­ta Wolf, ein Gün­ter Grass, die bei­de in­zwi­schen tot sind, hät­ten ein Lied da­von sin­gen können.

Das Kriterium des Selbstverständnisses

Band 200x5
„Es muss ei­nen we­sent­li­chen Grund da­für ge­ben, auch li­te­ra­ri­sche Tex­te ver­gan­ge­ner Jahr­hun­der­te heu­te noch zu le­sen. Ich nen­ne Ih­nen die­sen Grund: Le­sen wir ein li­te­ra­ri­sches Werk, ei­nen Ro­man, ein Ge­dicht, eine No­vel­le, dann kann es uns ge­sche­hen, dass nach ei­ni­ger Zeit der Ne­bel der Fremd­heit zu wei­chen be­ginnt und wir plötz­lich er­ken­nen: Die­ses Werk spricht ja von uns! Nicht von un­se­rem pri­va­ten Sub­jekt, son­dern von uns, so­fern es um exis­ten­ti­el­le Grund­er­fah­run­gen, wie etwa Angst, Sor­ge, Schuld, Rät­sel­haf­tig­keit des Le­bens, geht, von de­nen auch das Werk handelt.“

Aus der Tat­sa­che, ver­ehr­te An­we­sen­de, dass li­te­ra­ri­sche Wer­tungs­kri­te­ri­en wan­del­bar sind, er­gibt sich für uns die For­de­rung, sie bei der Be­ur­tei­lung li­te­ra­ri­scher Tex­te zu­rück­hal­tend an­zu­wen­den. Dies umso mehr, als uns be­wusst sein muss, dass die Li­te­ra­tur, ge­ra­de in der Mo­der­ne, von den un­ter­schied­lichs­ten Er­schei­nungs­for­men lebt.
All die­sen Vor­be­hal­ten zum Trotz habe ich den Ver­such ge­wagt und im letz­ten Ka­pi­tel mei­nes Bu­ches: „Die Struk­tur der mo­der­nen Li­te­ra­tur“ – Neue For­men und Tech­ni­ken des Schrei­bens“ zehn Kri­te­ri­en ge­nannt, die mei­nes Er­ach­tens die Qua­li­tät ei­nes li­te­ra­ri­schen Tex­tes aus­ma­chen. Auf sie kann ich im Rah­men die­ses Vor­tra­ges nicht nä­her eingehen.
Auf ein Kri­te­ri­um möch­te ich hier aber doch kurz ein­ge­hen. Ich nen­ne es das Kri­te­ri­um des Selbst­ver­ständ­nis­ses und hal­te es für das wich­tigs­te Kri­te­ri­um von Li­te­ra­tur über­haupt. Ha­ben Sie sich, lie­be An­we­sen­de, schon ein­mal ge­fragt, war­um Sie etwa Goe­thes „Faust“, ein Ge­dicht von An­dre­as Gry­phi­us oder eine No­vel­le von Theo­dor Storm noch le­sen, heu­te, wo es doch mehr als ge­nug zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur zu le­sen gibt? Die Ant­wort, es hand­le sich um äs­the­tisch be­son­ders wert­vol­le Li­te­ra­tur, die zu­dem ka­no­ni­siert sei, ver­mag uns kaum ganz zu be­frie­di­gen. Wert­vol­le Li­te­ra­tur gibt es näm­lich auch heu­te. Es muss wohl noch ei­nen an­dern, we­sent­li­che­ren Grund da­für ge­ben, auch li­te­ra­ri­sche Tex­te ver­gan­ge­ner Jahr­hun­der­te heu­te noch zu le­sen. Ich nen­ne Ih­nen die­sen Grund: Le­sen wir ein li­te­ra­ri­sches Werk, ei­nen Ro­man, ein Ge­dicht, eine No­vel­le, dann kann es uns ge­sche­hen, dass nach ei­ni­ger Zeit der Ne­bel der Fremd­heit zu wei­chen be­ginnt und wir plötz­lich er­ken­nen: Die­ses Werk spricht ja von uns! Nicht von un­se­rem pri­va­ten Sub­jekt, son­dern von uns, so­fern es um exis­ten­ti­el­le Grund­er­fah­run­gen, wie etwa Angst, Sor­ge, Schuld, Rät­sel­haf­tig­keit des Le­bens, geht, von de­nen auch das Werk han­delt. Wenn uns bei­spiels­wei­se Franz Kaf­kas Pa­ra­bel „Vor dem Ge­setz“ heu­te nach 100 Jah­ren, noch packt, so des­halb, weil sie in gül­ti­ger Form zeigt, wie der Mensch im­mer von Neu­em ver­sucht, sei­ner Exis­tenz ei­nen Sinn ab­zu­ge­win­nen, auch wenn er weiss, dass die­ser Ver­such in ei­ner sinn­ent­leer­ten Welt zum Schei­tern ver­ur­teilt ist. Und wenn ein Max Frisch in sei­nem Stück „An­dor­ra“ zeigt, wie die An­dor­ra­ner durch ihre kol­lek­ti­ven Vor­ur­tei­le ei­nen Men­schen ver­nich­ten, dann schei­nen die­se An­dor­ra­ner et­was bei­spiel­haft zu ver­kör­pern, was uns alle angeht.

Hic tua res agitur…

Band 400x20
Der Buch­markt 2014 in Deutsch­land
Die Buch­bran­che schloss das ver­gan­ge­ne Jahr mit ei­nem leich­ten Mi­nus ab: Die Ein­nah­men sind um 2,2 Pro­zent ge­fal­len – von 9,54 auf 9,32 Mil­li­ar­den Euro. Der sta­tio­nä­re Buch­han­del konn­te trotz Um­satz­schmä­le­rung im Ver­gleich zum Vor­jahr Markt­an­tei­le zu­rück­er­obern und si­chert sich mit 4,58 Mil­li­ar­den Euro 49,2 Pro­zent al­ler Bran­chen­um­sät­ze (2013: 48,6 Pro­zent, 2005: 54,8 Prozent).Der In­ter­net­buch­han­del ver­liert hin­ge­gen deut­lich Um­satz­an­tei­le. Er er­wirt­schaf­te­te letz­tes Jahr 1,51 Mil­li­ar­den Euro (mi­nus 3,1 Pro­zent im Ver­gleich zu 2013), was ei­nen An­teil am Ge­samt­um­satz von 16,2 Pro­zent aus­macht.
Und so setzt sich der Ge­samt­um­satz kom­plett zu­sam­men: Sor­ti­ments­buch­han­del 4.583 Mio. Euro (49,2 %), Ver­la­ge di­rekt 1.904 Mio. Euro (20,4 %), In­ter­net­buch­han­del 1.511 Mio. Euro (16,2 %), sons­ti­ge Ver­kaufs­stel­len 922 Mio. Euro (9,9 %), Ver­sand­buch­han­del 161 Mio. Euro (1,7 %), Buch­ge­mein­schaf­ten 122 Mio. Euro (1,3 %), Wa­ren­häu­ser 117 Mio. Euro (1,3 %).
Auch die Ver­la­ge, die in den letz­ten Jah­ren eine po­si­ti­ve Um­satz­ent­wick­lung er­zie­len konn­ten, ver­bu­chen 2014 ein leich­tes Mi­nus von 0,4 Pro­zent. Und so stel­len sich die Er­geb­nis­se der Ge­schäfts­fel­der dar: On­line-Diens­te plus 0,8 Pro­zent, Zeit­schrif­ten­ge­schäft plus 1,2 Pro­zent, Ne­ben­rech­te mi­nus 8,1 Pro­zent, klas­si­sches Buch­ge­schäft mi­nus 0,7 Prozent.

Preis­ent­wick­lung
Bü­cher wa­ren in den ver­gan­ge­nen Jah­ren teil­wei­se von der all­ge­mei­nen Auf­wärts­be­we­gung der Ver­brau­cher­prei­se ab­ge­kop­pelt. Das Jahr 2012, in dem die Buch­prei­se (plus 1,9 Pro­zent) mit den Ver­brau­cher­prei­sen (plus 2,0 Pro­zent) na­he­zu gleich zie­hen konn­ten, brach­te die Wen­de. 2014 klet­ter­ten die Prei­se für Bü­cher um 1,8 Pro­zent nach oben (Ver­gleich: Ver­brau­cher­prei­se plus 0,9 Pro­zent).
Der Durch­schnitts­la­den­preis der Neu­erschei­nun­gen (alle Sach­grup­pen zu­sam­men be­trach­tet) be­trug letz­tes Jahr 26,20 Euro.

Das E-Book in Deutsch­land: Um­satz und Ab­satz
Der E-Book-Um­satz­an­teil am Pu­bli­kums­markt (pri­va­ter Be­darf, ohne Schul- und Fach­bü­cher) in Deutsch­land be­trug letz­tes Jahr 4,3 Pro­zent (2013: 3,9 Pro­zent), da­bei han­delt es sich um ei­nen An­stieg um 7,6 Pro­zent. Ver­gleich: Von 2012 auf 2013 konn­ten die E-Book-Um­sät­ze noch um 60,5 Pro­zent zu­le­gen.
Der Ab­satz von E-Books ist im letz­ten Jahr um 15 Pro­zent ge­stie­gen: Am Pri­vat­kun­den­markt wur­den 24,8 Mil­lio­nen E-Books ab­ge­setzt (2013: 21,5 Mil­lio­nen). Beim E-Book gilt, ana­log zum Print­buch, die Buch­preis­bin­dung. Der fes­te La­den­preis für di­gi­ta­le Bü­cher, der die Viel­falt im Buch­han­del er­hal­ten und vor ei­nem rui­nö­sen Wett­be­werb im In­ter­net schüt­zen soll, wird jetzt nach dem Wil­len der Bun­des­re­gie­rung noch ein­mal ex­pli­zit im Buch­preis­bin­dungs­ge­setz verankert.

Buch­pro­duk­ti­on
Die Ge­samt­zahl der in Deutsch­land er­schie­nen Bü­cher ist 2014 deut­lich ge­sun­ken. Fasst man Erst- und Neu­auf­la­gen zu­sam­men, dann sind 87.134 Ti­tel auf den Markt ge­kom­men – der nied­rigs­te Wert seit zehn Jah­ren. 2013 wa­ren es noch 93.600 Ti­tel. Al­ler­dings: E-Books und Print-on-De­mand-Ti­tel sind nur zu klei­nen Tei­len er­fasst. Der Wachs­tums­markt Self­pu­bli­shing bleibt bei die­ser Be­trach­tung also weit­ge­hend aus­sen vor.

Ti­tel­pro­duk­ti­on nach Sach­grup­pen
Die meis­ten No­vi­tä­ten (= Erst­auf­la­gen) ge­hen 2014 wie­der auf das Kon­to der Bel­le­tris­tik, die 19,1 Pro­zent zur Ge­samt­pro­duk­ti­on bei­gesteu­ert hat, das sind al­les in al­lem 14.111 Ti­tel (2013: 15.610 Ti­tel).
Auf Platz 2 folgt tra­di­tio­nell die Deut­sche Li­te­ra­tur, die ge­son­dert aus­ge­wie­sen wird (auch wenn es Über­schnei­dun­gen ge­ben dürf­te) und, an­ders als die rein bel­le­tris­ti­sche Ka­te­go­rie, un­ter an­de­rem auch li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Ti­tel bün­delt. Sie stellt mit 10.487 Ti­teln ei­nen An­teil von 14,2 Pro­zent.
Die drit­te Po­si­ti­on ge­hört, ana­log zu den Vor­jah­ren, dem Kin­der- und Ju­gend­buch, das jetzt 8.142 Erst­auf­la­gen zur Jah­res­pro­duk­ti­on bei­steu­ert. Das ist ein An­teil von 11,0 Pro­zent. Das Schul­buch liegt mit ei­nem An­teil von 6,0 Pro­zent auf dem vier­ten Platz, das sind al­les in al­lem 4.399 Titel.

(Quel­le: „Buch und Buch­han­del in Zah­len 2015“, Hrsg.: Bör­sen­ver­ein des Deut­schen Buch­han­dels e.V., Frank­furt am Main, Juli 2015)

Was hat das al­les mit li­te­ra­ri­scher Wer­tung zu tun?“, wer­den Sie mich fra­gen. Sehr viel, mei­ne Da­men und Her­ren. Zum We­sen gu­ter Li­te­ra­tur ge­hört es näm­lich, dass der Le­ser spürt, dass es in ei­ner Er­zäh­lung, ei­nem Ro­man, ei­nem Thea­ter­stück nicht um ir­gend­et­was, son­dern letzt­lich um ihn sel­ber geht. Die Dich­ter des ba­ro­cken Je­sui­ten­thea­ters ha­ben da­für die la­tei­ni­sche For­mel „Hic tua res agi­tur“ ver­wen­det, wört­lich über­setzt „Hier wird dei­ne Sa­che ver­han­delt“. Es steht mit der Dich­tung wie mit den Gleich­nis­sen Jesu im Neu­en Tes­ta­ment, wo wir bei der Lek­tü­re auch spü­ren, dass, wenn vom ver­lo­re­nen Sohn, vom Pha­ri­sä­er und vom Zöll­ner, von den tö­rich­ten Jung­frau­en die Rede ist, ei­gent­lich wir ge­meint sind. ‚Schlech­te‘ Dich­tung, ver­ehr­te An­we­sen­de, bleibt in der Dumpf­heit des Pri­va­ten ste­cken, be­rührt mich da­her als Le­ser auch nicht, wirkt nach der Lek­tü­re – und das ist ent­schei­dend – auch nicht wei­ter, ,gute‘ hin­ge­gen über­steigt das Pri­va­te ins All­ge­mein­mensch­li­che, lässt exis­ten­ti­el­le Grund­er­fah­run­gen sicht­bar wer­den, die je­den von uns angehen.

Immer mehr produzierte Bücher für immer weniger Menschen

So­weit, mei­ne Da­men und Her­ren, ein paar Wor­te zur Wer­tung von Li­te­ra­tur. Keh­ren wir da­mit zum ei­gent­li­chen The­ma un­se­res Vor­trags, zum Li­te­ra­tur­be­trieb, zurück.
Die deut­sche Li­te­ra­tur steckt zur­zeit in ei­ner ge­ra­de­zu pa­ra­do­xen Si­tua­ti­on: Ob­wohl seit Jah­ren im­mer we­ni­ger Men­schen Bü­cher kau­fen, wer­den im­mer mehr Bü­cher pro­du­ziert. Wäh­rend Buch­hand­lun­gen schlies­sen, Ver­la­ge vor dem Aus ste­hen und Au­toren über im­mer ge­rin­ge­re Auf­la­gen und schwin­den­des In­ter­es­se kla­gen, wird auf­ge­legt, was auch im­mer zwi­schen zwei Buch­de­ckel geht. Al­lein in Deutsch­land er­schei­nen je­des Jahr rund 80‘000 neue Bü­cher. Über den Ver­sand­han­del sind zu­dem über 500‘000 un­ter­schied­li­che Bü­cher er­hält­lich und in Gross­buch­hand­lun­gen war­ten je­weils über 100‘000 Bü­cher auf ihre Käu­fer. Es gibt kei­ne an­de­re Bran­che, die sich mit der­art vie­len un­ter­schied­li­chen Pro­duk­ten an ihre Kun­den rich­tet. So er­staunt es nicht, dass hun­dert­tau­sen­de von Bü­chern we­ni­ge Wo­chen nach ih­rem Er­schei­nen schon wie­der vom Markt ver­schwun­den sind, denn Bü­cher ha­ben nur eine kur­ze Zeit, sich am Markt zu be­haup­ten. Hard­co­ver, die sich in den ers­ten zwei Mo­na­ten nach ih­rem Er­schei­nen nicht durch­set­zen, wer­den so­fort wie­der aus dem Pro­gramm ent­fernt. Es gibt Bü­cher re­nom­mier­ter Au­toren wie Wal­ter Kem­pow­ski, des­sen „Letz­te Grüs­se“ zwei Mo­na­te nach Er­schei­nen schon wie­der aus den Buch­hand­lun­gen ver­schwan­den, weil sie nicht aus­rei­chend ver­kauft wur­den. Er­folg oder Miss­erfolg ei­nes Bu­ches lässt sich aber meist nicht vor­her­se­hen. Da­her ist es ver­ständ­lich, dass die Ver­la­ge gros­se fi­nan­zi­el­le Ri­si­ken scheu­en, wenn sie neue Bü­cher auf dem Markt eta­blie­ren wollen.

Bücherflut als literarisches Problem

Und noch et­was, ver­ehr­te An­we­sen­de. Die heu­ti­ge Über­pro­duk­ti­on von Bü­chern stellt nicht nur ein öko­no­mi­sches, son­dern auch ein li­te­ra­ri­sches Pro­blem dar. Denn die Bü­cher­flut bringt ja nicht im­mer mehr Meis­ter­wer­ke her­vor; sie för­dert viel­mehr das Mit­tel­mass. Des­sen un­ge­ach­tet schrei­ben un­zäh­li­ge Ro­man­au­to­ren wie am Fliess­band. Ich ken­ne ei­nen Au­tor, der mir vor ei­ni­gen Ta­gen von sei­nem neu­en Ro­man­pro­jekt, an dem er ar­bei­te, be­rich­tet hat – und dies, ob­wohl sein eben fer­tig­ge­stell­ter Ro­man erst im Druck ist. Sol­che Viel­schrei­be­rei­en ha­ben in den letz­ten Jah­ren dazu ge­führt, dass die Erst­auf­la­gen der Bü­cher im­mer klei­ner wur­den und dass es nur noch zu we­ni­gen Neu­auf­la­gen kommt, weil sich die­se für die Ver­la­ge häu­fig nicht rech­nen. Wer heu­te mehr als 5‘000 Ex­em­pla­re sei­nes Bu­ches ver­kauft, gilt schon als sehr er­folg­reich; die meis­ten Au­toren müs­sen sich mit we­ni­ger als 3‘000 ver­kauf­ten Bü­chern zu­frie­den geben.

Konzentration auf wenige Titel, Autoren, Verlage

Der li­te­ra­ri­sche Markt kon­zen­triert sich heu­te im­mer stär­ker auf ei­ni­ge we­ni­ge Ti­tel, Au­toren und Ver­la­ge, wäh­rend die über­wie­gen­de Mehr­heit der Bü­cher, un­ab­hän­gig von ih­rer li­te­ra­ri­schen Qua­li­tät, mehr oder we­ni­ger in der Ver­sen­kung ver­schwin­den. Der Tü­bin­ger Au­tor Joa­chim Zel­ter drück­te das in ei­nem In­ter­view in der „Süd­west Pres­se“ kürz­lich so aus: „Man kann mit ei­nem un­säg­li­chen Ro­man den Durch­bruch schaf­fen oder eine Per­le nach der an­dern schrei­ben und da­mit gar nichts er­rei­chen.“ Mei­ne Da­men und Her­ren, wie recht er hat! Der Li­te­ra­tur­be­trieb ist in den letz­ten Jah­ren im­mer ir­ra­tio­na­ler ge­wor­den. Ob ein Ro­man, ein Ge­dicht­band Er­folg hat, nie­mand weiss das zum Vor­aus. Nicht ein­mal Lek­to­ren, die sich pro­fes­sio­nell mit Li­te­ra­tur be­fas­sen, er­ken­nen im­mer, wann sie ein Ma­nu­skript für ei­nen Buch­erfolg auf dem Tisch ha­ben. Die Ge­schich­te von Jo­an­ne K. Row­ling, die mit dem ers­ten „Har­ry Potter“-Manuskript bei meh­re­ren Ver­la­gen ab­blitz­te und der man schliess­lich riet, doch ei­nen „nor­ma­len“ Job zu su­chen, ist nur ei­nes von un­zäh­li­gen Beispielen.

Band 200x5
„Die heu­ti­gen Au­torin­nen und Au­toren las­sen sich die The­men für ihre Wer­ke im­mer häu­fi­ger von den ak­tu­el­len jour­na­lis­ti­schen Trends vor­ge­ben. So stel­len wir heu­te eine si­gni­fi­kan­te Häu­fung von The­men wie Part­ner­stress, Mi­gra­ti­on und vor al­lem Fa­mi­lie und Kind­heit fest. Fa­mi­li­en­ro­ma­ne und Kind­heits­ge­schich­ten, die letz­te­ren häu­fig als Fall­stu­di­en am Ran­de des Er­wach­sen­wer­dens, be­fin­den sich seit etwa 2000 denn auch im deut­li­chen Auf­wind. Man muss kein Pro­phet sein, um vor­her­zu­sa­gen, dass das be­vor­zug­te li­te­ra­ri­sche The­ma der kom­men­den Jahr­gän­ge der Kli­ma­wan­del sein wird. Dass die­se zu­neh­men­de Stan­dar­di­sie­rung der The­men zu ei­ner ge­wis­sen Uni­for­mie­rung der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur ge­führt hat, lässt sich kaum mehr übersehen.“

Was sich den­noch ei­ni­ger­mas­sen sa­gen lässt, ist das Fol­gen­de: Die heu­ti­gen Au­torin­nen und Au­toren las­sen sich die The­men für ihre Wer­ke im­mer häu­fi­ger von den ak­tu­el­len jour­na­lis­ti­schen Trends vor­ge­ben. So stel­len wir heu­te eine si­gni­fi­kan­te Häu­fung von The­men wie Part­ner­stress, Mi­gra­ti­on und vor al­lem Fa­mi­lie und Kind­heit fest. Fa­mi­li­en­ro­ma­ne und Kind­heits­ge­schich­ten, die letz­te­ren häu­fig als Fall­stu­di­en am Ran­de des Er­wach­sen­wer­dens, be­fin­den sich seit etwa 2000 denn auch im deut­li­chen Auf­wind. Man muss kein Pro­phet sein, um vor­her­zu­sa­gen, dass das be­vor­zug­te li­te­ra­ri­sche The­ma der kom­men­den Jahr­gän­ge der Kli­ma­wan­del sein wird. Dass die­se zu­neh­men­de Stan­dar­di­sie­rung der The­men zu ei­ner ge­wis­sen Uni­for­mie­rung der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur ge­führt hat, lässt sich kaum mehr über­se­hen. Be­son­ders gut zu be­ob­ach­ten ist dies in Tex­ten von Ab­sol­ven­ten der Schreib­schu­len oder von Work­shops, die ihre The­men meist so wäh­len, dass sie mög­lichst me­di­en­kon­form sind.

Der gegängelte Autor

Aber nicht nur die­se In­sti­tu­tio­nen trei­ben die Uni­for­mie­rung der Li­te­ra­tur vor­an, die Ver­la­ge sel­ber tun es auch. Denn im­mer häu­fi­ger sa­gen sie dem Au­tor, was er schrei­ben soll, wie lan­ge ein Text sein darf, für wel­che Ziel­grup­pe er zu­recht­ge­schus­tert wer­den muss und wann der Ab­ga­be­ter­min ist. Der Ti­tel, das Co­ver und der Klap­pen­text wer­den häu­fig fest­ge­legt, be­vor das neue Buch auch nur ei­nen Satz lang ist, also zu ei­nem Zeit­punkt, zu dem es nur aus ei­ner Idee be­steht, die der Au­tor in ei­nem kur­zen Ex­po­sé for­mu­liert hat. Die­se ver­le­ge­ri­schen Vor­ga­ben, die den Au­tor – nen­nen wir es ru­hig beim Na­men – zum Schreib­skla­ven ma­chen, blei­ben nicht ohne Fol­gen: Die Li­te­ra­tur ge­rät zu­neh­mend in Ge­fahr, im­mer öder und aus­tausch­ba­rer zu werden.

Lie­be Zu­hö­re­rin­nen und Zu­hö­rer, ich möch­te mei­nen Vor­trag nicht in Pes­si­mis­mus aus­klin­gen las­sen, son­dern zum Schluss doch er­wäh­nen, dass es bei al­ler Kom­mer­zia­li­sie­rung der Buch­bran­che hier in Ös­ter­reich, in Deutsch­land, in der Schweiz noch im­mer Men­schen gibt, für die das Buch kei­ne Ware ist und der Um­gang mit ihm kein blos­ses Ge­schäft, son­dern nach wie vor eine Ob­ses­si­on, der man nach­geht – buch­stäb­lich um je­den Preis und ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te. Und wo sol­che Men­schen sind, be­kommt auch die Li­te­ra­tur, be­kommt auch das Wort wie­der eine Chance. ♦

1) Der Text geht auf ein Re­fe­rat zu­rück, das der Ver­fas­ser am 25. Sep­tem­ber 2015 in der Stei­ri­schen Lan­des­bi­blio­thek Graz an­läss­lich der Jah­res­ver­samm­lung der IGdA (In­ter­es­sen­ge­mein­schaft deut­scher Au­toren) hielt. Wir dan­ken Au­tor Ma­rio An­dreot­ti für die ex­klu­si­ve Pu­bli­ka­ti­ons­be­rech­ti­gung im „Glarean Magazin“.


Mario AndreottiProf. Dr. Ma­rio Andreotti

Geb. 1947, Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik und Ge­schich­te in Zü­rich, 1975 Pro­mo­ti­on über Je­re­mi­as Gott­helf, 1977 Di­plom des hö­he­ren Lehr­am­tes, da­nach Lehr­tä­tig­keit am Gym­na­si­um und als Lehr­be­auf­trag­ter für Sprach- und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät St. Gal­len und an der Päd­ago­gi­schen Hoch­schu­le Vor­arl­berg, lang­jäh­ri­ger Re­fe­rent in der Fort­bil­dung für die Mit­tel­schul-Lehr­kräf­te und Lei­ter von Schrift­stel­ler­se­mi­na­ri­en, seit 1996 Do­zent für Li­te­ra­tur und Li­te­ra­tur­theo­rie an der Zür­cher Fach­hoch­schu­le für An­ge­wand­te Lin­gu­is­tik; Ver­fas­ser meh­re­rer Pu­bli­ka­tio­nen und zahl­rei­cher Bei­trä­ge zur mo­der­nen Dich­tung, dar­un­ter das Stan­dard­werk: Die Struk­tur der mo­der­nen Li­te­ra­tur; Ma­rio An­dreot­ti lebt in Eggersriet/CH

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Aus­ser­dem zum The­ma Li­te­ra­tur und Ge­schich­te Neue Rund­schau (Heft 2018/3) – Jen­seits der Erzählung

2 Kommentare

  1. Ei­gent­lich mein­te ich, mit dem The­ma ab­ge­schlos­sen zu ha­ben, nach­dem ich vor zwei Jah­ren „mei­nen“ Ver­lag auf­gab. Muss lei­der le­sen, dass ich recht ge­tan habe. Was heißt „lei­der“ – es gibt kei­nen Grund zum Be­dau­ern – wer Ver­le­ger sein möch­te, muss Geld mitbringen.

  2. eine her­vor­ra­gen­de be­stan­des­auf­na­me, herr dr. an­dreot­ti. gra­tu­la­ti­on zu die­sem in­for­ma­ti­ven bei­trag!!! wenn­gleich: doch et­was gar kri­tisch, mei­nes E.: ge­ra­de die jüngs­te au­toren-ge­ne­ra­ti­on mit ih­rem un­ver­krampf­ten ver­hält­nis z.b. zum book on de­mand prin­zip be­weist viel anti-main­stream und the­ma­ti­sche un­ab­hän­gig­keit!! scha­de auch dass z.b. der nach wie vor boo­men­de zweig e-book et­was zu kurz kam im artikel.
    trotz­dem: sel­ten eine so kla­re und stich­hal­ti­ge zu­sam­men­fas­sung der ma­ro­den buch­wirt­schaft gelesen.
    dan­ke: san­dra schä­fer berlin

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