Lothar Becker: Hitler in der U-Bahn (Satire)

Hitler in der U-Bahn

Lo­thar Becker

El­mar hat­te sie schon die gan­ze Zeit über be­ob­ach­tet, und jetzt ka­men sie auf ihn zu: Es wa­ren zwei, und sie wa­ren kahl­ge­scho­ren und tru­gen Le­der­ja­cken und schwe­re Stie­fel. Das Blech des U-Bahn-Wag­gons dröhn­te un­ter ih­ren Schrit­ten. El­mar lief es eis­kalt über den Rü­cken. Er war Ende dreis­sig, ziem­lich klein, litt un­ter Ver­stop­fung und kam nicht bei Frau­en an. Sei­ne Phy­sio­gno­mie hin­ter­liess ei­nen mehr oder we­ni­ger dümm­li­chen Ein­druck, und weil er das wuss­te, mach­te er sich kei­ne Il­lu­sio­nen, dass er etwa aus­se­hen könn­te wie je­mand, den die­se Ty­pen nicht zu­sam­men­schla­gen wür­den. El­mar war auf al­les gefasst.
Er sah, wie sich die bei­den vor ihm auf­bau­ten, und wie die Leu­te auf den be­nach­bar­ten Plät­zen in­ten­siv aus dem Ab­teil­fens­ter zu bli­cken be­gan­nen. Dann schloss er die Augen.
Als er sie kurz dar­auf wie­der öff­ne­te, be­fan­den sich die bei­den Kahl­köp­fe vor ihm in ei­nem ir­ri­tie­ren­den Zu­stand. Mit halb­ge­öff­ne­ten Mün­dern und Glat­zen, die in der Ne­on­be­leuch­tung ro­sig glänz­ten, starr­ten sie ihn völ­lig fas­sungs­los an. Ei­ner von ih­nen kratz­te sich ver­le­gen am Hin­tern. Dann brüll­ten sie fast gleich­zei­tig los: „Kal­le! He, Kal­le! Mach mal hin, eh!“ Kal­le stürz­te mit meh­re­ren Be­glei­tern durch die Ab­teil­tür. Sie alle wa­ren Skins. Und Kal­le gab mit den Zent­nern, die er auf die Waa­ge brach­te, ei­nen erst­klas­si­gen Boss ab.
„Wat is los? N‘ Kaf­fer klat­schen oder wat?“
„Blöd­sinn. Da! Guck dir den mal an, eh!“
Kal­le schob sein Ge­sicht bis auf ein paar Zen­ti­me­ter an das von El­mar ran. „lck faul ab, eh! Det is Adolf!“
El­mar rutsch­te in sich zu­sam­men. Was für ne Scheis­se, dach­te er, was ist das nur für eine Scheis­se! Er hat­te nicht den ge­rings­ten Schim­mer, was die von ihm wollten.
Kal­le hol­te ein Pho­to aus der In­nen­ta­sche sei­ner Le­der­ja­cke. „Hier, kieck mal!“
El­mar be­griff die Welt nicht mehr. Der Mann auf dem Bild war er. Nur dass der da ein schma­les Bärt­chen auf der Ober­lip­pe trug. Aber sonst…
Kal­le hat­te jetzt Hal­tung an­ge­nom­men und strahl­te: „Det is der Führer!“
El­mar ver­stand noch im­mer nichts. Ei­ner der an­de­ren Skins be­rühr­te ihn bei­na­he sanft an der Schul­ter. „Kee­ne Angst, Hit­ler. Wir tun dir nichts.“ Kal­le steck­te das Pho­to wie­der ein. „Kee­ner tut dir wat, Hit­ler. Wir mö­gen dir.“ El­mar ver­such­te zu lä­cheln. Es miss­lang ihm.
Sämt­li­che Fahr­gäs­te hat­ten das Ab­teil in­zwi­schen ver­las­sen. Jetzt gab es hier nur noch ihn und ein gu­tes Dut­zend über­ge­schnapp­ter Skins, die ihn be­staun­ten. Was im­mer sich hier ab­spiel­te, so­viel stand fest: le­bend wür­de er hier nicht mehr raus­kom­men. Wenn er auch nur dar­an dach­te, dreh­te sich ihm der Ma­gen um. Die Skins schie­nen da­von nichts zu bemerken.
Kal­le hol­te eine Pa­ckung Zi­ga­ret­ten her­vor. „He, Hit­ler, sach mal, rauchst du ei­gent­lich?“ El­mar schüt­tel­te den Kopf und Kal­le dreh­te sich zu den an­de­ren um. „Eh, ihr Scheis­ser, wie war det – hat Hit­ler ei­gent­lich geraucht?“
„Nee, det stimmt schon so. Hit­ler hat nich geraucht.“
Kal­le strahl­te schon wieder.
„Sach ick doch. Det is wie echt, eh!“ Er steck­te sich sel­ber eine an und blick­te tri­um­phie­rend in die Run­de. Es war ein gros­ser Tag für je­den von ihnen.
Nur ein paar wa­ren nicht ganz so be­ein­druckt. „Wenn det Hit­ler is, Kal­le, wie­so trägt er denn Turnschuhe?“
Kal­le zog die Stirn in Fal­ten und be­gann, El­mars Füs­se an­zu­star­ren. „Hör mal, Hit­ler, ee­nes musst du uns ver­spre­chen: zieh bloss kee­ne Turn­schu­he mehr an, wa? Und denn las­se dir so nen klee­nen Bart stehen,eh!“
El­mar nick­te. Der Alp­traum nahm kein Ende. Wie­so bloss mach­ten die ihn nicht fer­tig? Die U-Bahn ras­te durch die Stadt. Sie war zur Fal­le ge­wor­den für ihn. Zur Mau­se­fal­le für Hitler.
Die Skins konn­ten of­fen­sicht­lich nicht ge­nug von ihm krie­gen. An ir­gend­ei­ner Sta­ti­on be­ka­men sie schliess­lich Durst und stie­gen aus. Kal­le war schon an der Tür, als er sich noch ein­mal um­dreh­te: „Wir kom­men jetzt je­den Tag, wa! Und wenn du mor­gen kee­ne Stie­fel trägst, ver­jes­se ick mir, Hitler!“
El­mar ar­bei­te­te am an­de­ren Ende der Stadt. Er hat­te kei­ne Wahl, was das U-Bahn-Fah­ren an­be­lang­te. Vol­ler Pa­nik liess er sich ein recht­ecki­ges­Bärt­chen auf der Ober­lip­pe ste­hen und be­gann, in Mi­li­tär­stie­feln herumzulaufen.
Die Skins pa­trouil­lier­ten je­den Tag in der U-Bahn, und El­mar kam noch im­mer ver­dammt gut bei ih­nen an. Ei­nes Ta­ges pass­ten sie ihn schon am Fa­brik­tor ab. Kal­le nahm ihn am Arm.
„He, Hit­ler! Komm her, Hit­ler! Wir ha­ben wat für dich!“
Sie lie­fen eine gan­ze Wei­le. Dann wa­ren sie da. E s war ei­nes die­ser Abbruchhäuser,und das gan­ze Haus war vol­ler Skins. Es wa­ren be­ängs­ti­gend vie­le. Kal­le schob El­mar an ih­nen vor­bei in ei­nes der Zim­mer im Erd­ge­schoss. Bis auf ein Mäd­chen war nie­mand dar­in. „Pass auf“, sag­te Kal­le, „det is Eva. Eva Braun.“ Dann ging er raus und schloss die Tür hinter
sich.
El­mar fand, dass die­ses Mäd­chen ei­ni­ge Num­mern zu gross war für ihn, und er ver­stand nicht, wes­we­gen sie ihn auf die­se ein­deu­ti­ge Art und Wei­se an­lä­chel­te. Eva be­gann, sich an ih­rem Strumpf­hal­ter zu schaf­fen zu machen.
„Na, mein Klee­ner, wie hät­ten wirs denn jern?“
„So wie der Füh­rer neh­me ich an…“
„Det hät­te mir och je­wun­dert!“ Eva fuhr sich mit der Zun­ge über die Lip­pen. „Na, denn zieh dir mal aus, wa?“
El­mar stieg aus sei­nen Stie­feln, aus dem Rest sei­ner Klei­dung. Dann stell­te er sich auf das Bett und riss den rech­ten Arm in die Höhe. Eva hat­te ei­ni­ge Mühe, ihre Sa­che gut zu machen.
Als El­mar das Zim­mer wie­der ver­liess, wa­ren die Skins in Be­we­gung ge­kom­men. Ei­ner von ih­nen stiess El­mar raus auf die Stras­se: „Freu dir, Hit­ler, heu­te jibts Krieg!“
Ei­ni­ge Blocks wei­ter be­weg­ten sich zwi­schen fünf­zig und hun­dert auf­ge­brach­te Lin­ke auf sie zu. Kei­ne Fra­ge, wes­we­gen sie hier wa­ren. Die Skins lau­er­ten hin­ter der Tür und sof­fen sich Mut an. Dann ka­men sie raus. El­mar be­fand sich plötz­lich in­mit­ten ei­ner Un­men­ge ro­tie­ren­der Fäus­te und Stie­fel. Er stell­te fest, dass er vor Angst schlot­ter­te. Ganz egal, in was er auch rein­ge­zo­gen wur­de, er zog im­mer den Kür­ze­ren. Im Grun­de war es das­sel­be wie da­mals in der U-Bahn, nur dass er dies­mal eine re­el­le Chan­ce be­sass, sich zu verdrücken.
El­mar ver­such­te, un­be­merkt in die nächst­bes­te Sei­ten­Stras­se abzudriften.
Plötz­lich stand Kal­le vor ihm: „He, Hit­ler! Wo willst du hin, du fei­ge Sau?“ Er war mör­de­risch in Fahrt.
El­mar be­griff, dass es nicht nö­tig war, zu ant­wor­ten. Dann spür­te er den ers­ten Schlag. El­mar schrie los. Und Kal­le schlug, schlug, schlug.
El­mar wur­de übel, als er das Blut im Mund­win­kel schmeck­te. Aber den­noch: zum ers­ten Mal seit Wo­chen be­gann er die Welt wie­der zu verstehen. ♦


Lothar Becker - Schriftsteller Publizist - Glarean MagazinLo­thar Becker

Geb. 1959 in Lim­bach-Ober­frohna/D, zahl­rei­che Ly­rik- und Pro­sa-Pu­bli­ka­tio­nen in Bü­chern und Zeit­schrif­ten, Ver­öf­fent­li­chun­gen von Mu­si­cal- und Thea­ter-Stü­cken, lebt als Ju­gend-So­zi­al­päd­ago­ge in Lembach/D

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Dio­ge­nes Ver­lag: Tin­ten­fass Nr. 31 (An­tho­lo­gie)
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