Interview mit dem Schriftsteller Dominik Riedo

Kairos – der richtige Zeitpunkt

oder

Kinski, Riedo, Schostakowitsch und … Kaffee

von Karin Afshar

Ein Inter­view ist ein Gespräch, bei dem der eine Gesprächs­teil­neh­mer den ande­ren zu einem zuvor fest­ge­leg­ten Thema befragt. Ziel eines Inter­views ist die Erlan­gung von Infor­ma­tion, ent­we­der per­sön­li­cher oder sach­li­cher Art. Der Leser, der das Inter­view lesen wird, weiss bes­ten­falls hin­ter­her mehr über den Befrag­ten als er vor­her wusste.

Dominik Riedo (* 28. Februar 1974 in Luzern/CH)
Domi­nik Riedo (* 28. Februar 1974 in Luzern/CH)

Ein Inter­view gelingt dann beson­ders gut, wenn sich der Befra­gende hin­rei­chend über sei­nen Part­ner vor­in­for­miert, sich aus­drucks­starke Fra­gen über­legt und sie in einen mehr oder weni­ger geord­ne­ten Zusam­men­hang bringt.
Der Befragte sei­ner­seits muss wäh­rend des Inter­views eigent­lich nichts wei­ter tun, als auf die Fra­gen so zu ant­wor­ten, dass sowohl er als auch der Befra­gende mit den Ant­wor­ten jeweils ihre Bot­schaft auf den Weg bringen.

Es gibt etli­che Fälle miss­lun­ge­ner Inter­views. Die meis­ten bekom­men Leser oder Zuschauer oder Hörer nie zu sehen, aber hin und wie­der macht eines in den Medien die Runde.
Ein ech­tes Skan­dal-Inter­view war eines mit Klaus Kin­ski, geführt mit einer jun­gen Repor­te­rin, in einem Park (viel­leicht Ham­burg), im Bei­sein sei­ner Frau und eini­gen Fern­seh­leu­ten. Es ging um Kin­skis damals gerade her­aus­ge­kom­me­nes Stück “Jesus Christus”.
Nun war Kin­ski als “unmög­lich”, als enfant ter­ri­ble bekannt, und was Inter­views anging als stör­risch ver­schrien. Ein Inter­view mit ihm also eine heikle Sache, die guter Vor­be­rei­tung bedurfte. Die junge Repor­te­rin tappte gleich zu Beginn in ein ers­tes Fett­näpf­chen, indem sie ihre Frage um das bedeu­tungs­schwere Wort “aus­ge­fal­len” erwei­terte. Das zweite Näpf­chen stellte sich ihr in den Weg, als sie Kin­ski als “nega­ti­ven Hel­den” bezeich­nete, der sich nun­mehr (über­ra­schen­der­weise, aus­ge­rech­net) des Neuen Tes­ta­ments ange­nom­men hätte… Kin­ski eska­lierte sofort und liess sich auch nicht mehr beru­hi­gen. Der Rest des Inter­views ist Geschichte.

Karin Afshar (* 1958 in der Eifel/D)
Karin Afs­har (* 1958 in der Eifel/D)

Mein Gesprächs­part­ner ist nicht Klaus Kin­ski (der ist auch inzwi­schen etli­che Jahre tot), son­dern ein leben­der, kürz­lich Geburts­tag fei­ern­der Schwei­zer Schrift­stel­ler: Domi­nik Riedo. Als Nicht-Schwei­ze­rin und als Nur-noch-Spo­ra­disch-Lesende kenne ich Herrn Riedo nicht. Eine Lücke, die ich schliesse, indem ich im Netz recher­chiere. Domi­nik Riedo stu­dierte Ger­ma­nis­tik, Phi­lo­so­phie und Geschichte in Zürich, Ber­lin und Luzern, von 2004 bis 2006 war er Lehr­be­auf­trag­ter an der Uni­ver­si­tät Zürich, seit 1993 ist er Schrift­stel­ler, Mit­her­aus­ge­ber von “Auf­klä­rung und Kri­tik” (Zeit­schrift für freies Den­ken und huma­nis­ti­sche Phi­lo­so­phie), war 2010-2012 der Prä­si­dent des Deutsch­schwei­zer PEN-Zen­trums und von 2007-2009 der Kul­tur­mi­nis­ter der Schweiz. Er publi­ziert Bücher in ver­schie­de­nen Ver­la­gen, betreibt eine Web­seite und schreibt einen Blog, in dem er Apho­ris­men und Aus­züge aus sei­nen Arbei­ten ein­stellt. Ich lasse mir drei sei­ner neu­es­ten Bücher (2014 erschie­nen) kommen.

Geplant ist ein E-Mail-Inter­view; diese Form von Inter­views gewinnt immer mehr an Beliebt­heit, folgt aber eben eige­nen jour­na­lis­ti­schen Regeln, die man auch ken­nen sollte. Der grösste Unter­schied zu nor­ma­len Inter­views ist der, dass die bei­den Gesprächs­part­ner nicht die Mög­lich­keit haben, eine gestellte Frage zu erwei­tern oder zu erör­tern, son­dern die Befra­gung und Beant­wor­tung sta­ti­scher sind und dem­zu­folge struk­tu­riert vor­be­rei­tet sein wol­len. Zehn Fra­gen, so steht in den Leit­li­nien, die ich als­bald finde, soll­ten es in der Regel sein.

Ich schreibe Herrn Riedo eine erste Mail, um mich vor­zu­stel­len und um anzu­kün­di­gen, dass dem­nächst meine Fra­gen kom­men. Ich muss mich erst “warm laufen”.

Frage: Was lesen Sie zur­zeit? (Und ist es eher ein dickes oder dün­nes Buch?)

Riedo: Proust und Love­craft und Barnes.

Anlass zur Frage ist ein Zitat: “Lite­ra­tur ist auf der einen Seite wie ein dickes Buch, auf der ande­ren wie ein dün­nes. Im dicken, das im unmög­li­chen Ide­al­fall ein Welt­wäl­zer wäre, kann man sein gan­zes Leben fort­le­sen, ohne aus dem Traum in die Rea­li­tät nie­der­stei­gen zu müs­sen. Beim dün­nen, das bis zu einem Wort, zu einem Zei­chen nur­mehr, zusam­men­schmel­zen soll, wird durch das Gele­sene eine plötz­li­che Ein­sicht in die Wirk­lich­keit bewirkt.”
Riedo: Man kann nicht sämt­li­che Lite­ra­tur in einem Men­schen­le­ben lesen. Darum ist es vor allem wich­tig, von ele­men­ta­ren Wer­ken zumin­dest den Nukleus – also das, was ein bestimm­tes Werk im Inners­ten zusam­men­hält, was es aus­macht und deter­mi­niert – zu ver­ste­hen; man sollte (selbst als unkrea­ti­ves Wesen) zumin­dest begrei­fen, warum ein Autor ein sol­ches Buch über­haupt schrei­ben wollte und konnte.

In einer spä­te­ren Mail, nach­ge­fragt, wie es Proust jetzt “ginge”:
Riedo: Proust steckt fest. Der dritte Band ist zu zäh. Mal sehen, ob ich ihn durch­gehe oder über­winde. Im Moment eini­ges andere auf dem Nachttisch.

Dominik Riedo - Uns trägt das Angesungene - Edition Taberna Kritika - Glarean Magazin
Domi­nik Riedo: “Uns trägt das Ange­sun­gene” – edi­tion taberna kritika

Ich lese der­weil in “Uns trägt das Ange­sun­gene”. Es ist ein rosa-/ma­gen­ta­far­be­nes A6-for­ma­ti­ges Taschen­buch mit Text­schnip­seln, mit Ange­dach­tem, far­big im Text belas­se­nen Kor­rek­tur­an­mer­kun­gen und geschwärz­tem Text. Sieht inter­es­sant aus. Der Klap­pen­text hebt an mit der Frage, ob Skizze auch Werk sein kann, so unfer­tig wie sie ist. Das Buch werde zur dop­pel­ten Alle­go­rie, in dem es die (Un)Fertigkeit einer offen­ge­blie­be­nen Kor­rek­tur scham­los aus­stelle. Ich stol­pere über das erste von zwei Attri­bu­ten, die man Rie­dos Arbeit zuweist.

Frage: Was mei­nen die Rezen­sen­ten und auch der Ver­lag mit der “scham­lo­sen Aus­stel­lung” des (Un)fertigen? Soll­ten “wir” – die Leser – uns für etwas schä­men – und vor wel­chem Hin­ter­grund sol­len wir uns schä­men? Las­sen Sie alle Scham fal­len, weil Sie nicht schrei­ben, wie es sich “gehört”?

Riedo: Wieso, wie “gehörte” es sich? Oder halt dies: Ich soll mich doch wirk­lich nicht schä­men, das Unfer­tige zu zei­gen: Denn wann ist etwas schon nicht “unfer­tig‘? Das mit den Lese­rin­nen und Lesern ist eine ver­zwickte Sache: Eigent­lich wäre nicht (fast) alles, was man als Wort-Mensch so schreibt, für deren Augen. Aber irgend­wie muss man halt leben.

Ein zwei­tes Attri­but ist “ver­stö­rend”… Bin erstaunt, bin kaum ver­wirrt, wegen der Kor­rek­tu­ren nicht (kannte ich schon aus ande­ren Büchern), auf­grund der Inhalte nicht, muss schmun­zeln (viele Ideen! Wenn er das alles zu Erzäh­lun­gen machte!), bin wie­der­mal bestä­tigt: die Welt ist ver­rückt, so wie sie ist. Und nicht dazu ange­tan, wirk­lich hei­misch in ihr zu sein.

Frage: Ist das mehr oder weni­ger auch das, was Sie trägt? – Was Sie hier “ansin­gen”? – Eine Welt in Auflösung?

Riedo: Die Welt ist ver-rückt: Wenn es nur in den Büchern wäre, fände ich das äus­serst anstre­bens­wert. Aber die Rea­li­tät … Es ist nicht zu sagen, was heute alles “geht”. Eine Lösung wird kom­men: Hof­fen wir, es ist nicht eine end­gül­tige. Auf dass man immer wie­der dage­gen ansin­gen darf. Und doch alle etwas Unge­sun­ge­nes im Kopf­herz tra­gen können.

Das mit dem Ansin­gen kenne ich. Dass es in Rie­dos Ange­sun­ge­nem viele Tote, Morde, Rache­ge­dan­ken gibt… eben, so ist die Welt. Ver-Rückt. In mei­nem All­tag fal­len mir just in die­ser Zeit die kur­zen, zusam­men­ge­dampf­ten Sym­pho­nien von Darius Mil­haud zu. Der schrieb der­glei­chen Anfang des 20. Jahr­hun­derts, ver­kürzte mal eben eine (klas­si­sche Form) 90-minü­tige Sym­pho­nie in vier Sät­zen auf acht Minu­ten. Ankün­di­gung unse­rer heu­ti­gen Zeit-Not? Ein Kür­zest-Werk, aber eben auch ein Werk.

Frage: “… Wie in einer musi­ka­li­schen Struk­tur …” – haben Sie ein bestimm­tes Stück vor Ohren gehabt?

Riedo: Einige; aber vor allem meins: do re mi do ni ki … Aber es sei gegen­ge­fragt: Wenn ein frem­der Text in mir plötz­lich Sai­ten zum Klin­gen bringt: Sind das von Geburt her ein­ge­zo­gene oder doch eher lite­ra­risch vor­ge­bil­dete? Die Frage besteht: Gibt es Liebe zu einem Text ohne Vor­kennt­nisse (mal abge­se­hen davon, dass man das Alpha­bet erlernt hat und gewis­ses Welt­wis­sen) und/oder “Drauf-hin­auf-geho­ben-Wer­den”?

Frage: Wel­che Musik hören Sie und was ist mit der Har­mo­nie­lehre oder Tonkunst?

Riedo: Wie der Pati­ent sagen würde: Ich bin ein Lieb­ha­ber der Ton­kunst: Viele tan­zen nach mei­ner Pfeife.

Kein Nach­ha­ken mei­ner­seits, aber zur Gegen­frage fällt mir vie­les ein. Das Thema “Musik”, über das ich gerne wei­ter gefragt hätte, bei dem ich dann auf Hin­de­mith und von ihm wei­ter auf “das Werk” bzw. den Werks­be­griff gekom­men wäre, bleibt unvoll­endet. Ich suche noch ein wenig in der “Unter­wei­sung im Ton­satz” – im Vor­wort schreibt Hin­de­mith Lehr­rei­ches zum Werks­be­griff bzw. über den Umgang der Jün­ge­ren mit der Anwen­dung des ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Musik­werk­zeugs… Es hätte zu Rie­dos Inter­view mit Phil­ippe Bischof gepasst:

Facebook - Zwirbler-Roman - Glarean Magazin
Die Face­book-Com­mu­nity als Schrift­stel­ler-Kol­lek­tiv: der Zwirbler-Roman

Anläss­lich einer Tagung des Kulturministerium.ch hatte Riedo als Kul­tur­mi­nis­ter der Schweiz mit Phil­ippe Bischof, dem Lei­ter des Luzer­ner Kul­tur­hau­ses Süd­pol ein Gespräch geführt. Riedo hatte gefragt, ob die Schrift­stel­ler even­tu­ell zu eli­tär gewor­den seien und ob Thea­ter immer mit Schrift­stel­lern zu tun haben bzw. immer von Schrift­stel­lern geschrie­ben sein müsse.
Bischof bestä­tigte, dass dies im Moment (immer­hin schon 5 Jahre her), tat­säch­lich immer weni­ger der Fall sei. Es gebe eine starke Ten­denz dahin, dass der Autor nicht mehr der Schrift­stel­ler allein sei, son­dern die Schau­spie­ler, der Regis­seur, der Dra­ma­turg zusam­men etwas wie einen Kol­lek­tiv­au­tor bil­de­ten, der auch die Leute draus­sen, das Publi­kum und seine Befind­lich­keit und per­sön­li­chen Bedürf­nisse ein­be­ziehe und als doku­men­ta­ri­sches Thea­ter diese authen­tisch aufnehme.

Von der Bühne und den Dra­ma­ti­kern, von der Musik hätte ich zu den Schrift­stel­lern und den Büchern über­ge­lei­tet… Dank (preis­güns­ti­ger) E-Book-Publi­ka­ti­ons­mög­lich­keit gibt es immer mehr Autoren und auch immer mehr ziel­grup­pen­ori­en­tier­tes Schrei­ben. Da wird der Leser mit­ein­be­zo­gen, der Autor schreibt, was sein Leser sich von der Geschichte wünscht, ja, sogar meh­rere Autoren schrei­ben kol­lek­tiv an einer Geschichte (z.B. der Zwirb­ler-Roman, der erste Facebook-Roman).

Frage: Sind diese eigent­lich noch Schrift­stel­ler zu nen­nen? Was ist ein Schrift­stel­ler heute noch?

Riedo: Man könnte es über die Gewerk­schaft defi­nie­ren: Beim AdS (“Autorin­nen und Autoren der Schweiz”) wird nur auf­ge­nom­men, wer bestimmte Mini­mal­kri­te­rien erfüllt. Ande­rer­seits ist “Schrift­stel­ler” keine geschützte Bezeich­nung, war es noch nie. Und das ist viel­leicht auch gut so. Stich­wort: “Offen für alles Kom­mende” … Der Unter­gang kommt früh genug …

Frage: Ist Schrei­ben ein Aus­druck sei­ner selbst, oder ist Schrei­ben als Erfül­lung der Bedürf­nisse ande­rer, beson­ders der Leser zu denken?

Riedo: Das geht durch­aus Hand in Hand.

Dominik Riedo - Die Schere im Kopf - Offizin Verlag - Glarean Magazin
Domi­nik Riedo: “Die Schere im Kopf” – Offi­zin Verlag

Die Schere im Kopf”. Das Buch lässt mich nicht an sich heran, ver­är­gert mich im Anle­sen – und lässt mich “im Fens­ter der Nacht des Hier­seins” – zurück, mit die­sem “Her­un­ter­zäh­len” an Wör­tern und Satz­fet­zen, bis hin zum letz­ten unver­ständ­li­chen Wort. Ich bin alles andere als sicher, ob ich über­haupt ver­stehe, worum es geht. An man­chen Stel­len kann ich sogar vor Wut nicht weiterlesen.

Riedo: Auch ich war oft wütend ange­sichts des Tex­tes. Aber er musste geschrie­ben wer­den. Und wäre es nur meinetwegen.

Frage: Pro­vo­ka­tion? Fishing for Widerspruch?

Riedo: Ne, nicht mehr … Das habe ich mit dem Kul­tur­mi­nis­te­rium hin­ter mir gelassen.

Fünf mal 24 Stun­den hat der Erzäh­ler in die­sem Buch noch zu leben. Er liegt mit Krebs im End­sta­dium in einem Spi­tal­bett und weiss, dass die Schmer­zen trotz ver­ab­reich­ter Medi­ka­mente nicht mehr enden wer­den. Den­noch fürch­tet er sich weni­ger vor dem elen­den Ende, ver­spürt kaum Angst vor dem nahen­den Tod, den er in sei­nem Über­druss will­kom­men heisst.
In auf­ein­an­der­fol­gen­den Bewusst­seins­schü­ben beschreibt er nun sein abge­leb­tes Leben, zer­reisst es rück­bli­ckend. Der Leser erfährt, dass der Erzäh­ler frü­her ein­mal geglaubt hatte, das grosse Werk schrei­ben zu kön­nen, dass er zwar zwei Instru­mente spielte, aber nicht ganz so musi­ka­lisch wie Mozart war. Er war Leh­rer, ein­mal sogar Dozent an der Uni, arbei­tete im Gefäng­nis (wo er fest­stellte, dass auch Ver­bre­cher sich selbst beschwin­deln) und hatte wei­tere Gele­gen­heits­jobs. Der Leser erfährt von den Frauen. 129 sol­len es gewe­sen sein. Bei der Abrech­nung über­legt der Ster­bende, ob es ihm ein Trost wäre, wenn alle Men­schen gleich­zei­tig mit ihm stür­ben. Frag­men­ta­risch denkt er auch – an die Schweiz, an ihre unver­än­der­bare Bür­ger­lich­keit und fasst zusam­men, dass ihn auch das Rei­sen anwi­derte, nach­dem er alles bereist hatte.
Wie gesagt: das Buch wider­setzt sich mir. Viel­leicht wegen des Frag­men­ta­ri­schen, des “gestreamt” Vexier­haf­ten – Vexier­haf­tes irri­tiert mich. Schost­a­ko­vitsch und seine 15. Sym­pho­nie fal­len mir ein. Sie beginnt mit dem Zitat aus Ros­si­nis “Wil­helm Tell”-Ouvertüre. Das leichte, lockere Leben endet als­bald in Frag­men­ten und setzt sich mit dem Ster­ben aus­ein­an­der. Es ist die letzte Sym­pho­nie des Rus­sen, er ist schwer­krank und er kom­po­niert unter sta­li­nis­ti­schen Bedin­gun­gen, wan­dert dabei auf einem schma­len Grat zwi­schen ideo­lo­gi­scher Ver­ein­nah­mung und künst­le­ri­scher Selbst­ver­wirk­li­chung, zwi­schen Leben und Tod.  Ja, Schost­a­ko­witschs Musik evo­ziert Ähn­li­ches wie die “Schere”.

Die Schere im Kopf lege ich zur Seite. Sie schnei­det meine Ener­gie und mei­nen Elan ab. Auch die Ant­wor­ten, die ich auf meine erste Mail bekomme, lege ich zur Seite.  Jetzt spüre ich den Hauch des Proust-Effekts. Auf­schie­ben, sage ich mir. Auf­schie­ben, dann wird der rechte Augen­blick kom­men. Habe auch zur Zeit mit der Ver­öf­fent­li­chung der Apho­ris­men eines ande­ren jun­gen Man­nes zu tun, fast glei­cher Jahr­gang, sogar ähn­li­che Gedanken.

Dominik Riedo:
Domi­nik Riedo: “Mein Herz heisst ‘Den­noch'” – Pro Libro Verlag

Kurz vor Weih­nach­ten schickt mir der Ver­lag pro libro aus Luzern das dritte Riedo-Buch: “Mein Herz heisst “‘Den­noch’ – Lite­ra­ri­sche Por­träts”. Darin geht es um Schrift­stel­ler und Den­ker, die anders als ihre Mit­men­schen waren. Die Werke, die sie aus ihrer Anders­ar­tig­keit her­aus geschrie­ben haben, wer­den heute bewun­dert. Den Erschaf­fen­den aber machte das Anders­sein zu schaf­fen. Sie hader­ten mit sich, mit der Welt, mit dem eige­nen Werk.  Riedo ver­sam­melt in die­sem Buch lite­ra­ri­sche Por­träts, die gewis­ser­mas­sen den Fin­ger auf die offene Wunde legen. Die Wunde ist die der Ver­drän­gung des Haders der “Ander­sei­en­den” aus der heu­ti­gen Bewunderungsperspektive.
Sag ich doch! Mein Reden. Vol­ler Vor­freude nehme ich das Buch in die Hand und vor die Augen. Riedo ist einer, der Ein­zel­gän­ger zu mögen scheint. Seine Ant­wor­ten zu sich selbst mögen da für ihn sprechen.

Frage: “Wider­stand der Welt, den diese Den­ker und Schrift­stel­ler erfuh­ren, aber auch Wider­stand, den sie selbst der Welt ent­ge­gen­setz­ten, der unbe­irr­bare Glau­ben der Por­trä­tier­ten an das “Den­noch” – an die Keim­zelle der unsterb­li­chen Lite­ra­tur.” Keim­zelle? Unsterb­li­che Literatur?

Riedo: Unsterb­lich, denke ich, ist doch prak­tisch nichts. Die Keim­zelle jedoch steckt in mir – und bringt ihre Triebe voran… Gegen den vor­an­ge­gan­ge­nen Gegendruck …

Frage: Sind Sie ein lus­tig-melan­cho­li­scher Mensch oder eher ein ernst-alber­ner? Oder ist die Frage zu persönlich?

Riedo: Bei­des wohl, wild durch­ein­an­der. Am ehes­ten ein melancholisch-heiterer.

Frage: Sie schei­nen ein Fai­ble für Ein­zel­gän­ger zu haben oder sind Sie etwa selbst einer? Sehen Sie sich als einer?

Riedo: An der Party zu mei­nem 20. Geburts­tag kamen 81 Gäste, an der zu mei­nem 40. Geburts­tag noch 12 …

Und jetzt kommt die Kin­ski-Klippe, das Fett­näpf­chen, in das ich tre­ten könnte. Riedo war – wie bereits erwähnt – für zwei Jahre Schwei­zer Kul­tur­mi­nis­ter – ein Zeit­raum in sei­ner Bio­gra­phie, den ich natür­lich anspre­chen muss.

Frage: Wie kam es über­haupt zu der Idee, Kul­tur­mi­nis­ter wer­den zu wol­len, sich als Kan­di­dat zur Wahl (mit­tels Inter­net-Wahl aus 25 Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten) zu stellen?

Riedo: Weil ich, beim Sprung ins kalte Was­ser, etwas ler­nen wollte.

Frage: Macht man das mal eben so? Haben Sie nicht genug zu tun gehabt?

Riedo: Ich mache eigent­lich nichts “ein­fach so”.

Frage: Wie haben Sie die 2 Jahre als Kul­tur­mi­nis­ter ver­än­dert? Haben sie Sie verändert?

Riedo: Oh ja!

Meine zehn Fra­gen sind gestellt, und ich habe kein schlüs­si­ges, rundum befrie­di­gen­des Bild. Ich habe gar nichts und muss erken­nen, dass ich die fal­schen Fra­gen gestellt habe, und mir trotz allen Hin- und Her­über­le­gens kein Weg ein­ge­fal­len ist, sie auf­zu­be­rei­ten. Riedo hat mich weite und inspi­rierte Denk­wege zurück­le­gen las­sen. Aber das Inter­view… wenn ich doch eine Tasse Kaf­fee mit ihm trin­ken könnte!
Es ergibt sich keine Gele­gen­heit. Im Gegen­teil, ich ent­ferne mich räum­lich noch wei­ter von der Schweiz, fahre in den Nor­den, sitze in einem Bahn­hofs­re­stau­rant und – spre­che mit Riedo.

Was trin­ken wir? Kaf­fee? Wie trin­ken Sie ihn? Mit Milch und ohne Zucker? – Der Kaf­fee kommt. Jetzt würde ich sie stel­len – die wirk­lich wich­ti­gen Fragen:
01. Wann kön­nen Sie am bes­ten schreiben?
02. Wo kom­men Ihnen so rich­tig gute Ideen?
03. Wel­che Stadt wür­den Sie gerne in nächs­ter Zeit besuchen?
04. Haben Sie Freunde in Deutschland?
05. Wel­chen Film haben Sie kürz­lich gesehen?
06. Haben Sie einen Lieblingsregisseur?
07. Trin­ken Sie lie­ber Kaf­fee oder lie­ber Tee? Eine Idee, warum das so ist?
08. Essen Sie gerne Fisch?
09. Wel­ches ist Ihre der­zei­tige Lieb­lings­farbe (hatte ich das nicht schon gefragt???)
10. Kön­nen Sie zeichnen?

Nichts mit Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chem zu “Werk” und “Frag­men­ta­ris­mus”, oder Lebens­ab­ris­sen und Bewusst­seins­strö­men, genug des Zwei­felns an der ver­rück­ten Welt, die uns dazu bringt, gegen sie anzu­schrei­ben. Wozu? Um uns ein Denk­mal zu set­zen – oder uns am Leben zu erhal­ten? Wer die­ses neue Inter­view liest, soll sich wohl­füh­len und einen Men­schen sehen, und sich darin wie­der­fin­den – oder auch nicht. Etwas Riedo-haf­tes klingt in allen von uns… und sowohl ein Klaus Kin­ski als auch ein Dmi­tri Schost­a­ko­witsch waren als Künst­ler und als Men­schen nicht ein­fach, noch unum­strit­ten. Sie waren anders. Und den­noch!

Einen herz­li­chen Glück­wunsch nach­träg­lich zum Geburts­tag, Herr Riedo. ♦

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Dies sind die Ant­wor­ten, die mir Domi­nik Riedo auf meine obi­gen 10 Fra­gen gab:

01. Wenn mich an der Welt etwas stört, aber nicht in mei­nem Arbeitszimmer.
02. Beim Lesen.
03. Mar­sala. Ich werde März oder April dort sein.
04. Ja.
05. Ver­fil­mun­gen von Philip K. Dick. Ich möchte einen Essay über ihn schreiben.
06. Orson Welles.
07. Kaf­fee. Weil ich als Kind bereits Mocca-Glacé über alles liebte. Aber warum das? Keine Ahnung.
08. Ich bin Vegetarier.
09. Schwarz.
10. Ich konnte es mal ganz gut und habe Freun­din­nen damit “beschenkt”. Heute hab ich das etwas verloren.


Lesen Sie im Glarean Maga­zin auch über Domi­nik Riedo: Nur das Leben war dann anders (Nekro­log auf mei­nen pädo­phi­len Vater)

… sowie das Inter­view mit der Best­sel­ler-Autorin Rebecca Gablé (“Der dunkle Thron”)

Ein Kommentar

  1. Beein­dru­ckend – ein Inter­view ohne per­sön­li­ches Gegenüber
    Das benö­tig abso­lut gute fan­ta­sie­volle Vor­be­rei­tung! Kom­pli­ment für das Gelingen.

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